Wie es ist … mit den Ohren zu sehen

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Fotografie:
Juan Ruiz
DATUM Ausgabe März 2024

Ich bin blind, aber kann ­allein mit meinem Gehör durch einen Raum navi­gieren und zielgenau Gegenstände orten. Im Winter gehe ich skifahren, manchmal steige ich aufs Mountainbike. Aktuell halte ich sogar den Weltrekord im Blind-Fahrradfahren. 

Die Technik, die mir das ermöglicht, heißt Echolokalisation. Sie lässt mich auch als nicht-sehende Person mit meinem Gehörsinn durch die Welt gehen. Im Grunde funktioniert das, weil Schall an Objekten abprallt. Jeder Raum, den ich betrete, klingt anders. Das hängt zum ­Beispiel von der Größe und den Materialien im Raum ab. Ein Juwelier unterscheidet sich von einem Modegeschäft, in dem Stoffe den Schall absorbieren. Dann spielt noch die Distanz zu Gegenständen eine Rolle. Wenn ich mit dem Kopf zwanzig Zentimeter von einer Wand entfernt stehe, klingt das völlig anders als in der Mitte eines Raumes. Ich kann also die Entfernung zu Dingen hören. Das ist ziemlich essenziell, weil ich mich sonst dauernd anhauen würde.

Besonders hilfreiche ­Objekte sind zum Beispiel Mikrowelle, Kühlschrank oder Autos. Die machen mächtig Lärm. Wenn ich einen stillen Gegenstand suche, muss ich das Geräusch selbst machen. Ich klicke dafür meistens mit meiner Zunge. Brauche ich mehr Informationen von der linken Seite, drehe ich mich dorthin und klicke. Den Rest erledigen die Schallwellen. Damit entsteht in meinem Kopf ein schwammiges 3D-Bild meiner Umgebung.

Natürlich nutze ich auch andere Sinne. Wenn ich Hunger bekomme, schnuppere ich nach einem guten Restaurant. Außerdem benutze ich meistens einen Stab. Hände schaden natürlich auch nie. Je mehr Hilfsmittel einem zur Verfügung stehen, umso besser.

Ich unterrichte auch andere blinde Menschen darin, wie sie diese Technik anwenden können. Ich beginne damit, sie Stoffe und Gegenstände erahnen zu lassen. ­Naturgemäß geht das nur, indem sie zuhören und sich dafür sensibilisieren. Um Echolokalisation im Alltag verwenden zu können, braucht es circa 15 Stunden Training.

Viele Leute können anfangs gar nicht fassen, dass diese Technik funktioniert. Unser Gehirn sagt intuitiv, dass so etwas nicht möglich sein könne. Manche glauben anfangs, es sei Zufall, dass sie zum Beispiel einen Gegenstand am Boden gefunden haben. Ich gehe dann mit ihnen in den Park und lasse sie Bäume suchen. Man kann die auf 15 bis 20 Meter Ent­fernung hören. Spätestens das überzeugt dann alle.

Meistens unterrichten die Technik sehende Menschen, weil man auf Nummer sicher gehen möchte, dass sich niemand verletzt. Ich benutze aber alle meine Sinne, um während der Trainings aufzupassen.

Echolokation hat natürlich auch seine Grenzen. Ich kann sie nicht dafür verwenden, um eine Treppe hinabzugehen. Das Echo einer Wand kommt schnell zurück, aber über Treppen ist einfach nur Luft, die keine Schallwellen a­bgeben kann. 

Es ist für mich übrigens erstaunlich, wie selten sehende Menschen ihre Ohren nutzen. Denn das Tolle am Hören ist ja, dass es wie ein 360-Grad-Sehen funktioniert, während unsere Augen nur nach vorne schauen können. Leute ­denken sich manchmal hinter meinem Rücken, ich könne nicht sehen, was sie gerade machen. Sie könnten nicht falscher liegen. •

Zur Person: Juan Ruiz (42) arbeitet als Mobilitätstrainer weltweit mit sehbehinderten Menschen, ist selbst von Geburt an blind und lebt in Wien.

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