Zeichen der Revolution
Wie es das Foto eines Studenten auf das Cover des Time Magazine schaffte.
26. April 2024, im Hof der George Washington University in Washington D. C., den alle ›U-Yard‹ nennen: Der 28-jährige James Schaap steht kurz vor dem Abschluss seines Masterstudiums in Fotojournalismus. Er arbeitet für die Uni-Zeitung The GW Hatchet und meldet sich dort für die Schicht von 18 bis 1 Uhr, um die zweite Nacht des Protestcamps zu fotografieren.
Mit der einbrechenden Dämmerung ändert sich die Atmosphäre, denn Trommeln und Gitarrenklänge heizen die Menge an. In der Nähe der Zelte hält ein Demonstrant eine Rede. ›Er scherzte, wie gerade unsere Uni den Spitznamen »Die Revolutionäre« tragen könne, wo doch die Verwaltung die israelische Regierung fördere, anstatt sich für den Frieden in Gaza einzusetzen‹, erinnert sich Schaap, der eine Demonstrantin zustimmend ihre Faust in die Luft strecken sah. Als sie ein weiteres Mal die Hand hebt, Mittel- und Ringfinger zu einem ›V‹ geformt, drückt er auf den Auslöser und schießt das Cover-Foto für eine der Ausgaben des Time Magazine vom 27. Mai 2024.
Die ›V‹-Pose, die für ›Victory‹, also Sieg steht oder als Peace-Zeichen bezeichnet wird, zierte schon mindestens zwei Mal die Titelseite des Magazins: einmal, als die Frauen des Iran zu den ›Heldinnen des Jahres 2022‹ gekürt wurden – und am 17. Oktober 1969, mitten im Vietnamkrieg.
Die Time-Journalistin Kara Milstein erkennt auch einige Parallelen zu den Archivfotos von College-Protesten in den 1960er- und 1980er-Jahren: ›Die Momente der Stille und der gemeinsamen Mahlzeiten … die Journalisten waren auch Zeugen der Eskalation, und sie machten selbst mitten im Chaos starke Fotos, die sofort die Aufmerksamkeit erregten‹, schreibt sie im Time Magazine über die Aktion des Mediums, das zehn Uni-Zeitungen um Foto-Einreichungen von den Protesten bat.
Schaap postete sein Foto. Aus den Reaktionen darauf liest er ›eine Mischung aus Zorn und Bewunderung‹ heraus. ›Die Kommentare im Internet konzentrieren sich mehr auf das Palästinensertuch, weniger auf die V-Geste‹, sagt Schaap. Dieses Tuch werde in den USA oft mit Terrorismus assoziiert. Das sei eine Nachwirkung des 11. September, der eine antimuslimische Stimmung hervorgebracht hätte, meint er. ›Daher variieren die Interpretationen: Einige sehen darin ein unheilvolles Zeichen dafür, dass »Araber die amerikanische Jugend beeinflussen«, während andere es für einen Ausdruck der Solidarität mit den Palästinensern halten‹, sagt Schaap.
Das Tuch verhüllt das Gesicht der Person, die es trägt, bis auf die Augenpartie. Wäre das Gesicht klar erkennbar, wäre das Foto wahrscheinlich nicht so prominent publiziert worden. ›Der GW Hatchet-Chefredakteur bat uns, darauf zu achten, dass wir Demonstranten keinem Doxing-Risiko aussetzen würden‹, erläutert der Fotograf. Unter ›Doxing‹ versteht man das Veröffentlichen personenbezogener identifizierender Informationen im Internet, meist mit bösartiger Absicht.
Seine Mutter sei ein Fan von Prinzessin Diana gewesen, und so habe er das Bild aggressiver Paparazzi immer im Kopf, erzählt der Journalismusstudent. ›Diese Ethik leitet meine Arbeit ständig, besonders in sensiblen Situationen. Mein Ziel ist es, nicht aufzufallen und niemanden zu fotografieren, der das nicht möchte‹.
Bei den Studentenprotesten musste er das erstmals doch tun und hatte sogar das Gefühl, Gruppen von Menschen abzulichten, die ihn eventuell körperlich attackieren würden, weil sie nicht auf ein Foto wollen. ›Ich verstehe ihre Wut und Frustration, aber das versetzte mich ständig in Alarmbereitschaft‹, berichtet er. Den Blick für die kompositorischen Details bewahrte er sich trotzdem, wie der Hintergrund seines Fotos beweist: Dort schwingt ein Mann eine palästinensische Flagge – passend zum grünen Licht. ›Das grüne Licht hat mich an ›The Great Gatsby‹ erinnert. Das symbolisiert die Sehnsucht nach etwas, das zwar sichtbar, aber außerhalb der Reichweite ist.‹
Nach zwei Wochen räumte die Polizei das Camp. Schaap war wieder im Foto-Einsatz und machte die Nacht durch, um ein Abschlussprojekt fertigzubekommen. ›Als ich den Anruf von Time erhielt, war ich aufgrund des Schlafmangels leicht im Delirium‹, schildert er. Es habe gedauert, bis er realisierte, dass es kein Traum war. •