Provokation für jeden Diktator

Warum Taiwan mehr als ein Frühwarnsystem für die Welt ist.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe Februar 2024

Im Englischen gibt es einen Ausspruch, um auf Gefahren hinzuweisen: a canary in a coal mine. Früher wurden im Bergbau Kanarienvögel als Frühwarnsystem in Minen eingesetzt. Kippten sie in ihren Käfigen von der Stange, bedeutete das, dass das giftige und geruchlose Kohlenmonoxid irgendwo entwichen war. Die Bergleute sollten dann rasch das Weite suchen. Eine grausame Methode. Vor ein paar Monaten beendete Lung Ying-tai, Taiwans ehemalige Kulturministerin, einen Vortrag im Theatersaal der Akademie der Wissenschaften mit genau diesem Ausspruch. Oft würden US-Politiker ihre Heimat Taiwan als ›Kanarienvogel‹ in der Mine bezeichnen. Eine Art Frühwarnsystem für den Rest der Welt. Beleidigend finde die Autorin diese Analogie. Kanarienvögel, die starben, um andere mit ihrem Tod zu retten. ›Sollten die 23 Millionen Taiwaner sich als Kanarienvögel betrachten?‹ fragte sie wütend ins Publikum. ›Für wen?‹

Taiwan, das Frühwarnsystem der Welt. Das hat was, leider. Nicht umsonst wurde Taiwans Präsidentschaftswahl am 13. Jänner mit Spannung und vor allem Sorge erwartet. Es war die erste wichtige Wahl im Superwahljahr 2024. Und der frisch gebackene Wahlsieger William Lai, Kandidat der ›chinakritischen‹ Fortschrittspartei, brachte noch am Wahlabend auf den Punkt, warum: ›Ein globaler Frieden hängt von Frieden in der Taiwanstraße ab.‹

Denn seit Jahren wird nicht mehr spekuliert, ob, sondern wann die kommunistische Volksrepublik China den demokratischen Inselstaat, den sie als abtrünnige Provinz betrachtet, angreifen wird. US-Experten sprechen vom Jahr 2027, manche sogar schon von 2025. Chinas Staatschef Xi Jinping macht kein Hehl daraus, eine baldige Vereinigung der Insel mit dem Festland anzustreben – notfalls auch mit Gewalt. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 scheinen auch die größten Skeptikerinnen einer chinesischen Aggression diese Option zunehmend für realistisch zu halten. 

Mit 1. Jänner wurde in Taiwan die Wehrpflicht von vier Monaten auf ein Jahr verlängert, das Verteidigungsbudget massiv erhöht, militärisches Equipment vom wichtigsten Verbündeten, den USA, bestellt und die Zivilbevölkerung in Alarmbereitschaft versetzt. Seit Monaten sind Kurse ausgebucht, in denen sich Taiwanerinnen für den Katastrophenfall in Erste Hilfe und Selbstverteidigung schulen lassen wollen. In Interviews berichtet Taiwans bisheriger Außenminister Joseph Wu, wie genau man den Krieg in der Ukraine studiert, insbesondere ›die Dezentralisierung der militärischen Kommandokette‹ und den Zivilschutz. Wissend, dass Taiwan einen beträchtlichen Nachteil hat: Im Gegensatz zur Ukraine ist Taiwan kein international anerkannter eigenständiger Staat – und damit wahrhaftig auf sich alleine gestellt. Eine Musterdemokratie, die seit den ersten Wahlen 1996 in Höchstgeschwindigkeit beweisen wollte, was nach fast 40 Jahren Militärdiktatur in einem Land möglich ist. Taiwan liegt im Spitzenfeld aller demokratiepolitischen Rankings. Nicht nur für Ostasien, sondern weltweit. Eine liberale Demokratie vor Chinas Haustür, die beweist, dass nichts an Chinas Autokratie ›kulturell‹ oder ›traditionell‹ bedingt ist?

Eine Provokation für jeden Diktator. 

Für China ist Taiwans neuer Präsident Lai ein ›Separatist‹, der die Unabhängigkeit Taiwans anstreben würde. In der Vergangenheit hatte er derartige Töne von sich gegeben. Mittlerweile hat er das mehrfach verneint. Er wolle Taiwans Status quo einer De-facto-Unabhängigkeit beibehalten. Ob und wie lange das gelingt, hängt von Chinas Reaktion ab. Und ob Chinas Staatschef Xi zu sehr einem anderen Diktator nacheifern möchte. 

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