Zwei Leben in Würde

Marianne Karner und Nikola Göttling leben beide mit Multipler Sklerose. Doch beim Thema Assistierter Suizid könnten ihre Ansichten unterschiedlicher nicht sein. Ein Doppelporträt.

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Fotografie:
Miriam Steiner
DATUM Ausgabe Oktober 2021

Nikola Göttling und Marianne Karner haben vieles gemeinsam : Beide sind 1970 in Wien geboren, Göttling am Ende des einen Winters und Karner zu Beginn des nächsten. Beide begannen Ende der 1980er an der Uni Wien ein Studium, welches ihre Eltern für vernünftig erachteten, obwohl sie selbst für ein anderes Fach größere Leidenschaft hegten. Vor allem aber sind beide an Multipler Sklerose erkrankt und benützen deswegen einen Rollstuhl.

Vergangenes Jahr verfolgten die zwei Frauen, die einander nicht persönlich kennen, mit großer Spannung dasselbe Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof. Auf Antrag von vier Personen sollten die Höchstrichter Österreichs Verbot der Beihilfe zum Suizid überprüfen. Am 11. Dezember 2020 verkündete der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis : Tötung auf Verlangen bleibt weiterhin strafbar, doch der Tatbestand ›Mitwirkung am Selbstmord‹ widerspricht dem in der Verfassung verankerten Recht auf Selbstbestimmung. § 78 StGB, › Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen ‹, tritt deshalb in dieser Form mit Anfang kommenden Jahres außer Kraft.

Nikola Göttling hat aktiv zu diesem Erkenntnis beigetragen. Monate zuvor, als sie zum ersten Mal von dem Vorhaben hörte, hatte sie den zuständigen Anwalt kontaktiert und sich den Antragstellerinnen und Antragstellern angeschlossen, später hielt sie im Gerichtssaal ein Plädoyer für die Liberalisierung des Assistierten Suizids. Sie erzählte von ihren Schmerzen und der Zukunft, welche die Krankheit ihr in Aussicht stellte. In absehbarer Zeit werde sie vollständig pflegebedürftig sein, sagt Göttling, dann werde sie jemand füttern und wickeln müssen, und so werde es dann womöglich noch 30 Jahre weitergehen. ›Würden Sie das für sich wollen?‹ habe sie die Richter gefragt.

Für Nikola Göttling war der 11. Dezember 2020 ein Tag der Freude. Marianne Karner hingegen war bestürzt. Wobei, befürchtet hatte sie eine solche Entwicklung bereits. Trotzdem sieht sie in dem Erkenntnis des Verfassungs­gerichtshofes eine fatale Fehlentscheidung. ›Fällt die erste Schranke, dann fallen mit der Zeit sukzessive alle weiteren‹, sagt sie seitdem jedem, der es hören möchte und auch allen anderen – sei es auf Twitter, auf ihrem Blog oder auf Veranstaltungen. Als Karner ein dreiviertel Jahr später zum Gespräch im Wiener Café Landtmann erscheint, trägt sie ein schwarzes T-Shirt mit der knallpinken Aufschrift NOT DEAD YET. Als ›O‹ fungiert ein Rollstuhlsymbol. ›Es beginnt mit einer streng reglementierten Ausnahme für schwer kranke Menschen, doch mit der Zeit wird das gelockert, und irgendwann wird diese neue Art zu sterben dann völlig normal. Das hat man in anderen Ländern gesehen‹, äußert Karner ihre Bedenken. Marianne Karner hat Evangelische Fachtheologie studiert, obwohl Tibetologie ihre Interessen wohl besser getroffen hätte. ›Da hätten aber meine Eltern revoltiert‹, erzählt sie. Karners Jugendidol war der Bergsteiger Reinhold Messner, der in den 1970ern den Mount Everest im Himalayagebirge bestieg. Bei Karner waren es eben Rax, Schneeberg und Gesäuse. 1989 bekam dann der 14. Dalai Lama den Friedensnobelpreis überreicht, und mehr brauchte es nicht, um die Faszination für Tibet in der jungen Marianne Karner zu festigen.

