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Zu neuen Ufern

Im holländischen Markermeer entsteht eines der größten Naturschutzgebiete Westeuropas: ein Archipel aus sieben Inseln, aus Seeschlamm und ganz ohne Deiche gebaut. Kritiker warnen bereits vor seinem Untergang.

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Fotografie:
Patrick Post
DATUM Ausgabe Mai 2024

Es hat etwas von einer Mondlandung. Die Fahnen im Boden. Die Baggerspuren, als wäre ein Mondfahrzeug hier kurz zuvor entlanggerollt. Die kurzen Kondensstreifen am Himmel – wie Raketen auf ihrem Weg ins All. Meine ersten Schritte auf Neuland,   Richtung Vogelbeobachtungsturm, der aus der Ferne aussieht wie eine gigantische Ameise, die sich auf Stelzenbeinen aus dem Sumpf aufbäumt. Beim Hinaufklettern umgibt mich ein Rauschen, ein kalter Luftzug streift mein Gesicht. Ich blicke hinaus: Direkt vor mir schlagen tausende Flügel zusammen. Tausende Vögel tanzen als schwarze Welle vor mir, als hätte man einen Geist aus der Flasche befreit. Im Hintergrund taucht die Sonne wie ein Feuerball im Markermeer unter. Das Archipel Marker Wadden, Planet Erde, jüngster Fleck der Niederlande, an diesem Tag ist die Hauptinsel sechs Jahre, vier Monate und drei Wochen alt. 

 Ich will die Person – den Kopf – hinter diesem Archipel treffen: Roel Posthoorn, Projektleiter bei Natuurmonumenten, der größten, politisch einflussreichsten Naturschutzorganisation der Niederlande. Dazu reise ich nach Lelystad, knapp fünf Meter unter dem Meeresspiegel gelegen: Flachbauten, endlos gerade Straßen, endlos lange Entwässerungsgräben, jeder Zentimeter hier wurde am Reißbrett geplant, das Auge lechzt nach Kurven, Kreisen – Inseln. Benannt wurde die Stadt nach Cornelis Lely, Hollands berühmtestem Wasserbauingenieur. Ohne Lely würden hier noch meterhohe Wogen schlagen. – Und ohne Lely zu verstehen, versteht man Posthoorn nicht.

Anfang des 20. Jahrhunderts machte Lely das scheinbar Unmögliche möglich: Nach einer gewaltigen Sturmflut legte er die Zuiderzee, einen Meeresarm der Nordsee, trocken. Vor dem Poldermuseum in Lelystad steht seine Statue, aus dem Kinosaal des Museums ertönt seine Stimme: ›Ich bin kein Träumer, ich bin Ingenieur.‹ Im Film verfolge ich Lelys Kampf mit dem Meer: Mitten durch die Nordsee ließ er den Abschlussdeich errichten, ein 32 Kilometer langes Bollwerk aus Granit. Der Deich trennte die einstige Zuiderzee von der Nordsee ab, er hielt das salzige Meereswasser zurück, nur noch Süßwasser des IJssel-Flusses strömte herein. Binnen weniger Jahre verwandelte Lely so den einst salzigen Meeresarm in einen Süßwasser-Binnensee – das IJsselmeer! Rund zwei Drittel davon ließ er anschließend trockenlegen, sein Plan: Fünf Polder – durch Entwässerung vom Menschen neu gewonnenes, eingedeichtes Land – sollten auf dem einstigen Meeresgrund entstehen, vier wurden davon realisiert, – eine Meisterleistung holländischer Ingenieurskunst. Für den letzten, fünften Polder hatte man bereits einen zweiten Deich, den Houtribdijk errichtet, der das IJsselmeer halbierte und so einen neuen See schuf. 2002 jedoch, bereits lange nach Lelys Tod, gab man diesen Plan auf. Statt den neu entstandenen, 700 Quadratkilometer großen See trockenzulegen, blieb er erhalten. Man nannte ihn: das Markermeer. 

