Wie man vom Rollstuhl aus die Welt ändert
Je heißer es wird, desto schlechter geht es dem MS-Patienten Mex M. Vor drei Jahren hat er deshalb den Staat Österreich für dessen verfehlte Klimapolitik verklagt. Jetzt eröffnet ihm ein Urteil in einem ähnlichen Fall neue Chancen.
Drei Minuten zu spät schrillt eine Glocke in die gespannte Stille und den vollgepackten Raum in Straßburg. Ein Mann mit Halbglatze und Krawatte schreitet vor die versammelte Menge, stoppt, verkündet in Heroldsmanier: ›La Court!‹ und verlässt die Szenerie. Hinter ihm folgt die Präsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Síofra O’Leary, in schwarzer Robe mit europablauer Schärpe. Sie setzt sich hin, die Lesebrille auf und verkündet das Urteil: Die Schweiz ist mit ihrer Untätigkeit in der Klimapolitik den Verpflichtungen der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht nachgekommen und hat damit das Recht auf Privat- und Familienleben von mehr als 2.000 Schweizer Seniorinnen verletzt.
›Und die Klima-Grannys haben sie echt anerkannt?‹ fragt Mex M. ungläubig im 500 Kilometer entfernten Waldviertel, als er das erste Mal von dem Urteil hört, das auch seinen Fall richtungsweisend beeinflussen wird. Aus Rücksicht auf sein Familienleben nennt er in Medien nicht seinen vollen Namen. Die Entscheidung zu Gunsten des Vereins Klimaseniorinnen Schweiz wird von Experten nicht umsonst als Meilenstein bezeichnet: Klimaschutz ist damit offiziell ein Menschenrecht. ›Ältere Menschen haben sicher gesundheitliche Probleme bei der Hitze, die spüren den Klimawandel schon jetzt. Ähnlich wie ich‹, sagt Mex. Seine Klimaklage ist mit jener der ›Klima-Grannys‹ vergleichbar. Und sie könnte sogar noch einen Schritt weitergehen.
Vor drei Jahren hat Mex M. ebenfalls vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geklagt, und zwar seinen Heimatstaat Österreich. Der Waldviertler leidet schon sein halbes Leben lang an der unheilbaren Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose und hat außerdem, wie 60 bis 80 Prozent aller MS-Patienten, das Uhthoff-Syndrom: Je heißer es ist, desto schlechter wird sein Zustand. Weil Österreich keine ausreichenden Maßnahmen setzt, um Emissionen und Temperatur zu reduzieren, sieht Mex seine Menschenrechte verletzt.
Der Fall Mex M. gegen Österreich war die vierte Klimaklage überhaupt am EGMR, wurde aber dadurch zum fünften Rad am Wagen. Ein Bürgermeister aus Frankreich, sechs portugiesische Kinder und 2.500 Schweizer Seniorinnen waren mit ihren Klagen früher dran, beispielhaft sollten sie von den 17 Richtern der ›Grand Chamber‹ entschieden werden, um die Spielregeln für folgende Klimaklagen festzulegen. Denn in die ›Grand Chamber‹ kommen nur Ausnahmefälle, die den Gerichtshof zu neuen Grundsatzentscheidungen zwingen. Bisher hatte sich der EGMR nur mit lokalen Umweltfällen beschäftigt, nun sollte es erstmals um die globale Klimakrise gehen.
