›Trauer erledigt sich nicht von selbst‹
Die Journalistin und DATUM-Kolumnistin Saskia Jungnikl beschäftigt sich in ihren Büchern mit dem Tod und unserem Umgang damit. Ein Gespräch über Trauerarbeit und Todesangst, Beerdigungsevergreens und eingefrorene Katzen.
Sneakers, Blue-Jeans, schwarze Weste. Saskia Jungnikl sieht nicht aus wie jemand, deren Leben vom Tod geprägt ist. Aber wie sieht so jemand schon aus? Und was soll das überhaupt heißen, ein Leben, das vom Tod geprägt ist? Bei Jungnikl heißt es, dass sie zwei Angehörige verloren hat. Dass sie Bücher darüber geschrieben hat. Dass sie sich in Talkshows setzt und auf Podien, um über ihren Umgang mit dem Tod zu sprechen – und über unseren, der sich dadurch auszeichnet, das wir nicht darüber sprechen. Jüngst erschien ihr zweites Buch ›Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, die Angst vor dem Tod zu überwinden‹ (https://www.saskiajungnikl.com).
Das folgende Gespräch entstand am 28. November im Wiener Café Rien, wohin DATUM seine Leserinnen und Leser geladen hatte. Der Aufrichtigkeit halber ist es in Du-Form geführt, da Jungnikl und Apfl seit langem befreundet sind und miteinander schon über den Tod sprachen, als der noch nicht zu ihren Leben gehörte.
Stefan Apfl: Saskia, verkürzt gesagt gab es zwei Ereignisse in deinem Leben, die dich privat wie beruflich in den vergangenen Jahren geleitet haben. Der Tod deines Bruders und der Tod deines Papas.
Saskia Jungnikl: Ich hab mir das Thema Tod nicht ausgesucht. Es ist durch diese beiden Todesfälle in mein Leben geknallt. Mein Bruder ist überraschend gestorben, als ich 23 war, das war 2004. Er war 27. Er ist im Schlaf an einem Blutgerinnsel gestorben. Das war ein wahnsinniger Schock. Es hat lang gedauert, bis wir wieder normal gelebt haben und in der Lage waren, uns auf andere Dinge als die Trauer zu konzentrieren. Dann ist mein Vater gestorben, das war vier Jahre später, er hat sich das Leben genommen. Das war eine Katastrophe für mich. Erst später ist mir klar geworden, was für eine große Katastrophe. Wenn jemand plötzlich stirbt, dann hantelt man sich entlang an den nächsten Tagen, man lenkt sich ab. Erst viel später habe ich verstanden, wieviel sich verändert hat. Man versucht irgendwie zurückzukommen zu einem normalen Zustand, zurück zu dem Leben, das man vorher hatte. Es hat irrsinnig lang gedauert, bis ich verstanden hab, dass dieses Leben so nicht mehr existiert, dass es das nie wieder tun wird. Das heißt nicht, dass es schlecht ist oder dass mein Leben nicht mehr glücklich sein kann, sondern nur, dass es anders ist. Der Suizid meines Papas hat noch einmal einen großen Unterschied gemacht zum Tod meines Bruders. Mein Bruder ist eines natürlichen Todes gestorben, mein Vater hat sich selbst das Leben genommen. Das hat in der Verarbeitung, in der Reflexion einen riesigen Unterschied gemacht. Ich hab mir bei meinem Vater viel öfter gedacht, warum erlebt er das nicht mit, warum hat er nicht gewartet, um das noch mitzukriegen. Das waren Gedanken, die ich bei meinem Bruder nie hatte. Bei meinem Bruder war ich einfach traurig und er hat mir gefehlt. Bei meinem Vater war das viel komplexer, bei meinem Vater war ich auch wütend auf ihn, dass er das gemacht hat, ich hab mich schuldig gefühlt. Ich hab so nach ein, zwei Jahren völlig aufgehört darüber zu reden, weil ich das Gefühl hatte, das bringt nichts, niemand versteht mich, niemand kann nachvollziehen und nachfühlen, was in mir vorgeht und was das in mir verändert hat. Und dann hab ich quasi diese Stille völlig durchbrochen mit einem großen Schritt.
Im März 2013, knapp fünf Jahre nachdem dein Papa sich erschossen hat, setzt du einen ungewöhnlichen Schritt: Du schreibst für den Standard, deinen damaligen Arbeitgeber, einen Text über den Suizid deines Vaters. Warum?