Nach dem Studium der evangelischen Theologie konvertierte sie zum Buddhismus. Heute bezeichnet sie ihr Theologiestudium scherzhaft als ›Jugendsünde‹ und sich selbst als ›agnostische Buddhistin‹. Auch im Hinblick auf den Assistierten Suizid möchte sie die Religion außen vor lassen. ›Ich habe mit einer religiösen Begründung absolut nichts am Hut‹, sagt sie.

Karner äußert sich zu dem Thema, weil sie sich seit vielen Jahren für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzt. Ihr Engagement begann lange, bevor sie die Diagnose MS erhielt : Während ihres Studiums verbrachte Karner zwei Semester in Deutschland an der Kirchlichen Hochschule Bethel. In einer dortigen Einrichtung für Menschen mit Behinderung wurde ihr die Bedeutung von Inklusion und Behindertenrechten erstmals bewusst – von beidem sei damals dort wie in vielen anderen Einrichtungen wenig zu erkennen gewesen, sagt Karner : ›Ich habe die Situation dieser Menschen damals als sehr bedrückend erlebt, hatte das Gefühl, dass sie sehr abgekapselt leben, wie in einem Ghetto.‹

1999 begann sie, für eine Wiener Behindertenorganisation zu arbeiten. Kurz darauf diagnostizierte ein Arzt bei ihr primär progrediente Multiple Sklerose. Das bedeutet, dass der Krankheitsverlauf von Beginn an fortschreitet und die Symptome – im Gegensatz zur schubhaften MS – nicht mehr abklingen. Bis Marianne Karner den Rollstuhl benötigte, vergingen keine drei Jahre. Als Endstation empfand sie diesen nicht : ›Der Rollstuhl verhalf mir ja wieder zu mehr Mobilität und Lebensqualität‹, sagt sie. Ständige Müdigkeit, fehlende Kraft, Konzentrationsprobleme und chronische Schmerzen belasten sie viel mehr.

Nach ehrenamtlichen Stationen bei dem Verein ›BIZEPS‹ sowie der Wiener Multiple Sklerose Gesellschaft bezeichnet sich Karner heute als ›selbstständig tätige Ehrenamtliche, die unter anderem Behindertenpolitik betreibt‹. Auch etwa Vorträge, Podiumsdiskussionen und Sensibilisierungsworkshops für Schulen gehören zu diesem selbstständigen Ehrenamt dazu. Nach dem Interview will sie an diesem Spätsommertag noch zu einem Freiluftfest im Wiener Prater, ›ein bisschen networken‹, wie sie sagt : ›Die Kreise, in denen ich verkehre, sind das Gegenteil von konservativ, das sind meist politisch eher links orientierte, aufgeschlossene, kritische Leute. Dort ist es sehr exotisch, gegen Assistierten Suizid zu sein – ich vertrete dort also eine Außenseitermeinung.‹ Und gerade deshalb hat sie wohl auch das Shirt mit der pinken Aufschrift gewählt.

An einem anderen Tag, in einem anderen Bezirk Wiens läutet in einer Erdgeschoßwohnung ein Telefon, und Nikola Göttling hebt ab. ›Hab schon wieder den Schlüssel vergessen‹, hört man ihre Tochter am anderen Ende der Leitung sagen. Normalerweise braucht Göttling ein paar Minuten, um sich in den Rollstuhl zu setzen und auf den Gang zum Türöffner zu gelangen. Doch heute sitzt sie zum Zeitpunkt des Anrufs ihrer Tochter schon in der Küche, um mit DATUM über Leben und Tod zu sprechen.

Die 17-jährige Tochter scheint der Besuch nicht zu irritieren. Seit dem Antrag an den Verfassungsgerichtshof waren immer wieder Journalistinnen und Kamerateams hier. Göttling ist jetzt eine Frau, die man aus dem Fernsehen kennt, sie bezeichnet sich selbst nicht ohne Ironie als eine Art ›Posterchild der Sterbehilfe‹. Ihre Krankheit hat Göttling zur Aktivistin gemacht. Ginge es nach ihr, sollte der Assistierte Suizid nicht nur passiv, sondern auch aktiv legal sein – und zwar am besten für alle Menschen, die sterben wollen. Und damit meint sie auch sich selbst. ›Ganz ehrlich, ich würde morgen gehen‹, sagt sie.

