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Datum Talente

Tinder für Kühe

Die digitale Revolution ist auf den Höfen angekommen. Nicht alles wird dadurch besser, aber vieles anders.

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Illustration:
Ūla Šveikauskaitė
DATUM Ausgabe Juni 2023

Eine Gruppe Mitarbeiter versammelt sich auf einem Bauernhof um eine kleine handliche Maschine. Auf den ersten Blick scheinen die Männer mit einer Art Rasenmäher zu hantieren – aber in Wahrheit kann die Maschine sehr viel mehr: Sie ist eine landwirtschaftliche Gerätschaft der neuesten Generation, die moderne Sensor- und Messtechnik kombiniert, um während des Gangs über die Äcker und Felder sowohl Wasser- als auch Nährstoffbedarf der angebauten Pflanzen zu ermitteln. Dazu werden die aktuellen Wetterdaten mitberücksichtigt. Heraus kommt: ein Apparat, der die Pflanzen bedarfsgerecht bewässert – aufs Allergenaueste und individuell. 

Währenddessen muhen im Stall die Kühe. Sie werden durch eine automatische Melkmaschine gemolken, ohne Zutun des Menschen. Der Herr am Hof, Bauer Josef Achrainer, hängt unterdessen an seinem Smartphone. Aber nicht zum Zeitvertreib, sondern um die neuesten Daten seiner Kühe in seine Rinder-App einzutippen. Ein Rundgang über Josef Achrainers Hof bei Hopfgarten im Tiroler Oberland, und es wird klar: Obwohl hier auf den ersten Blick alles traditionalistisch aussieht, läuft es im Detail dann doch ganz anders.

›Ich war immer schon neugierig. Ein bisschen ein Freigeist, der die Dinge ganz gern hinterfragt und anders macht als die anderen‹, sagt Achrainer. Sein uriger Biobergbauernhof unweit der deutschen Grenze ist durchdigitalisiert.

Etwa beim Melken: Täglich gibt eine App des Tiroler Rinderzuchtvereins Achrainer Auskunft darüber, welcher Zeitpunkt der günstigste ist, um seine 20 Milchkühe zu melken, wann die Tiere die meiste Milch geben werden. Außerdem enthält die Software ein Tool, das direkte Körper- und Gesundheitsdaten der Kühe misst und auswertet. Wie ist die Temperatur? Leidet eine der Milchkühe an Fieber? Könnte die Milch heute nicht dem notwendigen Standard entsprechen? Alles wird dokumentiert, und Achrainer erhält die Auswertung übersichtlich als Liste. Überhaupt lässt sich via App der Lebensweg jeder einzelnen Kuh verfolgen. Jede hat ein Profil, dort sieht Achrainer, aus welcher Züchtung und von welchem Hof sie stammt, wer die Elterntiere waren, wie wertvoll das Tier auf dem Markt ist – und welche Landwirte in der Nähe gerade ihr Milchvieh verkaufen. Ein Mix aus Datensammlung, Facebook und Tinder für Kühe, sozusagen.

Mittlerweile hat der Tiroler eine ganze Reihe digitaler Innovationen am Betrieb installiert. Seine Photovoltaikanlage kann er etwa einfach per Fernbedienung steuern.

In der bäuerlichen Direktvermarktung seiner Produkte – ein wichtiges Standbein in der Landwirtschaft, wie Achrainer betont – hilft ebenso eine App. Auf seiner Website und in der App der Direktvermarkter und Hofläden der Gegend findet man Infos zu den Höfen, angebotene Erzeugnisse, vom Gemüse bis zu Nudeln und Eierlikör, mitsamt Preisen und Öffnungszeiten. Der Laden am Hof der Achrainers in Hopfgarten im Tiroler Brixental selbst läuft gleich ganz per Selbstbedienung: Kunden kommen 24 Stunden am Tag in die kleine Scheune, nehmen sich so viel Eier oder Liter Biomilch, wie sie möchten, und lassen das Geld auf dem Tisch liegen. Das funktioniert – per Videoüberwachung.