Weil es eine Befreiung für mich war. Das kam an einem Abend aus mir heraus und ich hab es einfach hingeschrieben. Das nach all den Jahren der Verarbeitung, des Quälens, der Reflexion, des Lernens, des Recherchierens einfach hinschreiben zu können, das war unglaublich befreiend. Veröffentlicht hab ich es, weil ich mir gedacht habe, dass ich sicher nicht die einzige bin, die sich so alleine fühlt, dass es wahnsinnig viele andere gibt. Wir reden nicht gerne über den Tod, er ist ein Tabu, der Suizid ist nochmal ein Tabu innerhalb dieses Tabus. Man fühlt sich oft sprachlos – und zwar nicht nur diejenigen, die betroffen sind, sondern auch Freunde von ihnen, die nicht wissen, sollen sie es ansprechen, sollen sie es nicht ansprechen, wie sollen sie es ansprechen? Ich habe mir gedacht, gut das probiere ich jetzt. Das war natürlich ein gewisses Risiko, obwohl ich das damals gar nicht so gesehen habe. Das Schöne war, dass die Reaktionen unglaublich positiv waren und auch wahnsinnig viele. Ich habe damals offensichtlich ein Thema öffentlich gemacht, zu dem es viele Gedanken gibt, zu dem es viele Fragen gibt und Vorstellungen. Das war mir vorher so nicht klar.
In besagtem Text hast du geschrieben, dass dieser Suizid dein Leben in ein Davor und ein Danach geteilt hat. Das hat auch dieser Text getan, nämlich beruflich. Was hat sich seither für dich als Journalistin, als Autorin verändert?
Aus dem Text ist ein Buch geworden, das war so nicht geplant. Ich war vorher mehrere Jahre Innenpolitik-Journalistin und ich war es leidenschaftlich gern. Und plötzlich war eben dieses zweite große Thema in meinem Leben auch beruflich da, der Tod. Ich hatte das Gefühl, solange es mir gut tut und solange der Tod etwas ist, mit dem ich mich sowieso beschäftige, ist das auch in Ordnung. Wenn ich merke, das ist jetzt zu viel für mich, dann kommt sicher was anderes.
Der Titel deines neuen Buches lautet ›Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte die Angst vor dem Tod zu überwinden‹. Um Himmels willen, wie!? Wie hast du die Angst vor dem Tod überwunden?
Ich habe immer noch Angst vor dem Tod, einfach dahingehend, dass ich nicht sterben will. Angst ist ja bis zu einem gewissen Grad wichtig, sie treibt an und lässt uns Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden. Ich hatte aber richtig panische Angst vor dem Sterben. Die kam mit dem Tod meines Vaters. Es hat in mir diese Angst geschürt, wie fragil mein Leben ist und wie es morgen, heute, jetzt vorbei sein kann. Diese Angst hat mein Denken dominiert, ich habe schlecht geschlafen. Wenn ich auf der Autobahn gefahren bin, dachte ich mir: Oh Gott, oh Gott, hoffentlich bin ich nicht gleich tot. Also habe ich mich dafür entschieden, mich dieser Angst zu stellen, indem ich versuche herauszufinden: Was ist der Tod und wie gehen wir mit ihm um? Und das hat mir tatsächlich die Angst vor dem Tod genommen.
Wie ist das Leben nach der Angst?
Das Wissen um meinen Tod ist heute etwas Entlastendes, weil ich mich dadurch viel mehr trauen darf. Ich kann im Rahmen meiner Möglichkeiten alles ausprobieren, was ich möchte, weil ich ja sowieso sterben muss. Das führt zu weniger Angst, zu weniger Gedanken darüber, was andere von mir halten, zu mehr Freiheit in meiner Arbeit. Öfter mal auf Risiko setzen, ohne den Hintergedanken, was passiert, wenn etwas schiefgeht. Schon während der Recherche zum Buch habe ich bemerkt, dass mein Fokus sich ändert, weg vom Tod und hin zum Leben: Was kann ich tun, damit ich möglichst alt werde, damit ich möglichst gut leben kann, damit ich, wenn es einmal so weit sein wird, mit dem Gefühl gehe, auch wirklich gelebt, wirklich ja zum Leben gesagt zu haben.
Wie beginnt man eine Recherche über die Angst vor dem Tod?
Sehr pragmatisch. Ich bin ins Leichenschauhaus gegangen. Ausgehend von dem Gedanken, dass ich nicht weiß, was mit mir passiert, wenn ich tot bin, habe ich Menschen aufgesucht, die es sehr genau wissen.
Was war das für ein Erlebnis im Leichenschauhaus?