Dann endlich treffe ich ihn, Roel Posthoorn, 64, Inselforscher, Inselschöpfer, schlank, Brille, Wollpullover, circa 1,90 Meter groß. Er hat Forstwirtschaft, Sozial- und Umweltwissenschaften studiert. Man sieht seinem Gesicht an, dass er viel liest. Posthoorn sitzt im Büro der Naturschutzorganisation  Natuurmonumenten, nur wenige hundert Meter vom Lely-Denkmal entfernt, als wolle er Lely herausfordern. Hinter ihm hängt eine große Skizze des Marker-Wadden-Archipels. Bereits mit 13, sagt Posthoorn, habe er Rachel Carsons ›Der stumme Frühling‹ gelesen. Carson prangert darin den Einsatz des Insektenvernichtungsmittels DDT an. ›Das Buch schlug bei mir ein‹, sagt er. ›Ich war schockiert, wie Menschen mit der Natur umgingen.‹ Seitdem verfolgt er ein Ziel: die Schäden rückgängig zu machen, die der Mensch in der Natur angerichtet hat. Posthoorn war bereits am Renaturierungsprojekt Tiengemeten beteiligt, auf der kleinen holländischen Flussinsel hat man die Deiche durchbrochen. Aktuell liegt sein Fokus auf: Lelys Zuiderzee-Projekt. 

Das Zuiderzee-Projekt, sagt Posthoorn, und er spricht mit leiser, leicht heiserer Stimme, habe der Gesellschaft viele Vorteile gebracht, aus ökologischer Sicht aber viele Nachteile. ›Meeresmündungen wie die Zuiderzee‹, sagt er, ›sind in ihrer Produktivität mit dem Tropischen Regenwald vergleichbar. Durch Ebbe und Flut werden konstant neue Nährstoffe ein- und ausgespült.‹ Flache Abschnitte seien bereits in den Jahrhunderten zuvor trockengelegt worden. Im Zuge des Zuiderzee-Projekts sei der gesamte Uferbereich mit großen Granitblöcken eingedeicht, Zu- und Abflüsse seien beseitigt worden, der See sei im Laufe der Jahre immer trüber geworden, der Wind wirble den weichen, matschigen Seegrund auf, immer weniger Licht sei ins Markermeer gedrungen. Die Anzahl an Fischen und Vögeln habe abgenommen, die Zebramuscheln, die das Wasser filterten und eine wichtige Nahrungsquelle für die Enten sind, seien im Schlamm erstickt. Die Tiefe des Markermeeres beträgt überall vier Meter. ›Der See-Boden‹, sagt Posthoorn, ›ist zwar nährstoffreich und nicht vergiftet, er interagiert aber nicht mit dem übrigen See.‹ Seit Jahren habe es unter Regierungsbeamten Diskussionen gegeben, wie man den Zustand des Markermeers verbessern könnte. Es gab Ideen, aus dem Seeschlamm Inseln zu bauen. Doch es fehlte an Geld und an einem konkreten Konzept. Als Mitarbeiter einer Naturschutzorganisation durfte er bei den Sitzungen zuhören, sagt Posthoorn: ›Als ich mich aber konkret einbringen wollte, wurde ich ausgelacht.‹ Nach Meinung der Beamten war das Markermeer Regierungsangelegenheit.

Posthoorn wandelte seinen Frust in Taten um: Er hatte vom ›Dream Fund‹ der Nationale Postcode Loterij gehört, der größten Wohltätigkeitslotterie der Niederlande. Damit werden besonders gewagte Projekte von Nichtregierungsorganisationen unterstützt. Zusammen mit seinen Kollegen arbeitete er ein Konzept für Marker Wadden aus, er reichte die 20 Seiten ein. Posthoorn zeigt auf die Skizze hinter sich: ›Ein Vogelparadies, das die Wasserqualität des Markermeers verbessern und Raum für Innovation schaffen sollte. Wo Menschen mit ihrem Herzen die Natur erleben können. – Inseln‹, sagt Posthoorn, ›sind Sehnsuchtsorte‹. Insgesamt 90 Millionen Euro sollte der Bau des Archipels kosten. Mit 15 Millionen Euro Startgeld hoffte Posthoorn die Regierung zu überzeugen, den restlichen Betrag beizusteuern. ›Ich bin ein Träumer‹, sagt er. Die Nacht vor der Projekt-Präsentation schlief er nicht. 