Ebenso wie noch sechs weitere anhängige Klimaklagen wurde Mex’ Fall damals vertagt. Fast auf den Tag genau drei Jahre später, am 9. April 2024, hat der EGMR endlich über die drei auserwählten Fälle geurteilt. Mex ist als nächster dran. Aber bis er angehört wird, dauert es noch, wahrscheinlich sogar ein volles Jahr. ›Mein ganzes Leben besteht aus Warten‹, sagt Mex. ›Ich habe die Geduld aber nicht deshalb, weil ich so ein geduldiger Mensch bin. Ich kann ja nichts anderes tun.‹
Nur: Während des Wartens wird es immer wärmer. Noch nie wurden so früh 30 Grad in Österreich gemessen. 2023 war das heißeste aller 256 Jahre der österreichischen Messgeschichte. Geht es mit den Temperaturen so weiter, gibt es laut Geosphere Austria auch heuer wieder einen Rekordwert. ›Hitze ist für jeden mit MS ein Thema‹, sagt eine Patientin im Gespräch mit DATUM. In Österreich sind davon rund 14.000 Menschen betroffen und Mex M. ganz besonders. Ab 25 Grad braucht er einen Rollstuhl, ab 30 Grad reicht seine Kraft nicht einmal mehr zum Antauchen der Räder. Dabei war Mex vor seiner Erkrankung ein sehr sportlicher Mensch.
›Ich habe früher Karate gemacht und war ganz knapp vor dem schwarzen Gürtel‹, erzählt Mex. Zehn Jahre lang hat er auch Baseball gespielt und war als Trainer aktiv. Mit der Zeit wurde das Spielen immer weniger und das Coachen immer mehr, bis schließlich gar nichts mehr ging. ›Am Ende konnte ich nicht einmal mehr Übungen vorzeigen‹, erinnert er sich. Es muss um 2010 herum gewesen sein, als Mex sich nach einem kalten Tag draußen mit dem Baseballverein zu Hause in der Badewanne aufwärmen wollte. Doch mit dem heißen Wasser bis zum Hals konnte er auf einmal nicht mehr aufstehen. Das war sein erster Kontakt mit dem Uhthoff-Syndrom.
Wenn es zu heiß ist, wird Mex bewegungsunfähig. Seine Muskeln und sein Gehirn kommunizieren nicht mehr, er vergleicht seine Krankheit deshalb mit einem ferngesteuerten Auto, bei dem die Fernbedienung kaputt ist. Trotz intakten Motors fährt das Auto ohne Steuerung keinen Millimeter. ›Es war für mich damals aber schnell klar: Nur weil ich mich ärgere, verschwindet die Krankheit nicht‹, sagt der Waldviertler.
Er hat seine MS kennen- und mit ihr leben gelernt, seine Interessen dem angepasst, was die Krankheit seinem Körper erlaubt. Nach der Baseballpension begann er wieder häufiger Gitarre zu spielen, je mehr Probleme die Feinmotorik machte, desto mehr begann er wieder zu lesen – sehr zur Freude seiner Frau. Inzwischen verbringt er seine Freizeit hauptsächlich mit Schlafen und Liegen, seit seiner Frühpension hat der ehemalige Energieberater Zeit genug, um jeden Tag das Ö1-Mittagsjournal in voller Länge zu hören. Diese Zeit, die Mex innerhalb seiner vier Wände verbringen muss, wird von Sommer zu Sommer länger und länger.
Allein in Wien hatten sich 2023 die Hitzetage im Vergleich mit dem Durchschnitt von 1960 bis 1990 verdreifacht. Dort ist es mittlerweile pro Jahr rund einen ganzen Monat lang 30 Grad heiß. Auch in Mex’ Heimatregion ist die Klimakrise spürbar angekommen. In ihrem mehr als tausendseitigen Antrag an den EGMR rechnet das Team um Mex’ Anwältin Michaela Krömer vor, dass sich seine Beeinträchtigung durch Uhthoff-Syndrom und Klimakrise in den letzten Dekaden im Durchschnitt verdreifacht habe.
›Man merkt die Hitze immer erst, wenn es schon zu spät ist‹, sagt Mex M. ›Aber nachdem ich kein Lemming bin, der von der Klippe stürzt, sondern zu überleben versuche, gehe ich einfach nicht raus.‹ Tagsüber mit Freunden an einem Badesee sitzen? Für Mex unmöglich. ›Wenn ich Leute treffe, dann meistens in der Nacht‹, sagt er. Michaela Krömer argumentiert auch rechtlich mit dieser Isolation vor dem EGMR.