Günstig und effizient – so sollen sie sein, die digitalen Helferlein, die Josef Achrainer sich wünscht.  ›Es erspart Arbeit und Zeit, findet man Daten schnell wieder‹, erklärt der Landwirt. Deshalb versucht er all jene betriebswirtschaftlichen und organisatorischen Belange zu digitalisieren, die ihm das Leben erleichtern. Er meldet zum Beispiel auch schnell seine Daten zu seinen Erzeugnissen und allgemeine Merkmale zu seinem Hof an die Agrar Marketing Austria Agentur. Das ist ein Verband, der die Vermarktung österreichischer Bauernprodukte zentral übernimmt. Im Gegenzug sind die Bauern verpflichtet, je nach Größe des Betriebs jährlich eine gewisse Werbeabgabe an die Organisation zu zahlen.

Richtig investiert hat Achrainer in die digitale Unterstützung der Viehzucht. Für ein Brunsterkennungssystem als Zusatz in der App des Rinderzuchtverbandes, das ihm anzeigt, wann es Zeit ist, sich um die Partnersuche der Rinder zu kümmern, zahlte er 5.000 Euro für die Installation und jährlich weitere tausend Euro an Nutzungsgebühren. Seine beiden Stallkameras haben zusammen mehr als 500 Euro gekostet. Handy, Tablet und Computer sind dabei noch nicht miteingerechnet. 

Rentieren sich die Investitionen? Achrainer nickt energisch. Die Erleichterungen, die die digitalen Helferlein mit sich bringen, möchte er nicht mehr missen.

Teil der Initiative ›Urlaub am Bauernhof‹ ist Achrainers Hof ebenfalls. Dass auch der Familienurlaub per Homepage oder App gebucht werden kann und von Josef Achrainer digital verwaltet wird, mag weniger überraschen, komplettiert jedoch das Bild des durchdigitalisierten Bauernhofs der Zukunft, der in nicht wenigen Fällen auch in Österreich längst Gegenwart ist.

Was man aus Achrainers Sicht unbedingt erwähnen sollte: ›Fortschritt hin oder her, es gibt definitiv noch genug von uns, die mit der modernen Technik nichts am Hut haben und es auch nicht mehr lernen wollen. Ich sage: Das ist wie mit dem Bio Anfang der 90er. Die ersten, die etwas beginnen, findet man immer seltsam. Aber dann macht es irgendwann jeder‹, sagt Achrainer. 

In Österreich stehen die Bauern vor ähnlichen Herausforderungen wie Europas Landwirtschaftssektor allgemein: Mehr und komplizierte gesetzliche Vorgaben, der lauter werdende Ruf der Konsumenten nach transparentem Vorgehen in der Lebensmittelerzeugung. Hohe Preise für Energie, weniger Arbeitskräfte: Abhilfe schafft da die Digitalisierung. 

Laut Auswertung des Portals Techtag setzt heute ungefähr jeder zweite landwirtschaftliche Betrieb in Deutschland und Österreich digitale Anwendungen ein. Und nach Angaben des Vereins Deutscher Ingenieure machen Elektronik, Sensortechnik und Software in der Landwirtschaft etwa 30 Prozent der Wertschöpfung aus. Zum Vergleich: In der Automobilindustrie beträgt die Zahl nicht einmal zehn Prozent. Das lässt sich auch auf Österreich umlegen, wie man auf Anfrage beim Verein betont. Hoch sind ebenso die Investitionen, die in den landwirtschaftlichen Markt fließen. Mehr als eine Milliarde Euro an Risikokapital floss innerhalb eines halben Jahres im Jahr 2017 hierzulande in junge Unternehmen, die sich mit Agrartechnologie beschäftigen. Sowohl die Summe als auch die Zahl dieser Firmen steigt. Und auch große etablierte Landmaschinenhersteller, wie John Deere oder Fendt, überbieten sich gegenseitig mit smarten Farming-Ideen. Sogar die IT-Giganten, von SAP bis Google, interessieren sich neuerdings für die Branche. Googles Drohnen kommen beispielsweise zum Einsatz, um Felder zu überfliegen und die Ernte zu überwachen. Auch bei Achrainer in Hopfgarten.

