›90 Prozent ist Schweiß‹

Wer ist Michael Ludwig? Und wieviele? Ein Gespräch über Image, Integration, echte Wiener und das Leben als Bürgermeister.

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Fotografie:
Stefan Fürtbauer

Vor die Wahl gestellt, ob Weiß oder Rot, entscheidet sich Michael Ludwig für Wasser. Am Abend des Donnerstags, 4. April, besuchte uns der SPÖ-Bürgermeister bei der Ausgaben-Feier in der gedrängten DATUM-Redaktion. Das folgende Interview ist eine gekürzte Fassung des einstündigen Gesprächs.

Herr Ludwig, haben Sie einmal im Ausland gelebt?

Ich habe einige Monate im Ausland studiert, in Berlin. Das war noch zu den Zeiten als Berlin geteilt war. Das war eine sehr interessante Erfahrung. In deutschen Familien gibt’s oft die Frage: „Wo waren Sie am 9. November 1989?“

Und wo waren Sie?

Ich war am Grenzübergang Bornholmer Straße, das war der erste Grenzübergang, der geöffnet worden ist. Für mich war klar erkennbar, dass das ein historischer Moment ist, weil die Berliner Mauer zum ersten Mal geöffnet wurde und somit auch der Eiserne Vorhang fiel. Das war schon ein sehr prägendes Erlebnis.

Wie viele andere auch, habe ich Wien erst im Ausland schätzen gelernt. Wo haben Sie Wien denn zu lieben gelernt, wenn nicht im Ausland?

Ich bin ja nicht weit von hier aufgewachsen, ich habe die Entwicklung der Stadt über Jahrzehnte hautnah erlebt. Für mich war spannend zu sehen, wie sich Wien verändert, geöffnet, internationalisiert hat und durch verschiedene historische Ereignisse auch in Europa eine neue Rolle zugesprochen bekommen hat. Meine Mutter war Hilfsarbeiterin in einer Fabrik in der Kaiserstraße. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass es im siebten Bezirk in den 60er- 70er-Jahren noch Fabrikanlagen gab. Ich habe erlebt, wie die Stadt damals ausgesehen hat, also graue Häuser und wenige Unterhaltungsmöglichkeiten für junge Menschen. Damals gab es im Siebten nur das „Anno“ und die „Kamera“, die Kamera gibt es immer noch in der Neubaugasse. Die ist heute aber viel braver als früher.

Seit bald einem Jahr sind Sie Bürgermeister. Wie nimmt man die Stadt als Bürgermeister wahr? Wie verändert sich das Leben von einem, der plötzlich der Eine ist?

Zum einen ist es schön, wenn einen die Menschen auf der Straße erkennen, das empfinde ich als Kompliment, wenn sie einen ansprechen und in 99 Prozent der Fälle überraschend freundlich sind. Trotzdem hat man neben diesen positiven Emotionen auch das Gefühl, dass man ständig überwacht und kontrolliert wird. Also würde ich nie bei Rot über die Straße gehen, nicht einmal in der Nacht. Man ist einer ganz starken sozialen Kontrolle ausgesetzt, und zwar nicht nur, wenn die Kameras laufen, sondern auch im Alltag.

Sie traten 1981 der Partei bei. Was war das für ein Michael Ludwig und was wollte er?

Was jeder junge Mensch will, wenn er in der Politik mitwirkt: gestalten. Ich war in Jugendorganisationen und in Sektionen tätig, und mir hat die Arbeit in den Sektionen mehr Spaß gemacht, weil da das Publikum durchmischter war.

›Ich würde nie bei Rot über die Straße gehen, nicht einmal in der Nacht.‹

Welche politischen Lektionen würden Sie, von heute aus betrachtet, dem Michael Ludwig von 1981 mit auf den Weg geben?

Engagiert zu sein. Ich war auch engagiert, das heißt nicht, dass das ohne Konflikte abgelaufen ist. Ich habe damals in der SPÖ durchaus kontroversielle Diskussionen geführt. Ich würde heute manche Dinge anders betonen, anders formulieren, anders ausrichten, ich sehe manches heute auch anders als damals. Das ist auch gut so.

