Seit ein paar Jahren habe ich ein Ritual in meinem Leben: Einmal am Tag schüttle ich mir selbst die Hand. Ich drücke sie, ich nicke mir selbst verschwörerisch zu, spreche mir Mut zu oder schüttle über mich selbst den Kopf, ich bekräftige oder tröste mich damit. Was eben gerade nötig ist. Ich weiß nicht mehr, wann ich damit angefangen habe, was ich aber weiß ist, wann der Weg dorthin begonnen hat.
2004 ist mein Bruder im Schlaf an einem Blutgerinnsel gestorben. Dass jemand von heute auf morgen weg sein kann, hat mich tief verunsichert, doch vor allem stand da noch die Trauer im Vordergrund. Vier Jahre später, im Juli 2008, hat mich meine Mama in der Früh angerufen. Sie hat mir mit brüchiger, unendlich müder Stimme gesagt, dass mein Vater tot ist. Dass er sich unter den alten großen Nussbaum vor unserem Haus gelegt und erschossen hat. Wieder war da dieser plötzliche Tod, aber da war auch etwas anderes: große Angst, Panik durch das Erinnern an die Fragilität des Lebens, Sehnsucht und Wut. Ich sage manchmal, sein Tod hat mein Leben in ein Vorher und Nachher geteilt, und das hat er tatsächlich auf viele verschiedene Arten. Ich habe meinen Vater verloren, einen Menschen, den ich geliebt und respektiert habe. Ich wurde mit einer Trauer konfrontiert, die ich so nicht kannte. Ich musste mich mit Suizid auseinandersetzen. In den Jahren darauf habe ich versucht, so weiterzuleben wie zuvor, und das ist mir nicht gut gelungen. Nach außen besser als nach innen. Rückblickend betrachtet, bin ich herummäandert, auf der Suche, zerrissen, in dem Versuch stark zu sein und gleichzeitig sehr schwach. Ich habe begonnen, mich zunehmend mit einem Themenkomplex zu beschäftigen, der mich in den Jahren zuvor kaum beschäftigt hat: Tod und Trauer. Ich habe ein Buch über den Umgang mit Suizid und ein weiteres über den Umgang unserer Gesellschaft mit Trauer geschrieben – und bin immer weiter weg vom Tod hin zum Leben gekommen.
Seit die Bücher erschienen sind, bin ich damit viel unterwegs – in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ich rede unentwegt über den Tod und den Umgang damit. Mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben, mit welchen, die nie etwas Derartiges erlebt haben. Viele Menschen machen sich viele Gedanken über den Tod, und die allermeisten davon sind klug und sensibel, und doch erfährt man sie kaum, weil einfach nicht darüber geredet wird. Ich rede also über Familien, über Verluste und Hoffnung, über Tod und Trauer, und was lerne ich in diesen Jahren?
Zunächst: Jeder Mensch trägt etwas mit sich herum. Eine nicht überwundene Trennung, einen Todesfall, der nicht aufhört zu schmerzen, eine Beziehung, die einem Kopfzerbrechen macht, eine Familie mit zu vielen unausgesprochenen Geheimnissen. Wir wissen oft nicht, was den anderen beschäftigt, aber: Etwas ist da immer. Und meistens tut es weh. Viel zu viele Menschen tragen vieles zu lange in sich und öffnen sich nicht. Denn: Menschen reden zu wenig. Eigentlich reden sie viel, aber über das, was sie wirklich beschäftigt, reden sie zu wenig. Oft, weil sie niemanden haben. Oft haben sie jedoch auch niemanden, weil sie nicht reden. Dabei wünscht sich fast jeder Mensch jemanden, der ihn wirklich kennt. Gefühle in sich einzusperren verhindert, dass wir ein Leben so führen können, wie wir es wollen. Denn sich zu öffnen, befreit. Offenheit bringt Stärke. Manche Geheimnisse hat man, weil man will. Manche hat man, weil sie einem auferlegt werden. Man sollte sich gut überlegen, welche man warum wahrt und wann es einem hilft, darüber zu reden.
