Über Lebende

Wie übersteht man eine große Krise ? Wie findet man aus einem Ausnahmezustand zurück in den Alltag ? Wie lernt man nach einem Schicksalsschlag wieder lachen ? Wir haben sechs Menschen gefragt, die Unvorstellbares erlebt haben – oder immer noch erleben.

DATUM Ausgabe April 2021

› Ich muss die Seelen genau so aufbauen wie die Häuser. ‹
Leila Mustafa, 33,
Bürgermeisterin in Syrien

Nachdem ihre Heimatstadt Rakka 2017 völlig zerstört wurde, übernahm die damals 30-jährige Syrerin den Job als Bürgermeisterin. Laut einem Bericht der Menschen­rechtsorganisation Amnesty International ist Rakka die am schwersten zerstörte Stadt der jüngeren Geschichte.

Ich bin Syrerin, Kurdin, Politikerin und wurde zur Bürgermeisterin Rakkas von Vertretern der Region im Norden Syriens gewählt. Als Ingenieurin, an der Uni ausgebildet, bin ich eigentlich auf Agrartechnologie spezialisiert. Dieses technische Know-How ist zwar ein wichtiger Pfeiler, doch meine zen­trale Kompetenz ist es, Politik in Syrien neu zu erfinden. Meinen Job teile ich mir mit einem Araber. Das ist unser Konzept in diesem Teil Syriens : Jeden Job machen eine Frau und ein Mann gemeinsam. Auch die verschiedenen Ethnien arbeiten zusammen, teilen sich in Quoten die politische Macht. Mein Ziel, mein Traum wäre, dass wir das, was wir hier verwirklichen, zu einem Modellprojekt für den gesamten Nahen Osten entwickeln. Das brauchen wir. Neue Wege aus dem Dauerkonflikt. Und das gibt mir Kraft.
Ich habe das Amt 2017 übernommen, als der Krieg um Rakka noch im Gang war. Als ich nach dem Ende der Kämpfe in unsere Heimatstadt zurückkam, wur­de mir schlagartig fürchterlich übel. Im Schock brachte ich kein Wort hervor. Straßenzug um Straßenzug das gleiche Bild : Zerstörung. Wir, meine Eltern und ich, sind 2012 geflohen, als radikale Is­lamisten die Macht in Rakka übernahmen. Fünf Jahre später war es eine Geisterstadt. Sechs Monate lang hat die Internationale Militärkoalition Rakka gna­denlos bombardiert, um die Terrormiliz › Islamischer Staat ‹ zu vertreiben. Die meisten der 200.000 Einwohner hatten sich in Sicherheit gebracht. Wer geblieben ist, war in Lebensgefahr. Doch nach den Kämpfen wollten alle so schnell wie möglich zurück. Nur gab es keinen Strom, keine Wasserversorgung, keine Lebensmittel, dafür überall Minen, Schutt. Im Zentrum waren 80 Prozent aller Gebäude Ruinen.

Mein Job als Bürgermeisterin ist es, die Seelen mit genau so viel Kraft auf­zubauen wie die Häuser. Die meisten hier haben jedes Vertrauen verloren : In den syrischen Staat, der sich nie um sie gekümmert hat, die konservative reli­giöse Elite, die sich mit den Terroristen verbündet hat. Enttäuscht hat uns auch die Internationale Gemeinschaft, die erst die Stadt platt bombardierte, aber nun kaum hilft. 800 Millionen Dollar wird der Wiederaufbau kosten. Eine ­gigantische Menge Geld. Nur, wer wird sie für eine Stadt bezahlen, die an der Peripherie liegt, während woanders der Krieg weitergeht ? An eine Stadtverwaltung, die nicht zum syrischen Regime gehört ?

Vorerst helfen wir uns selbst, ich ­ko­ordiniere diese Arbeiten, auch die Rückkehr zur Normalität. Wir haben rasch den Schulbetrieb wieder aufgenommen, Strom und Wasser fließen wieder, auf den Märkten gibt es Ware. Die Straßen wurden hergerichtet, Tonnen von Schutt weggekarrt und viele Häuser wieder aufgebaut. Doch die Armut und die Unsicherheit machen den Menschen zu schaffen. Radikale Islamisten im Un­tergrund destabilisieren die Lage. Mehrere Menschen, die in der neuen Stadtverwaltung arbeiten, sind gezielt ermordet worden. Auch ich kann keinen Schritt ohne Leibwächter tun. Eine andere Wahl als anzupacken habe ich nicht. Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass ich als junge Frau einmal Rakka regiere. Doch trotz all der Drohungen weiß ich, dass viele mich akzeptieren, nicht obwohl ich eine junge Frau bin, sondern – hoffentlich – weil ich es bin und so einen echten Neuanfang verkörpere. (PR) •

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