2015: Grenzland

Tausende Flüchtlinge kommen täglich ins Land, tausende verlassen es wieder. An den Grenzen sehnen sich die einen nach Zäunen, die anderen nach mehr Offenheit.

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Fotografie:
Ursula Röck
DATUM Ausgabe Juli/August 2024

Am Eingang

Wann die Tragödie ihren Anfang nahm, vermag niemand mehr zu sagen. Zu viele Menschen und Mächte haben an ihr geschrieben, zu viele schreiben noch daran. Kaum glaubt einer, er sehe das nächste Kapitel voraus, nimmt sie eine unerwartete Wendung. Das Ende bleibt ungewiss.

Es war ein Spätsommertag, als die Tragödie nach Nickelsdorf kam. Als das Chaos ausbrach in der kleinen Gemeinde im nördlichen Burgenland, wo sich auf den Feldern Windräder drehen und das Land eben ist. In die Geschichtsbücher wird Nickelsdorf eingehen als jener Ort, an dem im Jahr 2015 zehntausende Menschen, die auf der Flucht waren, über die Grenze nach Österreich kamen.

Jetzt, fünf Wochen später, ist es zum Alltag geworden. Die Menschenreihen zwischen den stählernen Absperrzäunen, die Frauen und Männer, die einen Fuß vor den anderen setzen, schleppend, monoton, an deren Händen schlaftrunkene Kinder taumeln. Die stoischen Blicke, die müden Augen, Mütter, die Babys an ihre Brüste drücken, die auf dem Boden sitzen oder auf den Randsteinen, die Menschen, die im Gras vor den Zelten liegen, manche regungslos wie Puppen. Es ist eine Wiederholung von gleichen Abläufen und gleichen Handgriffen, seit Stunden stehen sie hier, die Soldaten und Polizisten, die Sanitäter und Helfer. Seit Tagen. Seit Wochen. Und sie sind sich nicht einig darüber, ob eine Tragödie, die alltäglich geworden ist, irgendwann weniger tragisch wird.

Hinter der Geschichte

Dieser Auftrag war für mich so etwas wie eine Gratwanderung. Als 2015 zehntausende Menschen über die ungarische Grenze zu uns kamen, herrschte nicht nur unter Politikern und Polizisten Ausnahmezustand, sondern auch in den Redaktionen. Wie sollten wir journalistisch damit umgehen? In meinem konkreten Fall: Was kann ich zeigen und was nicht?

Grundsätzlich habe ich versucht, so weit wie möglich in die Menschenmassen reinzukommen und dann als Teil davon zu fotografieren. Wenn mir jemand zu verstehen gab, dass er oder sie das nicht möchte, habe ich die Fotos in meinem Archiv gelassen. Die harte Wahrheit ist aber: Wer von den Menschen dort hätte uns klagen sollen? Ich habe zum Beispiel eine schlafende Mutter mit ihrem Kind fotografiert. Gehört sich das? Darüber kann man streiten. Damals war es, was vor meinen Augen passiert ist. Ich habe nichts inszeniert, sondern einfach die Realität abgelichtet. Wir brauchen diese Fotos, um unsere Geschichten zu erzählen. Sowas gehört gesehen. Als alle sagten, dass nur junge Männer über die Grenze kommen, konnte ich zeigen, dass mir vor allem Frauen und Kinder begegnet sind. Ohne solche Bilder glaubt einem das keiner. Ich würde die Fotos deshalb wieder machen, wahrscheinlich sogar noch näher an den Menschen dran.

Heute bin ich nach wie vor Fotografin, und ich muss sagen, dass ich nicht nur gern mehr echte Reportagen in Magazinen sehen möchte, sondern auch, dass ich sie gerne machen würde.

Ursula Röck

Der Himmel über dem Grenzgelände in Nickelsdorf ist wolkenverhangen. Fahles Herbstlicht fällt auf das weitläufige Feld aus Beton. Unter dem Gedröhne der Lautsprecher versinken die eigenen Worte, in einer Dauerschleife erklärt die arabische Tonbandstimme den Ablauf. Aus der Ferne wirkt es wie eine Fabrik. Absperrbänder und Zäune trennen die Abteilungen. Links die Rettungsstation, daneben Kleider- und Essensvergabe. In den Gängen über den Platz schnüren die Milizen Menschen zu Menschenpaketen, staffeln sie, lotsen sie zu den Taxis auf der einen Seite oder zu den Bussen auf der anderen. Polizisten zählen die Pakete und schreiben Zahlen auf ihre Listen, bevor sie die Menschenware zur Auslieferung in die Fahrzeuge schlichten. 7.200 Flüchtlinge werden es am Ende des Tages sein. Die meisten von ihnen kommen auch diesmal nicht, um zu bleiben. Auch sie wollen weiter nach Deutschland. Weil es da bessere Chancen für sie gebe, sagen sie, mehr Arbeit, weil dort schon Verwandte leben, weil dort alle hingehen. Und wegen Angela Merkel. Wenn sie von der deutschen Kanzlerin sprechen, dann werden ihre Augen plötzlich groß und leuchtend. Sie nennen sie ›unsere Tante‹ oder einfach ›Mama‹.

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