Denn Trauer ist allgegenwärtig. In den ersten Jahren nach dem Tod meines Vaters dachte ich, ich halte mich an die Trauerphasen. Ich habe sie alle durchlaufen, brav wie nach Lehrbuch, mal war ich traurig, dann wütend, dann hatte ich Sehnsucht. Das Problem ist, dass diese Trauerphasen eine zeitliche Limitierung suggerieren. Also ich bin vier Wochen traurig, dann vier Wochen wütend. Aber so läuft das nicht. Die Übergänge sind fließend und sie verlaufen nicht von A nach B und dann C, sondern wild durcheinander. Trauer hält sich an kein Lehrbuch. Das zu akzeptieren, war sehr schwer für mich. Man hat das Gefühl zu versagen. Trauer kommt in Wellen. Trauer hat keine Deadline. Ich kann heute sehr glücklich und dennoch in manchen Momenten sehr traurig sein und meinen Vater vermissen. Trauer und Freude können beide nebeneinander existieren. Trauer ist ein Grundgefühl. Sie hat auch in einem erfüllten Leben Platz. Manchmal ist sie stärker und manchmal schwächer, es ist ein bisschen so, wie es meine Mama einmal gesagt hat: Eine gewisse Grundtrauer ist immer da, aber sie wird zugedeckt, wie durch Laub, das zu Boden fällt. Das Laub sind schöne Momente, Zeit und Abstand. Und dann kommt plötzlich ein Windstoß und trägt ein bisschen Laub ab und die Trauer ist wieder viel präsenter. Und mit dem nächsten Windstoß deckt sich wieder ein wenig zu. Trauer verändert sich, aber sie wird nie verschwinden. Ich werde nie wieder der Mensch sein, der ich vor den Todesfällen war, und das ist gut so, denn wie sollte das denn gehen? Wenn solche Einschnitte in das Leben nichts hinterlassen, wenn sie einen nicht verändern, wenn sie einen manches nicht bewusster spüren lassen, wäre das nicht viel schlimmer? Ich werde immer wieder einmal traurig sein und es wird mir doch immer auch gut gehen.
Gefühle in sich einzusperren verhindert, dass wir ein Leben so führen können, wie wir es wollen. Denn sich zu öffnen, befreit.
Menschen reden zu selten über ihre Trauer und dadurch auch zu selten darüber, was sie geschafft haben. Dieses Leben gehört auch jedem Einzelnen, und die Zeit, die man hat, damit zu verbringen, tapfer etwas für sich zu ertragen, erscheint mir verschwendet. Es ist nicht tapfer, schweigend zu leiden, es ist mutig zu reden. Am Ende des Lebens wird einem keiner einen Preis dafür überreichen, dass man brav durchgehalten hat. Der Preis, den wir kriegen können, ist der, den wir uns selbst geben, und zwar in Form eines Lebens, in dem wir selbst Verantwortung übernehmen. Mir ist völlig klar, dass es nicht jeden Tag nach unserem Kopf gehen kann. Aber wir treffen jeden Tag Dutzende Entscheidungen, da können auch ein oder zwei einmal spontan nach unserer Lust und Laune gehen. Besser abzuwägen, mehr zu wagen, spontan zu sein, das ist wichtig. Das schafft Erinnerungen. Wir haben im Durchschnitt 80 Jahre zur Verfügung, wenn in dieser Zeitspanne kein Platz ist für Fehler und Rückschläge, für Albernheiten und Risiken, die vielleicht ihren Aufwand nicht tragen – dann weiß ich nicht, was das alles soll.
Ich werde oft gefragt, warum ich tue, was ich tue. Warum ich so öffentlich über ein so schmerzliches Thema rede. Die Antwort ist einfach: weil es wichtig ist. Weil das Thema zu mir gehört, weil die Todesfälle zu meinem Leben gehören. Weil manches nicht ungeschehen wird, selbst wenn man es sich wünscht. Und weil manches schmerzlicher wird, wenn man nicht darüber redet. Ich kann Menschen mit meiner Arbeit, mit meiner Offenheit helfen. Ich kann das Schlimmste, das mir je passiert ist, in etwas verwandeln, dass anderen weiterhilft, und wenn das gelingt, dann hilft das auch mir.
Also, was hat sich in mir geändert, in diesen vergangenen 15 Jahren, seit denen der Tod so präsent zu meinem Leben gehört?
Ich habe es nicht mehr so eilig, was paradox ist, denn mir ist gleichzeitig viel bewusster, wie wenig Lebenszeit ich habe. Ich lache öfter. Ich ärgere mich weniger. Ich sorge mich weniger um Morgen. Da sind so viele Jahre, und so viele Jahre sind zu füllen. In einem Leben ist Platz für schlechte Momente. Und noch mehr für schöne. Ich gehe im Zweifel für den Versuch und das Risiko und gegen die Sicherheit, und wenn es schiefgeht, habe ich wenigstens eine Erinnerung mehr. Ich bin netter zu mir und ich schätze mich selbst mehr. Auch wegen all der Dinge, die ich geschafft habe und von denen ich dachte, ich schaffe sie niemals.
Und ja, deshalb schüttle ich mir einmal am Tag die Hand. Ich muss mit mir auskommen, bis ans Ende meines Lebens. Wenn das keinen Händedruck wert ist, dann weiß ich auch nicht. •