Was zum Beispiel?

Ich glaube, im fortgeschrittenen Lebensalter hat man mehr Sinn für Grautöne. Ein Beispiel, das vielleicht nicht für alle ganz so verständlich ist: Ich war von Beginn an auch ein Mitwirkender beim Bund Sozialdemokratischer Freiheitskämpfer, das war die antifaschistische Organisation innerhalb der SPÖ. Wir haben mit den damals noch lebenden Kämpfern des Februar 1934 und des Naziwiderstands zusammengearbeitet. Es gab dann den Wunsch im Bezirk, für die drei Offiziere, die am Spitz gehängt worden sind, in den letzten Kampftagen im April 1945, Straßenbenennungen vorzunehmen. Das waren die Offiziere Biedermann, Huth und Raschke, die ganz brutal von der SS ermordet worden sind. Ich habe mich bei der entscheidenden Sitzung zu Wort gemeldet und mich dagegen ausgesprochen, dass der Major Biedermann eine Verkehrsflächenbenennung bekommt. Dieser war nämlich nicht nur Offizier im Widerstand, sondern war auch Kommandant im Februar 1934 und war verantwortlich für die Beschießung des Karl-Marx-Hofes. Ich habe damals als Jugendfunktionär eine solche Brandrede gehalten, dass ich gegen den damaligen Bezirksvorsteher die Stimmung gedreht habe, was der mir jahrelang nicht verziehen hat, und nach Biedermann wurde dann keine Straße benannt. Für Huth und Raschke sehr wohl. Aus damaliger Sicht war das richtig, heute würde ich sagen, der Biedermann hat Vor- und Nachteile, ein Mensch ist nicht nur schwarz-weiß sondern hat auch Grautöne. Wenn man mehr Lebenserfahrung hat, sieht man diese Grautöne besser, dass man Menschen nicht nur in Gut und Böse einteilen kann, sondern dass Menschen unterschiedliche Seiten haben, und man muss sich mit den verschiedenen Seiten eines Menschen beschäftigen.

Hat Herr Biedermann heute seine Straße?

Meines Wissens nicht.

Ein paar kurze Fragen, die helfen sollen, Sie ein wenig besser zu verstehen, Herr Ludwig. Was ist ein echter Wiener 2019?

Ein echter Wiener oder eine echte Wienerin, das sind jene, die in unserer Stadt leben.

Sie sind also einer.

Sowie 1,88 Millionen andere Wienerinnen und Wiener.

Was ist ein Intellektueller?

Ein Mensch, der sich primär mit intellektuellen Dingen beschäftigt.

Sind Sie einer?

Als Bürgermeister ist man vieles.

Was ist ein Feminist?

Für mich ist das ein Mensch, der die Gleichberechtigung der Geschlechter in den Vordergrund rückt und keine Benachteiligung von Frauen akzeptiert. Wobei es natürlich unterschiedliche Interpretationen gibt. Es gibt ja auch Menschen, die sagen, sie sind Humanisten, weil sie auch aus dieser Perspektive eine Gleichberechtigung der Geschlechter wahrnehmen. Es ist sicher eine Frage der Betonung, aber prinzipiell ist bei beiden Bezeichnungen die Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern im Vordergrund.

Sie sind ein Feminist?

Ich bin ein Mensch, der sich in der Vergangenheit auch dafür eingesetzt hat, dass Frauen und Männer gleich behandelt werden.

Kommen wir zum Punkt, Herr Ludwig. Was ist ein rechter Sozialdemokrat?