Ich habe mir von dort etwas mitgenommen, das ich mir eigentlich schon nach dem Tod meines Bruders gedacht hatte: Man hat so das Gefühl, dass, wenn man stirbt, man immer noch man selbst ist. Aber dann sieht man diese toten Menschen und es fühlt sich nicht so an, als wären sie noch sie selbst. Also mein Bruder hatte noch so ausgesehen wie mein Bruder, aber er war es einfach nicht, weil Gestik, Mimik, weil der Geist irrsinnig viel ausmacht. Insofern hat es mir etwas Angst genommen, dass das gar nicht mehr ich bin, wenn ich tot bin.
Wie ging es nach dem Leichenschauhaus weiter?
Dieses Erlebnis hat mich zu der Frage geführt, warum der Körper überhaupt stirbt, ob man das verzögern oder eines Tages mit einer Tablette gar aufhalten kann. Also habe ich mit Biologen gesprochen.
Und?
Es wird diese Tablette nicht geben, solange wir beide leben.
Oh.
Tut mir leid, wenn ich zu viel verraten habe.
Gab es eine durchgehende Erkenntnis bei all deinen Gesprächen?
Fast egal, mit wem ich darüber sprach, jeder sagte irgendwann: Über den Tod wird nicht geredet.
Warum reden wir nicht darüber?
Weil man nicht weiß wie. Weil da wahnsinnig viel Unsicherheit ist. Weil es ein Thema ist, das uns Angst macht, und über Dinge, die uns Angst machen, reden wir ungern.
Ich stelle mir vor, du löst mit deinen Büchern, bei deinen Lesereisen aus, dass die Menschen darüber sprechen, dass dir Wildfremde intimste Geschichten über den Tod erzählen. Wie gehst du damit um?
Es ist unglaublich, was mir fremde Menschen alles erzählen, Dinge, die sie noch nie jemandem erzählt haben. Beim ersten Buch ging es halt ganz stark um Suizid. Ich hatte das Gefühl, dass der Großteil der Menschen froh ist und dankbar, dass das Buch die Möglichkeit eröffnet, darüber zu reden, und dafür, dass auch andere ähnliche Erfahrungen haben. Der Gesprächsbedarf über den Tod ist da, er ist enorm. Der Tod gehört, so banal es klingt, zum Leben dazu. Sich damit zu beschäftigen ist sicher nicht einfach, aber sich gar nicht damit zu beschäftigen, bringt uns um etwas. Und im Endeffekt holt uns der Tod doch alle ein, entweder weil wir wen verlieren, den wir lieben, oder weil wir selbst sterben. Da ist es schon gut, wenn man zumindest die Möglichkeit hat darüber zu reden. Das heißt jetzt nicht, dass ich finde, jeder muss über den Tod reden, aber man sollte bloß nicht das Gefühl haben, dass man es nicht darf oder kann.
Stellen die Menschen auch Fragen an dich?
Ja.
Welche?
Vor allem sind es Fragen zu Trauer und zum Umgang mit Trauer. Ich werde auch oft gefragt, wie man andern helfen kann, die jemanden verloren haben. Das ist ein ganz großes Thema, dass viele Menschen nicht wissen, was darf ich sagen, wie soll ich damit umgehen?
Was antwortest du?
Ich habe eine Trauerberaterin getroffen für das Buch und mit ihr Listen erstellt. Dinge, die man tun kann, wenn man trauert. Zehn Dinge, die man besser niemals zu jemandem sagt, der trauert.
Was sage ich niemals?
›Du hast ja noch ein Kind.‹ Oder: ›Zum Glück war’s nur der Partner und nicht das Kind.‹ Menschen wollen im ersten Reflex trösten. Sie glauben, dass sie Schmerz relativieren können, indem sie ihn mit etwas vergleichen. Trauer auszuhalten ist wahnsinnig schwer. Und man kann halt manchmal nicht helfen. Manchmal ist die größte Hilfe wirklich die, dass man da ist und dass man immer wieder nachfragt und dass man den Schmerz und die Trauer gemeinsam aushält. Das zu tun fällt uns oft schwer, weil wir gewöhnt sind, eine Lösung für Dinge zu finden und dann ist das Thema erledigt. Aber Trauer erledigt sich nicht von selbst. Trauer ist ein Grundgefühl, das vorhanden ist, das bleibt, das sich verändert mit der Zeit, das schon, aber das immer vorhanden sein wird. Eines der Dinge, die mich am stärksten unter Druck gesetzt haben nach dem Tod meines Vaters, war das Gefühl, dass ich nur durchzuhalten brauche und quasi diese Trauerphase hinter mich zu bringen hab und dann bin ich quasi wieder der Mensch, der ich vorher war und weiter geht’s. Zu verstehen, dass das nie passieren wird, das war wahnsinnig entlastend für mich. Manchmal kommt jemand zu mir und sagt: Jetzt ist mein Vater, meine Mutter seit sechs Jahren tot und ich bin noch immer manchmal traurig, das ist doch nicht normal oder? Doch, das ist normal.