Die 51-Jährige ist an einer sekundär progredienten Verlaufsform der MS erkrankt. Im Gegensatz zu Marianne Karners Fall, begann Göttlings Erkrankung einst mit Krankheitsschüben, die Symptome klangen damals nach einiger Zeit jeweils wieder ab. Seit 2006 aber, in diesem zweiten Krankheitsstadium, nehmen die Einschränkungen schleichend, aber stetig zu. Für Göttling begann dies mit einem, mittlerweile oft zitierten, verlorenen Schuh. ›Das war gut drei Jahre, nachdem man bei mir die schubförmige MS diagnostiziert hatte. Ich war im Urlaub und ging mit meiner damals zweijährigen Tochter Frühstück holen, da fiel mir ständig der Schlapfen vom Fuß‹, erzählt sie. ›Scheiße, dachte ich mir, das ist schon wieder irgend so ein MS-Blödsinn.‹ In den darauffolgenden zehn Jahren wechselte sie vom Gehstock zum Rollmobil und 2016 schließlich zum Rollstuhl. ›Man hofft immer, dass es besser wird, aber es wird nur schlimmer und schlimmer‹, sagt sie.

Auf Opioide greift Nikola Göttling trotz jahrelanger, starker neuropathischer Schmerzen nur in sehr geringer Dosis zurück. Denn bei einer höheren Dosis würden für sie früher oder später die negativen Auswirkungen überwiegen. ›Das würde mein Nervensystem noch mehr zusammenhauen‹, sagt Göttling. ›Dann könnte ich mir nicht einmal mehr selbst die Windeln wechseln.‹ An den Vormittagen geht es Göttling deutlich besser als an den Nachmittagen, doch Schmerzen hat sie immer. ›Mein Leben hat null Qualität, in meinem Alltag gibt es keine einzige gemütliche Sekunde. Außer, wenn ich schlafe.‹

Doch sich selbst das Leben zu nehmen, ist Göttling zu unsicher. Bevor sie wusste, dass Assistierter Suizid in manchen Ländern legal ist, habe sie viel darüber nachgedacht, verschiedene Methoden des Suizids für sich selbst durch­gedacht. ›Aber man weiß nie, ob es wirklich funktionieren wird, und im schlimmsten Fall ist man am Ende erst recht ein Pflegefall‹, sagt sie. Und ehe Nikola Göttling geht, möchte sie noch ein paar Dinge abgeschlossen sehen. Das betrifft zum einen die nun anstehenden gesetzlichen Änderungen in Sachen Assistierter Suizid. Vor dem Antrag an den Verfassungsgerichtshof trat sie der ›Österreichischen Gesellschaft für ein Humanes Lebensende‹, kurz ÖGHL, bei. Dort verfasste sie in den vergangenen Monaten eine Verfügung für Assistierten Suizid, welche nun noch juristisch zu begutachten ist.

›Das war so »mein Baby« im Verein ÖGHL, und deshalb will ich jetzt auch noch abwarten, wie es gesetzlich weitergeht‹, sagt sie. Vor allem aber möchte Nikola Göttling noch sichergehen, dass ihre beiden Kinder ›mehr oder weniger »fertig« sind, dass etwa meine Tochter die Schule abschließt und in dieser Hinsicht alles gut ist. Dass alles rund läuft, sozusagen‹. Die 17-Jährige macht nächstes Jahr Matura.

Göttlings Sohn ist acht Jahre älter und lebt seit Juli in Norwegen. Er ist dort zu seinem langjährigen Partner gezogen, den er online kennengelernt hat. Als er vor 25 Jahren zur Welt kam, hatte Nikola Göttling gerade ihr Psychologie-Studium abgeschlossen, die Diplomprüfung hatte sie hochschwanger absolviert. Eigentlich hätte Göttling ja Archäologie studieren wollen, irgendwo am Boden die Vergangenheit freipinseln und entdecken, wie es früher einmal war. Doch die Eltern legten ein Veto ein, und somit wurde es das den Eltern zuliebe begonnene und bald abgebrochene Jus-Studium – und eben Psychologie.