Ich glaube, dass diese Einteilung in linke und rechte Sozialdemokraten, oder generell im politischen Spektrum sehr verschwimmt. Das beobachtet man nicht nur in Österreich, sondern auch in der EU. Das zeigt sich besonders bei bestimmten emotionalen Themen. Natürlich gibt es Kategorien, die sich danach orientieren. Diese Bezeichnungen sind ja im Pariser Parlament durch die Zusammensetzung und die Sitzordnung im Parlament nach der Französischen Revolution entstanden. Tendenziell kann man sagen, dass es aus heutiger Sicht eher so ist, dass linke Gruppierungen stärker Gemeininteressen im Vordergrund sehen, gegenüber Individualinteressen der Rechten. Auf der einen Seite werden soziale Dimensionen stärker betont, und auf der anderen Seite wirtschaftliche Interessen. Wie sehr das verschwimmt, sieht man in der Diskussion um die Zuwanderung. Wenn man sich beispielweise in der EU die Stellungnahmen von traditionell linken Organisationen, also zum Beispiel der Grüne Bürgermeister von Thübingen oder Sahra Wagenknecht, anschaut und vergleicht mit anderen Perspektiven in der Mitte des gesellschaftlichen Spektrums, würde man sehen, dass das mit Links und Rechts sehr schwer zu verorten ist. Tendenziell gibt es natürlich gesellschaftspolitische Themenschwerpunkte, die einer dieser Zuordnungen eher entsprechen.

Sind Sie ein rechter Sozialdemokrat?

Wenn man in diesen traditionellen Einordnungen bleiben will, und dahin zielt Ihre Frage ja auch, dann würde ich sagen, dass ich in manchen Themenbereichen vielleicht sehr mittig bin, also zum Beispiel in der Frage Ordnungsprinzip und Sicherheit, und in anderen Fragen, wie zum Beispiel Gemeinwesen, Daseinsvorsorge eher sehr linksorientiert bin. Daher ist es immer schwer, eine genaue Zuordnung an eine Person zu orientieren, die in mehreren politischen Feldern tätig ist.

Sie meinen, man ist politisch gesehen viele?

Wenn man den Anspruch erhebt, einen größeren Teil der Bevölkerung vertreten zu wollen, dann muss man einfach sehen, dass die Bevölkerung sich insgesamt stärker ausdifferenziert, dass es unterschiedliche Interessen gibt. Die Kunst und die Aufgabe der Politik ist daher, unterschiedliche Strömungen zusammenzuführen und zu Entscheidungen zu maximieren. Sonst könnte ja jeder einzelne seine eigenen Interessen umsetzen.

Sie sind länger in der Politik als ich auf der Welt und wissen viel besser als ich, dass das ein grausames Geschäft ist. Warum sind gerade Sie Bürgermeister geworden?

Voraussetzung ist, dass man bestimmte Fertigkeiten mitbringt, die man allerdings mit anderen Menschen natürlich teilt.

Welches Talent, welche Stärke bringen Sie mit?

Was viele Menschen nicht sehen, ist, dass zur Politik viel Fleiß gehört. Ich persönlich glaube nicht an die Genialität des Menschen, sondern 90 Prozent ist Schweiß und zehn Prozent ist Talent. Von daher ist es gerade in der Politik so, dass man viele Möglichkeiten hat, eine Funktion auszuüben. Man muss sich darauf vorbereiten und bereit sein, Verantwortung zu übernehmen und dazu bereit sein, Zeit, Kraft und Energie einzusetzen. Aber es gäbe viele in der Stadt, die qualifiziert sind, eine solche Funktion [Bürgermeister] zu übernehmen. Trotzdem entscheidet es sich dann immer schrittweise, und ich habe bis zur Schlussphase diese Entscheidung nicht aktiv angestrebt. Ich wäre auch als Wohnbaustadtrat glücklich gewesen.

Man kann nicht immer Wohnbaustadtrat bleiben, irgendwann muss man entweder Bürgermeister oder Kanzler werden.

(lacht) Das gilt aber hauptsächlich für Wien. Auch das hat seinen historisch angewachsenen Grund, weil eben Wohnen in Wien eine sehr bedeutende Rolle spielt.

Politische Gegner vor allem in der eigenen Partei haben Ihnen in den vergangenen Jahren das Image zugeschrieben, Sie seien ein Rechter, der sich auf Bierbänken wohler fühlt als im Salon, der lieber mit den Blauen koalieren würde als mit den Grünen. Was an diesem Image ist Ihnen nützlich, was daran wollen Sie ändern?