Welche Rolle spielt Zeit?
Der wesentlichste Unterschied zwischen heute und damals ist, dass die Trauer nicht mein Leben dominiert. Sie dominiert nicht meinen Alltag. Früher war das so, dass mir ein inneres Netz gefehlt hat. Und wenn ich irgendetwas Bestimmtes gerochen hab, ein Musikstück gehört hab, das mich an meinen Vater erinnert hat, dann hat mich das in ein Loch geworfen. Und es war schwer für mich, da wieder rauszukommen. Heute nehme ich mir die Zeit. Heute weiß ich, wenn ich traurig werde, dann ist das in Ordnung. Wir sind auch nicht den ganzen Tag glücklich, wir freuen uns nicht die ganze Zeit über etwas. Und wir trauern auch nicht dauernd. Die Trauerberaterin aus meinem Buch hat erzählt, dass, als sie ihr erstes Kind bekommen hat, sie bis obenhin voll war mit Freude und Glück. Jetzt ist dieses Kind 18 Jahre alt und sie ist immer noch glücklich, aber sie ist nicht jeden Tag 24 Stunden lang glücklich darüber, dass dieses Kind da ist. So ist es auch mit Trauer.
Dein neues Buch ist gespickt mit skurrilen Fakten. Der lebensgefährlichste Beruf etwa ist jener des Gerüstbauers. In den USA wiederum kann man seinen abgetrennten Kopf einfrieren lassen.
In Deutschland auch.
Ist der Deal, dass es in 200 Jahren eine Technik gibt, wie man den Kopf wieder auftauen und auf einen Körper draufsetzten kann und weiter geht’s?
In die Richtung. Und es ist einfach billiger, nur den Kopf einfrieren zu lassen. Aber ich bin von dem Gedanken wieder abgekommen.
Du hast tatsächlich damit gespielt?
Ich hab mir schon überlegt, wie wär das, kann ich das machen, was kostet mich das? Im Endeffekt existiere ich halt auch nicht, während ich eingefroren bin. Ich will einfach ewig leben, also ich will einfach lang, lang leben und bewusst. Also habe ich das Einfrieren wieder verworfen. Man kann in Deutschland übrigens auch seine Haustiere einfrieren lassen.
Macht man das dann bevor die Katze gestorben ist?
Nein, nein.
Dumm nur, wenn man in 200 Jahren draufkommt, dass das schlauer gewesen wäre.
Man muss es in einer gewissen Zeitspanne machen, nachdem das Tier oder der Mensch gestorben ist. Man kann nicht ewig warten. Es muss schon noch ein aktiver Organismus, das Blut muss noch irgendwie frisch sein. Ich habe jetzt 17 eingefrorene Katzen zuhause.
Hast du nicht.
Nein. Zwei lebende.
Der Durchschnittsösterreicher, so lerne ich in deinem Buch, ist zwei Millionen Euro wert. Wie wird das berechnet? Und wer tut sowas?
Wir müssen unterscheiden zwischen dem spezifischen Ich, also mir als Person, die ich keinen Wert festlegen kann für mich, weil ich bin mir alles wert. Meinem Mann bin ich hoffentlich viel wert, jemand Fremdem vielleicht gar nichts wert. Und dann gibt es das statistische Ich, das berechnet wird. Zum Beispiel stellt das Verkehrsministerium solche Rechnungen beim Verkehrswesen an. Daran kann man letztlich ermessen, wieviel Sinn welche Maßnahmen machen. Es ist lehrreich sich vor Augen zu führen, dass wir bewertet werden. Ein chinesisches Baby kannst du am Schwarzmarkt wahnsinnig günstig kaufen, ein weibliches chinesisches Baby ist noch billiger. In den USA kostet ein schwarzes Baby weniger als ein weißes.
Du meinst am Schwarzmarkt.
Genau.
Warum ist das schwarze Baby günstiger als das weiße?
Weil ein weißer Mensch auf lange Sicht gesehen im Schnitt mehr wert ist. Weil er im Schnitt eine bessere Ausbildung bekommt, einen besseren Arbeitsplatz, mehr Einkommen.
Du hast mit Menschen geredet, die sowas berechnen?
Mit Ökonomen, ja. Die haben halt zu Recht Angst, dass sie falsch verstanden werden. Denn sie berechnen ja eben nicht den Menschen, sondern seinen statistischen Wert.