Letzteres ermöglichte auch irgendwie die Erforschung der Vergangenheit, außerdem hatte sich Göttlings beste Freundin aus der Schulzeit ebenso zu diesem Studium entschlossen. Noch heute sind die beiden Frauen beste Freundinnen – obwohl sich die andere Frau später in Göttlings Ex-Freund und Vater ihres Sohnes verliebte und mit diesem bis heute zusammenlebt : ›Das war eigentlich super für alle, wir waren wie eine große Familie, fuhren gemeinsam auf Urlaub und feierten zusammen Weihnachten‹, sagt sie. Die Freundin sei bis heute wie eine zweite Mutter für ihre beiden Kinder.

Göttling wirkt gefasst, wenn sie über die Zeit spricht, in der ihre Tochter und ihr Sohn keine Mutter mehr haben werden. Doch wie gehen die Kinder selbst mit diesem Thema um ? ›Mein Sohn ist ein sehr nüchterner Typ und der Ansicht, dass das jeder für sich entscheiden soll‹, sagt Göttling, und es klingt wie die Antwort auf eine Frage, die ihr schon oft gestellt wurde. Dann kommt Göttling auf ihre Tochter zu sprechen, die sich jetzt nebenan in ihr Zimmer zurückgezogen hat. Vor fünf Jahren hätten sie gemeinsam einen Mann im Fernsehen sprechen sehen, der ebenfalls an MS erkrankt war, weder Beine noch Arme bewegen konnte und seit Jahren nicht mehr aus dem Bett kam. Ein solches Leben habe die Tochter damals schon als unwürdig empfunden, sagt Göttling. ›Wenn es bei dir auch mal so weit ist, dann kannst du wirklich sterben gehen‹, habe die damals Zwölfjährige zu ihrer Mutter gesagt. Heute beschäftigt sich die Schülerin intensiv mit dem Thema – an der Schule arbeitet sie derzeit an einer vorwissenschaftlichen Arbeit über den Assistierten Suizid.

Marianne Karner versteht die Verzweiflung, welche MS mit sich bringen kann. Trotzdem wirkt sie viel zu neugierig, um frühzeitig sterben zu wollen. ›Damit stiehlt man sich ja eine Zukunft, die man noch gar nicht kennt‹, sagt sie und spricht auch von der Hoffnung, die medizinischer Fortschritt mit sich bringen kann. Karner schöpft auch Kraft aus der Natur, erst kürzlich hat sie Freunde in Tirol besucht – und mit ihnen einen Ausflug in die Berge unternommen. Besonders angetan habe es ihr der Herbst, sagt Karner : ›Da schwingt zwar schon ein bisschen mit, dass der Winter kommt, aber ich liebe einfach diese bunte Jahreszeit und ihre Verfärbungen. Das kann man natürlich auch umlegen auf meinen Standpunkt beim Thema Assistierter Suizid.‹

Dass einen die Erlebnisse aus der Vergangenheit stark prägen, sei eine ihrer größten Erkenntnisse, sagt die 50-Jährige und holt weit aus. ›Mein Vater etwa, der wurde als Jahrgang 1933 stark vom Krieg und der Nachkriegszeit geprägt. Der würde sich selbst selten etwas Gutes tun, ist mit dem Anspruch an sich selbst aufgewachsen, gesund und nützlich sein zu müssen‹, sagt Karner. Die heutige Gesellschaft werde durch solche Erfahrungen durch ›transgenerative Prozesse nach wie vor stark geprägt‹. Die Nützlichkeitsdebatten von damals würden uns heute wieder sehr stark begegnen. Und wenn eine Person dieser Nützlichkeit in irgendeiner Form nicht mehr entspreche und durch beispielsweise Pflege auch Kosten für die Gesellschaft verursache, ›na dann kann diese sich natürlich gedrängt fühlen, eine womöglich neue Option des Assistierten Suizids in Anspruch zu nehmen.‹ Dieser Druck könne sowohl aus der Gesellschaft als auch aus dem unmittelbaren persön­lichen Umfeld kommen, sagt Karner.