Das Konzept Marker Wadden gewann. ›15 Millionen Euro waren innerhalb einer Woche auf dem Konto von Natuurmonumenten‹, sagt Posthoorn. Von da an blieb ihm ein Jahr, die restlichen Millionen aufzutreiben. Er macht ein Geräusch, als würde er nach Luft schnappen, dann sagt er: ›Es gab kein Zurück mehr.‹ Der Traum von Marker Wadden verfolgte ihn Tag und Nacht.

Das erste Jahr war wie eine Achterbahnfahrt. ›Vielen fehlte die Fantasie, sich die Inseln überhaupt vorzustellen‹, sagt Posthoorn. Er organisierte Bootstouren auf dem See. Treffen für die Lelystäder. Die Nationalregierung aber weigerte sich, mit einer Naturschutzorganisation zu verhandeln. ›Viele warteten darauf, dass ich aufgebe.‹ Und er gab fast auf. Ende 2012 wendete sich das Blatt: In den Niederlanden wurde eine neue Regierung gewählt, das Budget für Marker Wadden: bewilligt! Hatte man Posthoorn anfangs noch ausgelacht, sollte er künftig mit Vertretern der National- und  Regionalregierung zusammenarbeiten – als Projektleiter von Marker Wadden. ›Man kann einen Kampf nicht gewinnen‹, sagt Posthoorn, ›wenn man nicht bereit ist zu verlieren.‹ 

Amsterdam, das Eye-Filmmuseum, wie ein weißes Raumschiff sticht das Gebäude am Ufer des IJsselmeeres hervor. Landschaftsarchitekt Rik de Visser hat es als Treffpunkt vorgeschlagen. Er sitzt an der Fensterwand, breite Schultern, blaues Hemd, weißes Haar und blickt hinab auf den Wasserarm. Früher war die IJ, wie sie auf Niederländisch heißt, ein Seitenarm vom südlichen Teil der einstigen Zuiderzee. ›Von Amsterdam‹, sagt de Visser, ›fuhren die Hochseeschiffe direkt in die Nordsee.‹ Dann klappt er seinen Laptop auf. ›Die erste Frage‹, sagt er, ›die man mir stellte, war: Wie viel Quadratmeter Sumpf und seichtes Wasser erschaffst du mit deinem Entwurf? Und nicht, wie sonst üblich: Wieviel wird es kosten? Das Budget war bereits festgelegt.‹ De Visser lacht, schaltet den Laptop ein. Gott hat die Welt geschaffen, die Niederländer die Niederlande, so sagt man: Auf dem Bildschirm erscheint ein Mosaik aus Inseln, durchzogen von Wasseradern: isolierte Tümpel. Sümpfe. Flache Ufer – sanfte Übergangszonen zwischen Land und Wasser. Keine einzige gerade Linie, kein einziger rechter Winkel, rund 22 Kilometer Umfang, 1.300 Hektar Fläche, der Entwurf für eines der größten Naturschutzprojekte Westeuropas: Marker Wadden. Für ihn wurde das Vista-Architektenbüro mit dem ›Dutch Design Award‹ ausgezeichnet. ›Statt gegen Wasser anzukämpfen, beziehen wir das Wasser mit ein‹, erklärt er. Statt harter Bollwerke aus Stein sollen Dünen und Sandstrände die Inseln vor Wellen und Stürmen schützen. ›Einige Bereiche werden bei Sturm überschwemmt, Sumpf und See sollen interagieren.‹ Nur dort, wo die Wellen am heftigsten auftreffen, wurde ein 1,4 Kilometer langer, zwei Meter hoher Steindamm errichtet. An drei Stellen hat der Damm die Höhe des Seepegels, damit Wasser einfließen kann. Ausschließlich auf der Hauptinsel sind Besucher erlaubt. Es gibt einen Hafen. Drei Vogelbeobachtungssitze sollen den Sumpf erlebbar machen, auf de Vissers Bildschirm taucht wieder der Turm auf, der beim Besuch auf Marker Wadden aus der Ferne wie eine gigantische Ameise aussah. ›Der Steltloper (Watvogel)‹, sagt er, ›das Wahrzeichen von Marker Wadden.‹ Der Vogel habe ihn zu diesem Design inspiriert, ein Bauer sähe in dem Entwurf etwas anderes als ein Ornithologe. Da spiele Umweltpsychologie mit rein. Es stürmt, der Regen peitscht uns ins Gesicht, als wir mit der Fähre die IJ überqueren. ›Marker Wadden‹, sagt de Visser, ›ist nur rund 40 Kilometer entfernt‹. Bei Sturm nehme die Wellenkraft zu. Wie wird es bei diesem Sturm wohl auf den Inseln aussehen? ›Die Form wird sich im Laufe der Zeit verändern, das ist Teil des Konzepts,‹ sagt de Visser. Mit ihrem Entwurf hätten sie einen Rahmen geschaffen, der sich durch natürliche Prozesse ­weiterentwickeln werde. ›Wir nennen dieses Konzept »Bauen mit der Natur«.‹ Irgendwann werde die Natur ganz übernehmen.

