Plötzlich Frontstaat
Der russische Überfall auf das Nachbarland Ukraine lässt in Polen die Alarmglocken schrillen. Auch die Bevölkerung bereitet sich vor.
Idyllischer kann man sich es sich kaum vorstellen. Von tiefen Wäldern und einsamen Wiesen umgeben, in der einst von Mennoniten erbauten Kirche des Dorfes Nekielka, tritt an diesem Sonntagabend Michał Bajor auf. Der alternde polnische Schauspieler und Chansonnier führt charmant durch einen Abend italienischer und französischer Liebeslieder. In der Mitte des Programms, gerade hat er seinen Blazer auf Rot gewechselt, kündigt er die polnische Version von ›Bella Ciao‹ an. Das Lied passt kaum, doch der nette Liedermacher spricht dunkel vom Anti-Faschismus, der heute anlässlich Putins Überfall auf die Ukraine wieder besonders aktuell sei.
›Eines Morgens wachte ich auf, und der Feind stand an der Grenze‹, singt Michał Bajor. Und: ›Wenn ich sterben muss, dann als Partisan.‹ Der Applaus will nicht mehr aufhören. Bei ›Bella Ciao‹ sei es ihm kalt über den Rücken gelaufen, gesteht ein Mann um die 60 nach dem Konzert.
Gut 400 Kilometer sind es vom Dorf Nekielka bis zur russischen Exklave Kaliningrad, knapp 700 Kilometer bis zur ukrainischen Grenze. Doch nur 40 Kilometer entfernt im Osten der Wirtschaftsmetropole Poznan (Posen) sind zwei Staffeln F-16 Kampfbomber stationiert. Sie gehören den polnischen Streitkräften und steigen seit 2008 immer dann mit viel Krach in den Himmel, wenn die Russen wieder einmal den Luftraum Polens oder einen der drei Baltikumsstaaten Litauen, Lettland oder Estland verletzt haben. Die Posener reden ziemlich ernst vom ›Sound of Freedom‹. Ein paar stören sich dennoch daran, dass die Fliegerstaffeln fast mitten in einer Großstadt, nur fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, stationiert wurden. Allen ist klar, dass die russische Luftwaffe schon seit Jahren die NATO-Reaktion testet. Seit dem 24. Februar jedoch klingt auch dieser Startlärm etwas anders.
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