Eigentlich ist Mex M. ein Klimakläger erster Stunde. Als Greenpeace 2020 die erste Klimaklage Österreichs beim Verfassungsgerichtshof einbrachte, war Mex einer der 8.063 Mitankläger. Nach dem Scheitern der Klage und dem Erfolg einer Crowdfunding-Kampagne, die Mex als Boxer im Rollstuhl zeigte, war der Gang vor den EGMR finanziert. Kostenpunkt: 32.250 Euro. Der Fall der Schweizer Seniorinnen lässt die Hoffnung, dass sich das Investment ausgezahlt hat, steigen.
In seinem historischen Urteil hat der EGMR die vier Individualanträge einzelner Seniorinnen zwar abgelehnt, aber zu Gunsten ihres Vereins Klimaseniorinnen Schweiz entschieden. Was die anderen zwei Fälle angeht: Wenig überraschend wurde die Klage der portugiesischen Youngsters, die gleich 33 Staaten – darunter auch Österreich – auf dem Kieker hatten, zurückgewiesen. Schon im Vorfeld gab es Bedenken, schlussendlich war ausschlaggebend, dass die Kinder den nationalen Rechtsweg nicht beschritten hatten.
Die lange Zeit bis zum Urteil wurde auch relevant, denn in drei Jahren kann viel passieren. Die älteste der Schweizer Klima-Seniorinnen, sie wäre heuer 93 geworden, verstarb noch vor ihrem Triumph. Der Bürgermeister aus Frankreich lebt gar nicht mehr in der Küstenstadt, für die er Schutz vor Überflutungen erstreiten wollte, und ist dort auch nicht mehr Bürgermeister, sondern EU-Parlamentarier in Brüssel. Seine Klage wurde also ebenfalls zurückgewiesen.
Diese zwei Niederlagen waren absehbar, deshalb ärgert sich Michaela Krömer, dass Mex’ Fall nicht unter den ursprünglichen drei auserwählten war: ›Es ist sehr bitter, denn es hätte wirklich einen Riesenunterschied gemacht.‹ Nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich: Nach den Nationalratswahlen im September wechselt die von Österreich entsandte Richterin am EGMR. Wegen der beschränkten Restzeit wird das Verfahren wohl bis dahin nicht mehr angefasst und die FPÖ, die lieber ›Umweltpolitik mit Hausverstand‹ machen will, führt derzeit in allen Umfragen. Nach dem Superwahljahr schaue die Welt jedenfalls anders aus, meint Krömer: ›Justice delayed is justice denied. Daran muss ich sehr oft denken bei diesem Fall. Ich glaube, wir hätten möglicherweise gewonnen.‹
Denn laut Krömer sind die Kriterien, die für den Erfolg der Schweizerinnen verantwortlich waren, auch bei Mex erfüllt. Die ›Klima-Grannys‹ wurden vor ihren nationalen Gerichten nicht ausreichend angehört und damit in ihrem Recht auf ein faires Verfahren verletzt. Unter österreichischem Gesetz sei Klimaschutz nicht einklagbar, wie Krömer mit mehreren Verfahren bereits belegt haben will. Die Klimaseniorinnen wurden in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt, weil der Staat seiner aktiven Verpflichtung, sie vor den häufigeren Hitzewellen zu schützen, nicht nachgekommen ist. Gestiegene Temperaturen sind auch Mex’ Hauptargument. ›Und wir leben in einem Staat, dessen Klimapolitik ähnlich schlecht ist wie die der Schweiz‹, meint Krömer.
Aber eines ist anders: Die Klima-Seniorinnen waren nur als Verein ausreichend in ihren Rechten verletzt. Das ist an sich historisch, denn erstmals können – trotz noch vagen Voraussetzungen – auch Interessenvertretungen stellvertretend für Betroffene Klimaklagen einreichen. Vor dem EGMR zählt stark die Frage des Opferstatus und wer überhaupt Zugang zum Gericht bekommt.