Wieder wird das Markermeer das Vorzeigeprojekt für holländische Bauingenieure. Ihr Auftraggeber ist diesmal jedoch eine Naturschutzorganisation. Mit einem Baggerschiff wird der Schlamm vom Grund des Markermeers abgesaugt. ›Nur für die Ringdämme mussten wir Sand herantransportieren‹, erklärt Thomas Vijverberg, 41, technischer Projektleiter von Marker Wadden und stellvertretender Direktor von Hydronamic, der Ingenieursabteilung des Wasserbau-Unternehmens Boskalis. ›Schlamm wird gewöhnlich als Abfallstoff angesehen, für uns aber ist es ein wertvoller Baustoff.‹ Sand sei auf der Welt generell rar und teuer, sagt Vijverberg. Schlamm fände man dagegen fast überall. ›Er ist preisgünstiger und nährstoffhaltiger, vorausgesetzt, es ist kein Klärschlamm.‹ Die Ringdämme wurden – je nach Habitat – mit einem Gemisch aus Wasser und Schlamm unterschiedlich hoch aufgefüllt. ›Schlamm hat eine Konsistenz wie Joghurt, das macht das Bauen schwer voraussagbar.‹ Gerät die Insel zu niedrig, wird sie zu oft überschwemmt, gerät sie zu hoch, kann wiederum kein Wasser eindringen. Den klimabedingten Anstieg des Wasserspiegels mussten sie nicht berücksichtigen. ›Der Wasserpegel des Markermeers‹, sagt Vijverberg, ›wird durch Schleusen im Deich reguliert‹. Zwei Jahre lang dürfe man den aufgespülten Schlamm nicht betreten, damit er verdichten und verhärten kann. Doch seitdem ist das Archipel bereits gesunken. Vijverberg reagiert gelassen: ›Wir haben das Absinken vorab miteinkalkuliert. Marker Wadden soll keine Hochhäuser stemmen, die Inseln wurden gebaut, um das Gewicht von Enten zu tragen.‹ 

Auf Youtube schaue ich mir die ehemalige Baustelle an, Toine Hejmans, Kolumnist bei der niederländischen Tageszeitung De Volkskrant, hat sie von seinem Segelboot aus gefilmt: Eine Plattform mit Kränen schwimmt auf dem Markermeer, Dieselabgase steigen auf. ›Das sieht wie ein riesiges Industriegebiet aus‹, sagt Hejmans im Video. ›Soll das gut für die Natur sein? Zeugt es nicht von Hochmut, dass der Mensch, der das Markermeer zerstört hat, nun glaubt, er könne es retten, indem er darauf Inseln baut?‹ – ›Rechtfertigt das Ziel solche Mittel?‹ frage ich mich.