Dieses Image entspricht ganz und gar nicht der Realität. Ich bin seit 40 Jahren Mitglied der Antifaschistischen Organisation der SPÖ, es gibt nicht viele noch Lebende, die ähnlich lange auch mit den großen Gallionsfiguren dieser Organisation, Rosa Jochmann und Joseph Hindels, zusammengearbeitet haben. Ich war für den Jugendrat und den Bildungsrat dieser Organisation zuständig. Es gibt keine Antifaschistische Veranstaltung der SPÖ Wien, die nicht von mir begleitet, wenn nicht sogar ins Leben gerufen worden ist. Daher ist das ein Image, das ich nicht nachvollziehen kann.

›Ich persönlich glaube nicht an die Genialität des Menschen.‹

Es gibt eine politische Schlucht zwischen Realität und Image. Wir wissen ja gar nicht, wer etwa der Sebastian Kurz nach neun Uhr abends tatsächlich ist. Aber dieses Image, ob es nun der Realität entspricht oder nicht, das ist medial jedenfalls da. Was mich interessiert: Was daran ist Ihnen unangenehm, was daran ist Ihnen nützlich?

Also eine Zuschreibung entspricht mir, nämlich dass ich mit allen politischen Fraktionen eine Gesprächsbasis habe. Das heißt nicht, dass ich mich mit den Zielen mancher Parteien identifiziere. Aber ich habe als Wohnbaustadtrat beispielsweise eine Novelle der Bauordnung vorgeschlagen und versucht, alle politischen Lager mit einzubeziehen. Bei politisch-technischen Dingen habe ich versucht, eine breite Mehrheit zu finden, bei ideologischen Themen nicht. Da gibt es zum Beispiel eine starke Abgrenzung zwischen der SPÖ und der FPÖ in Wien.

Liegt dem Thema Migration Ideologie oder Pragmatik zu Grunde, Herr Ludwig?

Beides. Es gibt für mich eine politisch-gesellschaftliche Verantwortung mit Migration umzugehen, es gibt aber auch die Verantwortung von politischen Entscheidungsträgern, darüber nachzudenken, wie man ein Gemeinwesen in einer Stadt wie Wien organisiert. Das beginnt auch mit der Frage, wie man Bevölkerungswachstum begleitet, ohne dass es zu sozialen Konflikten kommt. Ich kenne die Geschichte unserer Stadt sehr gut, und das starke Bevölkerungswachstum Wiens Ende des 19. Jahrhunderts, das heute oft glorifiziert wird, ist natürlich einhergegangen mit politischen Verwerfungen, die ich jetzt in der Gegenwart nicht mehr möchte. Nämlich mit Grundstücksspekulation, mit starkem Druck auf Mieterinnen und Mieter, mit Ausnutzung von starken gesellschaftlichen Positionen gegenüber Zugewanderten und vieles andere mehr. Von daher hat man auch eine sehr pragmatische Verantwortung, ein Bevölkerungswachstum zu begleiten und Vorsorge zu treffen, dass die Stadt sich nicht in eine Konfliktregion entwickelt, sondern, dass es eine friedliche und soziale gerechte Entwicklung gibt.

Das heißt, Sie würden die Frage „Braucht Wien Migration“ mit „Ja, aber wir müssen über das Wie reden“ beantworten?

Ja, richtig. Ich sehe, dass meine Rolle auch dafür da ist, zwei Pole bei der Entwicklung dieser Stadt miteinander zu verbinden. Zum einen bin ich sehr stolz, dass wir eine sehr offene, eine sehr internationale Stadt geworden sind. Das ist gut so und soll auch unbedingt so bleiben. Gleichzeitig muss man aber als politisch Verantwortlicher auch Sorge dafür tragen, dass die hier lebende Bevölkerung nicht das Gefühl hat, dass sie ständig neuem Druck ausgesetzt ist. Durch Zuwanderung am Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt und vieles mehr. Denn wenn man das übersieht, öffnet man die Türe für alle Rechtspopulisten. Die Gefahr gibt es in Österreich und vielen anderen europäischen Ländern. Daher muss man die Verantwortung übernehmen, dass man sagt, ja: Internationalität, Weltoffenheit, selbstverständlich Schutz für alle, die asylberechtigt sind, für Menschen, die bedroht werden, dass man aber in der Gesamtentwicklung der Bevölkerungsstruktur sehr darauf zu achten hat, dass es nicht aus dem sozialen Lot gerät, denn sonst sind Konflikte, die wir in anderen Großstädten erleben, automatisch damit verbunden.