Du schilderst das haarsträubende Beispiel eines US-amerikanischen Anwalts, der nach 9/11 dafür zuständig war, Schadensersatzsummen an die Hinterbliebenen auszuzahlen. Haarsträubend an dem Beispiel sind die Unterschiede der ausbezahlten Summen.
Die größte Diskrepanz gab es zwischen einem Banker und einem Tellerwäscher, also der Familie eines Bankers, die mehrere Millionen gekriegt hat, und der Familie eines Tellerwäschers, die nur ein paar Tausend gekriegt hat. Dieser Anwalt hat in einem Interview gesagt, die Leute glauben, dass er ein ethisches Urteil fällt, aber das tut er nicht. Er fällt ein ökonomisches. Ich fand den Vergleich eines heimischen Ökonomen gut, der gesagt hat: Wenn wir jetzt schon in einer Welt leben, in der wir berechnet werden und in der wir andere berechnen, dann steht auch jedem Menschen die gleiche Summe zu. Das würde bedeuten, dass in manchen Ländern, zum Beispiel in Ländern der Dritten Welt, viel mehr an Brunnen, an Krankenhäusern gebaut werden müsste, weil den Menschen dort die gleiche Summe zusteht. Also wenn du schon bewertest, dann bewerte quasi fair. Auch interessant.
Du hast vorwiegend in christlich geprägten Ländern recherchiert. Inwiefern prägt der Glaube unseren Umgang mit dem Tod?
Er prägt uns, aber er prägt uns immer weniger. Der evangelische Bischof Michael Bünker hat mir erzählt, dass durch den Umstand, dass die Menschen immer weniger an ein Leben danach glauben, sie zunehmend das Gefühl haben, sie müssten alles in dieses eine Leben packen. Das erzeuge einen wahnsinnigen Druck. Eine weitere Konsequenz des abnehmenden Glaubens ist etwa, dass professionelle Trauerredner die Rolle von Priestern bei Beerdigungen übernehmen. Menschen wollen bei Beerdigungen einen Rahmen haben, sie wollen eine Art von Zeremonie, durch die sie jemand führt. Der Trauerredner ist da die logische Konsequenz.
Zu der Liturgie des Begrabens gehört immer öfter nicht-kirchliche Musik. Du hast die populärsten Nummern recherchiert.
›Time to Say Goodbye‹ ist Nummer eins, gefolgt von ›Ave Maria‹, ›Candle in the Wind‹, ›My Way‹ und ›Der Weg‹ von Grönemeyer. Das wechselt über die Jahre, aber es gibt definitiv ein paar Dauerbrenner.
Hast du selbst einmal bei einer Beerdigung Musik spielen lassen?
Wir haben bei der Beerdigung von meinem Vater einen Ghettoblaster aufgestellt und ein Lied gespielt, das er selbst gesungen hat mit meinem Bruder. Ich fand das wahnsinnig schön. Es gab ein paar Leute, die nachher gemeint haben, das könne man nicht machen. Aber man kann.
Du beschreibst Orte auf der Welt, an denen Menschen besonders alt werden …
… die so genannten Blauen Zonen. Sardinien, eine japanische Insel, eine Stadt in Kalifornien zum Beispiel. Das sind Orte, wo überdurchschnittlich viele Über-Hundertjährige leben. Die sind alle interessanterweise in Meeresnähe.
Was lernen wir von diesen Orten?
Was sie alle gemeinsam haben, ist ein recht ausgeprägtes Sozialwesen. Die Menschen ernähren sich vorwiegend von Dingen, die sie selbst herstellen, sie bewegen sich ausreichend. Alles keine großen Überraschungen. Weißt du, mein Buch ist nicht als Ratgeber gedacht. Ich schreibe nicht, tu dies und du wirst die Angst vor dem Tod verlieren, tu jenes und du wirst lange leben. Ich sammle Geschichten, ich rede mit Menschen, die sich mit Leben und Tod auseinandersetzen. Ich greife ihre Gedanken auf und sag: Denk das einmal durch und überleg dir, was du willst von deinem Leben – in Anbetracht dessen, dass du eines Tages sterben wirst.
Du hast mir erzählt, dass dein nächstes Buch nicht vom Tod handeln soll.
Das nehme ich mir fest vor.
Bist du des Todes überdrüssig?
Es ist ja nicht so, dass ich den ganzen Tag herumlaufe und mir nur Gedanken über den Tod mache. Ich hab einen guten Filter und eine gute Art und Weise, wie ich abschalten kann. Die meiste Zeit beschäftige ich mich mit dem Leben.