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Zur Notwendigkeit der Kränkung

Macht berauscht. Doch erst ihr Verlust eröffnet die Chance auf Selbsterkenntnis.

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Illustration :
Nele Fierdag
DATUM Ausgabe Oktober 2020

Kennt mich hier jemand? Dies ist nicht Lear! Geht Lear so? Spricht er so? Wo sind seine Augen? Entweder ist sein Hirn geschwächt, sein Verstand in Todesschlaf versunken – Ha! wach ich? – Es ist nicht so! Wer ist hier, der mir sagen kann, wer ich bin? Lears Schatten? ‹ 1 

Angesichts des folgenschweren Irrtums, sein Reich zwischen seinen drei Töchtern aufteilen zu wollen, dämmern dem alten König mögliche Konsequenzen seiner Handlungen. Abgesehen davon, dass ihn die Enttäuschungen, die ihm seine Töchter bereiten, verrückt machen und das Reich ins Chaos stürzen werden, fühlt er in dieser Szene noch ganz unbestimmt, was es für ihn persönlich bedeuten wird, wenn er Kö­­nigtum und Macht trennt. Lears aufkeimender Wahnsinn lässt ihn klarer sehen. Er spürt eine Ohnmacht in sich aufsteigen, wähnt sich rat- und hilflos. Er ahnt, was es heißen wird, aufs nackte Menschsein zurückgeworfen zu werden. Später erkennt er auch die Absurdität des menschlichen Strebens nach Macht, angesichts der Begrenztheit des eigenen Daseins.

In der Zeit der römischen Republik und des späteren Imperiums unterschied man zwei Machtbegriffe, Potestas und Auctoritas. Beide können hilfreich sein, zutiefst menschliche Phänomene, die im Zuge eines Machtverlusts erlebt und beobachtet werden, zu be­­schreiben. Potestas stand für den Begriff Macht, so­­fern sie dem Träger durch ein öffentliches Amt verliehen wurde. Synonym war der Begriff auch für eine Vollmacht oder eine Handlungsmöglichkeit ge­­bräuchlich. Die Formulierung › in potestatem se dedere ‹ zeigte, dass sich ein besiegtes Volk der Macht Roms unterwarf. Potestas wurde also zur Beschreibung von Beherrschungs- und auch Entscheidungsmöglichkeiten verwendet. Im heute gebräuchlichen Begriff des Potentaten, der im Gegensatz zum Regenten negativ konnotiert ist, ist dieser alte Machtbegriff noch präsent.

Die als Patria potestas bekannte väterliche Macht war im alten Rom die unumschränkte Herrschaft des Mannes über die Familienmitglieder. Heute denken wir dabei an die pervertierte Form eines kulturell geprägten familiären Ehrbegriffs, wenn ein solcher Machtanspruch unmittelbar mit dem Selbstwert des Mannes verknüpft wird.

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