Mex müsste die explizit hoch angesetzte Hürde der individuellen Betroffenheit überspringen. Die vier einzelnen Klimaseniorinnen sind mit ihren Individualanträgen abgeblitzt, weil sie nicht beweisen konnten, dass sie ›den schädlichen Auswirkungen des Klimawandels‹ direkt und stark ausgesetzt sind. ›Aber wenn Mex nicht besonders konkret von der Klimakrise betroffen ist, dann ist es niemand‹, sagt Michaela Krömer.
Oliver Ruppel vom Forschungszentrum für Klimaschutzrecht der Universität Graz sieht das ähnlich: ›Es ist immer noch das Bohren dicker Bretter, und ich bin natürlich kein juristischer Hellseher, aber ich würde das schon positiv prognostizieren.‹
Dass die Alten und Kranken zu Vorkämpfern in Sachen Klimaschutz werden, hat den Grund, dass die Spielregeln der Gerichte auf besondere Betroffenheit abstellen. ›Man will ja nicht, dass jetzt – schlampig gesagt – jeder Dahergelaufene einen Klimafall konstruieren kann‹, sagt Krömer. ›Oder die Europäische Menschenrechtskonvention zum globalen Vertrag über den Klimawandel machen‹, ergänzt Ruppel.
Sich mit seiner Krankheit in die Öffentlichkeit zu stellen, ist aber alles andere als selbstverständlich. Das Pseudonym Mex M. entstand auch deshalb als Kompromiss mit seiner Frau. ›Die Klage ist für mich aber der richtige Weg. Ich kann vieles nicht mehr tun; das kann ich tun‹, sagt er.
Sollte Mex seinen Fall gegen Österreich gewinnen, dann müsste das momentan inhaltsleere Klimaschutzgesetz ungefähr nach Vorlage des Klimavolksbegehrens repariert werden, ist sich Krömer sicher. Nationale Klimaverfahren müssten zugelassen, Beschwerdemöglichkeiten eingeführt und ein bindender Fahrplan zur Erreichung der Klimaziele samt Sanktionsmechanismus erstellt werden.
Das Urteil aus der Schweiz könnte für EU-Mitgliedsstaaten allerdings wieder andere Implikationen haben, meinen manche Experten. Die Schweiz sei dafür verurteilt worden, keine Emissionsziele festgesetzt zu haben, und die EU-Mitgliedsstaaten hätten ja kollektive Ziele. Krömer hält dagegen: ›Die Ziele waren nur ein Kritikpunkt im Urteil.‹ Die Schweiz hätte auch, gleich wie Österreich, ihre Reduktionsziele in der Vergangenheit verfehlt, und ohne Klimaschutzgesetz oder NEKP sei man hierzulande nicht besser dran.
Die Klimakrise kettet Mex M. jedenfalls immer länger an sein Zuhause. Seine Anwältin will darauf pochen, dass der Gerichtshof sich noch heuer mit dem Fall beschäftigt. Sicher ist nur, dass er noch einen weiteren Teil seines Lebens mit Warten verbringen wird. Genervt sei er davon nicht, er habe in seiner Frühpension schließlich wenig, was ihn stressen könnte. ›Obwohl ich den Staat Österreich verklage, bin ich ihm dennoch sehr dankbar für sein öffentliches Gesundheitssystem. In anderen Ländern ginge es mir ganz anders‹, sagt Mex.
Den Abend nach dem historischen Urteil in Straßburg verbringt Mex M. mit einer Pizza Diavolo bei seinem Baseballverein. Die Sportler kommen von der Wiener Spenadlwiese, Mex vom Young-MS-Treffen der Österreichischen MS-Gesellschaft in die Pizzeria. ›Die Jungs sind für mich wie eine zweite Familie‹, sagt der Waldviertler. Auch dort gibt es langsam einen Generationenwechsel, viele gehen in Baseballpension, die jüngeren erzählen vom frischen Vaterdasein. An diesem Abend hat Mex auch etwas Großes zu berichten, aber er hält sich kurz. Die Schweizer Klima-Seniorinnen haben ihm eine Türe aufgestoßen. Die Frage bleibt nur, ob die Türe weit genug offen ist, damit Mex und sein Rollstuhl durchpassen. •