Von der Pflicht zu hoffen
Warum es nicht genügt, die Düsternis zu kartografieren.
Intellektuelle begreifen sich oft in der Rolle von Mahnerinnen. Es sind diejenigen, die Vorsicht schreien, während der Rest bestenfalls planlos umherirrt. Die ewigen Kassandras, die Spielverderber, die Korinthenkackerinnen, die in jeder noch so wohlmeinenden Intention und jedem noch so plausibel klingenden Argument den doppelten Boden erkennen und pedantisch jeden falschen Glanz wegkratzen, um den ekligen Kern freizulegen.
Doch seit einiger Zeit ist eine neue Seite an ihnen zu erkennen. Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk hat sie jüngst in einem Interview mit dem Magazin Republik definiert: ›Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss hat einmal zu mir gesagt, weil ich oft sehr pessimistisch klang: Hoffnung ist kein Gefühl, sondern eine ethische Praxis, die man üben muss. Das hat mir sehr geholfen.‹
Hoffnung als ethische Praxis. Als neue Pflicht der Denkenden. Herumzukassandran reicht nicht. Mahnen allein fällt in trostlosen Zeiten nicht auf fruchtbaren Boden. Ist es vermutlich auch nie. Es braucht das Licht am Ende des Tunnels. Oder, um es für uns immerwährend Konsumierende auszudrücken: Es braucht ein anderes Angebot.
Auch die deutsche Autorin Mely Kiyak bedient diese ethische Praxis neuerdings. Ihr werden derzeit zu ihrem jüngsten Roman ›Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an‹ oft Fragen zu Krankheit und Tod gestellt. Sie selbst war immer wieder lebensbedrohlich krank, sie hat das in Texten und Büchern reflektiert. Früher war Kiyak eher bekannt für ihre Kolumnen, in denen sie die deutsche Gegenwart in der alten Kassandra-Tradition analysierte.
Das tut sie nicht mehr, sagt sie in der Süddeutschen Zeitung. In ›politisch gefährlichen Zeiten‹ sei es für Kiyak wichtiger, von anderen Dingen zu erzählen: von Liebeserfahrungen, Naturerlebnissen und anderen ›betörenden Fähigkeiten.‹ ›Wie sonst wissen wir, wofür es sich lohnt, sich anzustrengen, aufzustehen und Widerstand zu leisten? Wir müssen der Realität des Düsteren eine Erinnerung an das Gute entgegensetzen‹, wird sie zitiert.
Das mag einige herausfordern, sind die meisten Profinachgrübler doch eher geschult, die Düsternis zu kartografieren als das Gute hoffnungsvoll aufzuspüren. Dabei ist es überall. Auch an den vermeintlich unwahrscheinlichsten Orten. In Russland etwa, als Tausende nach Alexej Nawalynis Tod zu seinem Begräbnis geströmt sind. Sie trauerten nicht nur um ihn, sondern auch um den ›Tod der Hoffnung‹, wie es einige Kommentatorinnen resignativ bezeichneten. Dabei zeigte diese Menge doch auch etwas ganz anderes: das Gesicht eines anderen Russlands, einer anderen Gemeinschaft, einer anderen Geschichte. Die Anwesenheit dieser Menschen gab Hoffnung.
Wie sie unvermummt für alle sichtbar in der Schlange standen, um Blumen auf Nawalnys Grab zu legen. Wie sie in die Kameras ausländischer Journalisten ihre Verachtung für das Putinsche Regime artikulierten und im selben Atemzug gestanden, wie viel Angst sie haben, es zu tun. ›Ich möchte den Menschen zurufen: Wir sind das Volk! (…) Wir sind 140 Million, können wir nicht einfach aufstehen und ihm sagen, dass er gehen soll?‹ appelliert eine ältere Frau an eine Menge in Moskau. Einige versuchten, dem Appell bei der Scheinwahl Mitte März Folge zu leisten. Sie versammelten sich um zwölf Uhr vor den Wahllokalen zur Aktion ›Mittag gegen Putin‹, letztlich um einander einfach ›in die Augen‹ zu schauen, wie es der Oppositionelle Michail Chodorkowski sagte. Gleichgesinnte zu sehen und zu erleben, zu wissen, dass man in seinem Widerstand nicht allein ist.
Es mag ein kleiner Strohhalm sein. Doch kann dieser notfalls auch vor dem Ertrinken bewahren. •