Verzweiflung auf Rädern

Wie Traktoren als Protestvehikel die Zerrissenheit des ländlichen Raums ausdrücken.

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Fotografie:
Yves Herman/REUTERS/picturedesk.com
DATUM Ausgabe März 2024

Wo sonst der Frontlader die Strohballen aufhebt, macht ein Satz auf Existenzielles aufmerksam: ›Wir ernähren Sie. Aber wir krepieren‹ steht in französischer Sprache auf dem Plakat. Dahinter strahlen uns Scheinwerfer frontal entgegen. Das Protestvehikel war eines von etwa 1.300 Fahrzeugen, die am Rande des EU-Gipfels Anfang Februar die Brüsseler Innenstadt blockierten. Damit kämpfen Bauern gegen das Handelsabkommen Mercosur, gegen den Green Deal, gegen Förderkürzungen und für mehr Wertschätzung. Mindestens seit den 1970ern fahren Agrarverbände mit Traktorenzügen für ihre Anliegen in die urbanen ­Zentren. Taugt der Traktor heute noch, um die Botschaft der Protestierenden zu vermitteln? 

Es gebe weder ›die‹ Landwirtschaft noch ›den‹ ländlichen Raum, schreibt ­Rolf Heinze, Soziologe an der Ruhr-Universität Bochum in einem Aufsatz über die aktuellen Demonstrationen. Eher sei eine zunehmende Zerrissenheit der landwirtschaftlichen Lebenswelten zu beobachten, was auch auf die Protestbewegungen ausstrahle. Die symbolischen Aktionen passen insofern zum gegenwärtigen Trend einer emotionalisierten politischen Öffentlichkeit, meint der Soziologe. Denn die Kommunikation verlaufe in der eigenen Blase, und etablierter Politik werde weniger vertraut, was soziale Zersplitterungen nach sich ziehe.

›Durch das geballte Auftreten in ­Traktorenzügen wird die Landwirtschaft fälschlicherweise als einheitlicher Block wahrgenommen. Dabei gibt es selbst­verständlich jene, die von der Entwicklung profitieren, solche, die aufgeben müssen, und auch jene, die etwa den Green Deal befürworten‹, sagt Gunter Mahlerwein, der sich als Historiker an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz mit Agrargeschichte befasst. 

Der einzelne Mensch in der Fahrer­kabine ist auf dem Bild nur relativ klein auszumachen. Die Frontalperspektive des Fotos lässt das dazugehörige Gefährt mit seinen riesigen Reifen noch einmal mächtiger wirken. Im Vergleich zu Abbildungen von Bauernprotesten im 16. Jahr­hundert, wo jene, die das Land bestellten, mit Sensen der staatlichen Übermacht ­gegenübertraten, symbolisieren so gewaltige Landmaschinen keine Verletzlichkeit oder Schwäche. Der Forscher sieht darin einen Widerspruch: ›Traktoren symbolisieren Stärke, keine Verzweiflung. Gleichzeitig klingt das Transparent verzagt und entmutigt.‹ 

Seit es sich ab den 1950er-­Jahren durchsetzte, übernahm das Fahrzeug die Symbolkraft, die vorher das Pferd auf dem Hof hatte. Es drückt immer schon und immer noch Fortschritt aus. Die hoch­spezialisierten Maschinen ­konterkarieren das Anliegen, das der Bauernstand vermitteln möchte, nämlich, dass er um seine Existenz fürchtet. ›Da fährt großes Kapital auf der Straße herum. Solche Traktoren sind sehr teuer‹, sagt Mahlerwein. 

Die Aktionen haben trotzdem Erfolg. Aufmerksamkeit und Akzeptanz scheinen den Bauern gewiss, die Politik reagiert bereits. Das liege auch daran, dass Traktoren Macht verleihen, meint der Historiker: ›Proteste anderer Berufs­gruppen, etwa in der Bildung oder Pflege, werden weniger wahrgenommen. Wenn die Bauern mit 300 Traktoren aufkreuzen, ist die Hauptstadt stillgelegt.‹ •

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