Die Tech-Branche ist also dabei, sich in einem Segment der Wirtschaft auszubreiten, das bis vor wenigen Jahren noch als keineswegs innovativ galt. Die Gemeinsame Agrarpolitik der Mitgliedsstaaten etwa, eine Art Sieben-Jahres-Plan der EU, sieht ab 2023 eine umfassende ›Begrünung‹ und Digitalisierung vor. Kurz gesagt: Die Milliardensummen, die aus EU-Geldern an landwirtschaftliche Betriebe fließen, sind mehr und mehr an Bedingungen wie nachhaltigere Lebensmittelerzeugung, die Steigerung der Bioproduktion, Grünlanderhaltung, aber eben auch die Effizienz, Automatisierung und Vernetzung der Höfe gekoppelt. Ohne Roboter kein Geld. Und es geht um eine Menge Geld. Die GAP ist der größte Einzelposten des EU-Haushalts. Im Zeitraum von 2021 bis 2027 werden insgesamt 387 Milliarden Euro ausgeschüttet. Das entspricht immerhin 30 Prozent des gesamten Budgets und einem Prozent des EU-weiten Bruttoinlandprodukts (13,3 Billionen Euro). Die österreichische Regierung legt dazu. Im Zuge der im letzten Jahr rasant ansteigenden Teuerung schürte das Bundesministerium für Landwirtschaft ein umfassendes Entlastungspaket unter dem Namen ›Versorgungssicherheits-Paket‹ in Höhe von 110 Millionen Euro. Davon fließt der größte Teil, rund 80 Millionen Euro, an jene Bauern, die große Betriebe besitzen. Die Förderung ist nämlich flächen­gebunden.

Einer, der sich mit den Robotern auf dem Feld auskennt, ist Thomas Schauppenlehner, Forscher am Institut für Landschaftsplanung, Erholungs- und Naturschutzplanung an der Wiener Universität für Bodenkultur (BOKU). Sein Spezialgebiet: den Wandel der ländlichen Welt analysieren. Und eines lässt sich über jene Welt mit Sicherheit sagen, so der Wissenschaftler: Sie wird durch die Digitalisierung massiv verändert. Auf einer Tagung der BOKU präsentierte Schauppenlehner kürzlich seine Gedanken dazu. ›Bald schon werden nicht mehr Mutterkühe, die ihre Jungen beschützen, das Problem am Wanderweg sein. Ich sehe zum Beispiel in naher Zukunft eine reelle Gefahr, dass sich die Leute eher vor landwirtschaftlichen Drohnen fürchten, die über ihren Köpfen kreisen.‹

Unter dem Fachbegriff Digital Farming oder auch Precision oder Smart Farming wird diese neue Landwirtschaft zusammengefasst. Eine Reihe klassischer Agrarfirmen, wie der Landwirtschaftsmaschinenhersteller Fendt aus Bayern, sind dabei, ihre Produkte – von Traktoren bis zu Sensen – digitalbasiert zu überarbeiten.

Ein gutes Beispiel sind sogenannte Farmmanagement- und Informationssysteme (FMIS). ›Ein Farmmanagementsystem ist ein Werkzeug für das Datenmanagement am landwirtschaftlichen Betrieb‹, besagt ein Überblickspapier, das die BOKU zum Thema ­digitale Landwirtschaft für das Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus verfasst hat. Es geht darum, die vielen Datenquellen, die ein Bauernhofbetrieb generiert, zu vernetzen. Damit wird ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt, um den Betrieb als Gesamtsystem beziehungsweise die einzelnen betriebswirtschaftlichen Abläufe am Hof zu optimieren. Wie ist die Wettervorhersage für die kommenden Wochen? Ist die Lage günstig für die Saat oder die Ernte? Wie sehen die Pflanzen im heurigen Jahr aus? Bei welchen besteht  Schädlingsgefahr? Auf dieser Grundlage ergeben sich Verbesserungspotenziale. Düngemittel können zielgerichteter eingesetzt oder Prozesse zeitgenauer umgesetzt werden. Bei Josef Achrainer in den Tiroler Bergen sind solche Informationen mitunter lebensentscheidend: Auf der Alm kann ein schneller Wetterumschwung große Gefahren, wie Lawinen oder Steinschlag, mit sich bringen. Managemententscheidungen werden treffsicherer – der Bauer als effizienter Unternehmer wirtschaftet erfolgreicher. Und der Betrieb lässt sich damit einfacher verwalten. Im besten Fall steigt der wirtschaftliche Output in Form einer ertragreicheren Ernte. 

