Totengräberin der Demokratie
Warum wir uns politische Apathie nicht mehr lange leisten können.
Muss man krampfhaft Vergleiche anstellen? Nein, muss man nicht. Manchmal jedoch tauchen Gemeinsamkeiten auf, wo man sie am wenigsten vermuten würde. Wieso also sieht man das Ergebnis der Wahl im bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschlands, in Nordrhein-Westfalen Mitte Mai, und denkt an das Ergebnis der Unterstützung des Anti-Korruptions-Volksbegehrens Mitte Mai in Österreich? Weil es in beiden Fällen um Demokratie geht. In NRW ging kaum mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten zu den Urnen, in Österreich unterschrieben knapp fünf Prozent der Stimmberechtigten ein Volksbegehren wider die Korruption im Land.
Beide Ergebnisse verbindet nichts als das erschreckende Desinteresse der Bürger an den Spielregeln der Demokratie. Es müssten alle Alarmglocken schrillen.
Diese Passivität offenbart sich in einer Zeit, von der man annehmen könnte, sie hätte die Sinne aller für den Wert der Demokratie geschärft; in einer Zeit, in der Deutschland vor einer Zeitenwende und den größten Veränderungen seit Langem steht; in einer Zeit, in der Österreichs Politik von einem Korruptionsfall nach dem anderen überschattet wird. Auch die Reaktionen sind ähnlich inadäquat. In NRW versuchte die SPD, ihr schlechtes Ergebnis schönzureden. Immerhin sei die Koalition aus CDU und FDP zu Ende und man selbst somit erfolgreich gewesen. In Österreich bedankten sich die Proponenten des Volksbegehrens für die 307.629 Unterschriften und freuten sich auch noch darüber. Der an und für sich bemerkenswert aktive ›Verein zur Förderung zivilgesellschaftlicher Partizipation – #aufstehen‹ sprach sogar von einem sensationellen Ergebnis und einem Riesenerfolg.
Auf diese Art wird bis auf Weiteres da wie dort keine ehrliche Auseinanderssetzung über Apathie als Totengräberin der Demokratie zu erreichen sein; auch nicht über die auffallende Angstlust, mit der weite Kreise auf den angeblich unaufhaltsamen Aufstieg totalitärer und autoritärer Bewegungen starren. Es gibt gewiss einige Deutungsmöglichkeiten für die Indifferenz der Zivilgesellschaft, sich in ihre eigenen Angelegenheiten einzumischen, eine allerdings ist die gefährlichste: Die Menschen fühlten sich nicht betroffen, obwohl sie alles betrifft. Die Schuld wird dem inferioren politischen Personal zugeschoben, das die Zeit der Teilhabe nicht wert sei.
Der Widerstand gegen die Lebendtier-Transporte wurde von einem Politiker initiiert, der nun wahrlich keinen Bruch mit dieser Inferiorität verkörpert und erhielt dennoch weit mehr Unterschriften als jener gegen die grassierende Korruption. Die Schuldverschiebung in die politische Kaste ist also nicht mehr als eine Schutzbehauptung für die eigene Teilnahmslosigkeit. Die Nomenklatura kann damit leben, denn 307.629 Unterschriften sieht sie sicher nicht als Handlungsauftrag zur Veränderung. Sie hat schon andere Volksbegehren mit stärkerer Unterstützung negiert – ohne Konsequenzen.
Und wieder wurde eine Chance vertan, die politische Kultur zu verändern, obwohl die Teilhabe an Volksbegehren online bereits drastisch vereinfacht worden ist. Zeitaufwand ist keine Ausrede mehr. Reklamationen werden deshalb nicht entgegengenommen. •