Bart Schultz, 75, pensionierter Wasserbauingenieur, warnte bereits vor Baubeginn vor dem Projekt. Nur zögerlich stimmt er einem Treffen in Lelystad zu. Es ist ein feuchtkalter Vormittag, Schultz – Schlips, Seitenscheitel, Segelschuhe – stellt sein Rad vor dem ›Café Lely‹ ab. Er arbeitete an der Trockenlegung und Entwicklung des Flevoland-Polders mit – dem Polder, auf dem heute die Stadt Lelystad steht, und war für das Wassermanagement im fünften Polder verantwortlich. Er lehrte am Institute for Water Education in Delft und beriet u.a. die Regierungen von Indien, Sudan und Indonesien. ›Als ich zum ersten Mal von Marker Wadden hörte‹, sagt er, ›dachte ich, das ist völlig verrückt. Ohne ständige Instandhaltung werden die Inseln untergehen.‹ Ein Millionengrab. Im Café malt er auf eine Serviette den Querschnitt des Sees: ›Der Seeboden‹, sagt er, ›besteht aus einer fünf Meter dicken Schlammschicht, wenn du Schlamm auf Schlamm baust, sinkt es, man muss nicht studiert haben, um das zu verstehen. Sie unterschätzen das Terrain.‹ Auf dem Markermeer, sagt Schultz, gäbe es schwere Stürme aus West-Nordwest. Ein Teil der Sandbänke, die als Uferschutz am Houtribdijk ­aufgeschüttet wurden, sei bereits zur anderen Seite gewandert. Die Wellen würden die Inseln erodieren. ›Das Markermeer ist kein Wattenmeer, sondern ein stehendes Gewässer. Was dort einmal erodiert, wird nicht wieder angespült,‹ sagt Schultz und beißt in einen Keks. ›Wenn ein Konzept von Beginn an falsch ist, kannst du machen, was du willst, du kannst es nicht mehr korrigieren.‹ Die Gesellschaft kenne die Gefahr von Sturmfluten nicht mehr. Umweltgruppen und städtische Gruppen hätten beim Marker-Wadden-Projekt Druck auf die Politik ausgeübt. ›Ich bin eines der ältesten Mitglieder von Natuurmonumenten‹, sagt er. Ein Bauprojekt müsse man aber von allen Seiten beleuchten. Wenn es politisiert werde, schalte sich der Verstand häufig aus. ›Warum hat man die Natur nicht sich selbst überlassen? Über vierzig Jahre lang hat man das Markermeer nicht angerührt. Der See war nicht tot‹, sagt Schultz. ›Stinte lebten im Schlamm.‹ Mikro-Organismen, die das menschliche Auge nicht sehen kann. Schultz hat bisher keinen Fuß auf Marker Wadden gesetzt. ›Ich bin pensioniert, warum soll ich Dinge tun, die mir nicht gefallen? Das ist nicht gut fürs Herz.‹ 

Auf Marker Wadden beginnt ein neuer Tag. Roel Posthoorn und Ökologe Mennobart van Eeerden – schwarze Mütze, Regenparka, das Fernglas um den Hals – führen über Holzstege durch den Sumpf. Große Schilfgürtel säumen das Ufer. Vogelkot klebt auf den Planken. Gelbe Schilder warnen vorm Ertrinken. Über zehn Jahre lang forschte van Eerden, Experte für Wasservögel und Feuchtbiotope, am Peipus-See, auf estnischer und auf russischer Seite. Peipus-See und Markermeer hätten viele Gemeinsamkeiten, sagt er, es gäbe jedoch einen gravierenden Unterschied: Am Markermeer gab es keinen einzigen Hektar natürliches Ufer mehr. Erst durch den Bau der Inseln seien wieder sanfte Übergänge zwischen Wasser und Land entstanden. ›Sie sind der Hauptschlüssel zu mehr Artenvielfalt‹, sagt van Eerden und zeigt auf das Moor-Greiskraut, Tephroseris palustris, im Mai blüht es auf Marker Wadden wie ein gelber Teppich. In der Wurzelrinde speichert es Luft, bei Überflutung kann es so den Sauerstoffmangel im Boden ausgleichen. ›Süßwassersümpfe sind heute sehr selten.‹ Ein Großteil des Schilfs auf der Insel sei durch Wasservögel, Fische, Wind und Wasser verbreitet worden. Van Eerden hält an. ›Hörst du das?‹ fragt er. ›Pschin pschin. Wie ein kleiner Stein auf dünnem Eis? Die Bartmeise. Viele Besucher kommen nur ihretwegen hierher. Sie ist Halbvegetarierin, im Sommer frisst sie Insekten, im Winter die Samen vom Schilf.‹ Inzwischen brüten rund 50 Vogelarten auf den Marker Wadden, darunter Säbelschnäbler, Regenpfeifer und seltene Arten wie Eisente, Stelzenläufer und Zwergmöwe. Die Lachseeschwalbe, die seit der Eindeichung aus der Region verschwunden war, sei auch wieder da. ›An Säugetieren haben wir bisher Fledermäuse und einen Maulwurf‹, sagt Posthoorn. Die Entfernung zum Festland halte Füchse und andere Feinde der Vögel fern. 