Die Landwirtschaftskammern Österreichs führen regelmäßig Umfragen unter ihren Mitgliedern durch, um den Status quo der Digitalisierung zu erheben. Auch BOKU-Forscher Schauppenlehner interessiert sich für den menschlichen Zugang: Sind Österreichs Bauern für die digitale Revolution bereit?

In Befragungen geben die Bauern regelmäßig an, das Positive an der Digitalisierung durchaus wahrzunehmen. Freilich stehen dem die negativen Seiten der digitalen Welt gegenüber: Was, wenn der Strom ausfällt? Bricht dann der gesamte Hofbetrieb zusammen? Die Verwaltung enormer Datenmengen – Big Data – bringt zahlreiche Herausforderungen mit sich, auch im landwirtschaftlichen Betrieb. Die meisten Speicher- und Auswertungsverfahren, die den Bauern zur Verfügung stehen, reichen bei Weitem nicht aus, um wirklich gewinnbringende Information aus der wachsenden Datenmenge zu generieren. Schauppenlehner erinnert zudem an die steigende Bedrohung von Cybercrime: Auch ein Landwirt kann Opfer einer Hacker-Gruppe werden, die eine Menge Geld erpresst. 

Außerdem kann alleine die schlichte Datenverfügbarkeit nicht immer und überall gewährleistet werden. Zu wenig ausgebaut ist die Infrastruktur in manchen Teilen des Landes und zu sehr sind die Landwirte von politischer Förderung, auch in diesem Bereich, abhängig. Dazu kommen wirtschaftliche Ungleichheiten, sie sich laut Achrainer durch die Digitalisierung nur noch vergrößern: ›Die Großen können es sich leisten, immer das Neueste zu kaufen. Die Kleinen müssen extrem viel Geld, das wir meist nicht haben, in die Hand nehmen, um von der Automatisierung zu profitieren. Damit geht die Schere zwischen Klein- und Großunternehmen noch weiter auf.‹

Hat Österreichs kleinstrukturierte Landwirtschaft also überhaupt die Zeit, das Geld und das Verständnis, die Chancen des Digitalen für sich nutzbar zu machen? ›Es braucht Angebote zur Weiterbildung‹, sagt Josef Hechenberger. Der Tiroler ist Präsident der Landwirtschaftskammer in seinem Bundesland. Außerdem ist er Abgeordneter zum Nationalrat für die ÖVP und als solcher unter anderem als Sprecher für das Tierwohl zuständig. Solche Bildungsangebote gibt es durchaus. Zum Beispiel das Ländliche Fortbildungsinstitut (LFI). Ähnlich den landwirtschaftlichen Kammern in jedem Bundesland vertreten, bietet es Kurse zu verschiedensten Themen, von der Kräuterkunde über die ›Achtsamkeit bei der täglichen Hofarbeit‹ bis zu Social-Media-Marketing für den bäuerlichen Betrieb, den richtigen Umgang mit Datenschutz und Automatisierung am Feld und im Stall.

Auch ein massiver Ausbau der mobilen Telekommunikation im ländlichen Bereich wird von allen Seiten als dringender Wunsch genannt. Denn ohne digitale Infrastruktur keine digitale Landwirtschaft. Dabei müssen auch Datenschutz und Datensicherheit gegeben sein. 

›Ich bin überzeugt, das ist unsere Zukunft. Also muss sie auch für jeden machbar sein‹, sagt Achrainer. Er blinzelt gegen die zaghaften Sonnenstrahlen, die durch die Wolkendecke brechen, und überblickt seinen Hof. Froh, dass er einer der ersten war, der auf den digitalen Zug aufgesprungen ist, ist er auf jeden Fall. •