Die Debatte rund um eine Liberalisierung des Assistierten Suizids trifft Karner zufolge daher insbesondere › behinderte, chronisch kranke und hochbetagte Menschen sehr negativ, obwohl es die ja eigentlich gar nicht per se betreffen sollte ‹. Sie befürchtet, dass mit einer Lockerung der gesetzlichen Reglementierung auch eine sinkende Bereitschaft, öffentliche Gelder in zum Beispiel Pflege oder Persönliche Assistenz fließen zu lassen, einhergeht. › Es gäbe dann ja eh eine andere Option, die noch dazu wirtschaftlich lohnend ist ‹, sagt Karner.

Sie wünscht sich stattdessen mehr Inklusion in der Gesellschaft, aber auch bessere Aufklärung darüber, was Palliativmedizin ist und kann. Darüber hinaus fordert sie mehr Alternativen für Menschen mit Behinder­ung. › Und damit meine ich nicht, dass man die Wahl zwischen Pflegeheim und Assistiertem Suizid hat. Ich spreche davon, frei wählen zu können, mit wem man beisammenwohnt, wo man arbeitet oder was man in der Freizeit tut. ‹ Die Wahl zu haben, das macht für Marianne Karner ein selbstbestimmtes Leben in Würde aus.

Die Würde ist wie die Selbstbestimmung ein Begriff, den in der Debatte rund um den Assistierten Suizid beide Seiten nutzen. Während Marianne Karner das würdevolle, selbstbestimmte Leben vieler durch die Liberalisierung des Assistierten Suizids bedroht sieht, betrachtet Nikola Göttling diese als Voraussetzung dafür.

Göttling ist überzeugt, dass es ihr eigenes Leben sogar verlängern würde : ›Sterbehilfe ist zum Beispiel in der Schweiz legal, bloß die Reise dorthin kann ich nur bis zu einem gewissen Gesundheitsgrad selbst bewerkstelligen. Nach dem alten, nun auslaufenden Gesetz wäre es für andere strafbar, mir bei der Reise Hilfe zu leisten. Somit müsste ich mich früher auf den Weg machen, solange ich es eben noch allein kann.‹

›Das Überleben unserer Gesellschaft wird nicht nur davon abhängen, welche wissenschaftlichen, technologischen oder wirtschaftlichen Fortschritte wir machen, sondern davon, auf welche Kompromisse wir uns einigen ‹, sagt Marianne Karner irgendwann im Laufe des Gesprächs. Doch gerade beim Assistierten Suizid könne sie sich nicht vorstellen, wie ein solcher Kompromiss aussehen würde. Die Gefahren des Missbrauchs und des › Slippery Slope ‹ seien schlichtweg zu groß.

Ein Treffen mit Nikola Göttling lehnt Marianne Karner nach längerer Überlegung ab. Zu sehr sieht sie in Göttling die Vertreterin der ÖGHL und damit einer ganzen Lobby, die sie nicht sonderlich schätzt. Als › selbstständig Ehrenamtliche ‹, als eine Einzelperson mit › Außenseitermeinung ‹ möchte sie nicht jemandem gegenüberstehen, der eine ganze Organisation im Rücken hat. Außerdem würde dies aktuell ihre Kräfte übersteigen. Nikola Göttling wäre zu einem Treffen bereit gewesen.

Um eine gesetzliche Neuregelung des Assistierten Suizids vorzubereiten, hatte das österreichische Justizministerium im Frühjahr ein Dialogforum für Sterbehilfe eingerichtet. Dessen Schlussbericht liegt seit Ende Juni vor, enthält aber dezidiert keine Empfehlungen für eine Neuregelung. Wird der Gesetzgeber bis Ende des Jahres nicht aktiv, so ist die Beihilfe zu Assistiertem Suizid ab 1. Jänner 2022 grundsätzlich straffrei, vorausgesetzt, die betreffende Person ist einsichtsfähig und handelt aus freien Stücken. Wie nun die Gesetzeslage tatsächlich neu geregelt wird, darauf sind sowohl Marianne Karner als auch Nikola Göttling sehr gespannt. Karner hätte am liebsten weiterhin das alte Gesetz, Göttling am liebsten ein sehr liberales – oder aber gar keines. •