Im Vogelbeobachtungshaus ›Tauchente‹ blicke ich durch eine Glasscheibe direkt in den See, als wäre ich selbst ­hinabgetaucht. ›Das ist unsere Kapelle für Vogelbeobachter‹, sagt Posthoorn. ›Das Haus kann überfluten. Es hat eine Pumpe, wie ein Indoor-Swimmingpool.‹ Davor streuen sie Salz. ›Damit die Pionierpflanzen nicht verdrängt werden. Wir versuchen die Vogelarten auf Marker Wadden zu halten, die die Pionierpflanzen zum Überleben brauchen‹, erklärt van Eerden und fügt hinzu: ›Hätten holländische Ingenieure hier nicht einst in die Natur eingegriffen, müssten wir heute nicht zu solchen Maßnahmen greifen. Der Mensch kann zerstören‹, sagt er, ›er kann aber auch frühere Zustände wiederherstellen.‹ 

Der äußerste Nordwesten der Insel, das Markermeer, wird seinem Namen gerecht: Wind und Wellen haben die aufgeschütteten Dünen zu senkrechten Klippen abgenagt, der See rauscht und bewegt sich wie ein Meer. ›Die Brandung ist höher als ursprünglich kalkuliert‹, sagt Posthoorn. Zwei Mal mussten sie die Strände bereits mit Sand neu auffüllen. ›Wir müssen lernen, nicht sofort, wenn etwas Unerwartetes passiert, in die natürlichen Prozesse einzugreifen. Die natürliche Dynamik ist Teil dieses Lebensraums.‹ Die erodierten Klippen hätten jetzt eine neue Funktion: In den Höhlen würden Uferschwalben nisten. In den Niederlanden gäbe es durch die vielen Deiche kaum Forschung zu natürlichen Ufern an Süßwasserseen. ›Auf Marker Wadden‹, sagt van Eerden, ›wollen wir dazulernen‹. ›Natuurmonumenten hat über 900.000 Mitglieder, die uns unterstützen‹, sagt Posthoorn. ›Die Inseln werden nicht untergehen.‹

Aus der Ferne tauchen die Ringdeiche der beiden jüngsten Inseln auf, sie sind noch nicht fertiggestellt und bar jeder Vegetation. ›Anfangs sah es hier auf der Hauptinsel genauso aus. Die Wasserflöhe waren riesig. Es gab noch keine Fische, die sie fraßen‹, sagt Posthoorn.  Ich staune: Welcher Mensch kann schon behaupten, live bei der Entstehung des Lebens dabei gewesen zu sein? Im Oktober 2023 zog das Wasserbauunternehmen Boskalis aus dem Markermeer ab.  Er müsse sich um neue Sponsoren kümmern, sagt Posthoorn. Sie wollen Marker Wadden um mindestens das Dreifache vergrößern, sagt van Eerden, die Deiche öffnen und naturverträglicher machen. Er malt mit einem Stock Skizzen in den Schlamm. ›Lelys Zuiderzee-Projekt‹, sagt er, ›ist noch nicht in Stein gemeißelt‹. 

Für den nächsten Tag ist wieder Sturm vorausgesagt. ›Die Bartmeisen werden sich über neue Nährstoffe und Samen freuen‹, sagt van Eerden. Manchmal gelangten sogar Fische vom See in den Sumpf. Posthoorn stellt sich ans Ufer und breitet die Arme aus. Dann ruft er hinaus auf den See: ›Naturkräfte, seid willkommen!‹ •

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