Bitte widersprechen Sie mir: Seit Ihrer Amtsübernahme habe ich den starken Eindruck, dass die Stadtregierung kaum mehr über Integration spricht. Sie scheinen die politische Linie verordnet zu haben, dass man sich auf dieses Themenfeld nicht begibt. Stattdessen bleibt man auf den sozialdemokratischen Feldern: Wohnen, Arbeit, Soziales – und wartet, bis sich der politische Gegner herüberbewegt.

Dem möchte ich widersprechen. Ich glaube, dass wir eine sehr aktive Integrationspolitik betreiben, auch im Vergleich zu anderen Großstädten in Europa. Wir stehen da auch im heftigen Widerstreit mit der Bundesregierung. Wenn ich an den Bildungsbereich denke, wo die Bundesregierung beispielsweise das Integrationspaket in den Schulen gestrichen hat, um die separaten Deutschklassen zu forcieren, das war eine sehr heftige Diskussion zwischen der Wiener Stadtregierung und der Bundesregierung. Auch bei der Mindestsicherung war die Diskussion mindestens genauso emotional und heftig, wo wir als Stadt Wien uns ganz stark dagegen ausgesprochen haben.

Unter der Stadtregierung Häupl gab es immer wieder den Versuch, offensiv einen positiven Umgang mit Integration, ein positives Bild zu dem Thema herzustellen. Im Vergleich dazu meidet Ihre Stadtregierung das Thema in der politischen Kommunikation regelrecht.

Das würde ich so deshalb nicht sagen, weil ich glaube, dass vieles von dem, was mein Amtsvorgänger Michael Häupl positiv geleistet hat, mittlerweile bei uns so gewohnt ist, dass es aus dem Charakter eines Pilotversuchs gewachsen und zur Normalität der Stadt geworden ist. Vieles, was vor Jahren noch umstritten war, ist mittlerweile gelebte Praxis. Von daher ist es nicht mehr notwendig, dass man darüber spricht. Viele Integrationsmaßnahmen, vom Bildungs- bis zum Wohnbereich, sind zur Normalität geworden, und es ist gar nicht mehr notwendig, dass man das durchsetzt. Das zeigt ja auch die bunte Zusammensetzung der Bevölkerung. Wenn man bedenkt, dass ziemlich genau die Hälfte der Wiener Bevölkerung entweder in der ersten oder in der zweiten Generation Migrationshintergrund hat, sieht man, dass sich die Bevölkerungsstruktur qualitativ und quantitativ sehr geändert hat. Nachdem wir sehr wenige Konfliktpunkte haben, muss die Änderung ja sehr positiv gelaufen sein, sonst hätten wir nicht so ein gutes Miteinander in dieser Stadt.

Vor genau einem Jahr saß Christian Kern bei mir.

(lacht) Was wollen Sie mir damit sagen?

Genießen Sie das kommende Jahr noch! Spaß beiseite: Die Frage, ob es eine Arbeiterklasse gebe, verneinte er. Was sagen Sie, Herr Ludwig, gibt es heute eine Arbeiterklasse?

Den klassischen Industriearbeiter gibt es in dieser Quantität wie früher nicht mehr. Aber natürlich gibt es Menschen, die vom Lohn abhängig sind. Es gibt viele, die als Selbstständige in prekären Arbeitsverhältnissen leben und von der Lebenssituation her viel mehr mit den traditionellen Arbeitern zu tun haben als manche Direktoren, die formale Arbeitnehmer sind, aber in einem ganz anderen sozialen und wirtschaftlichen Umfeld leben. Die Bündnisstruktur der Arbeiterbewegung muss sich an neuen Zielgruppen orientieren. Ich brauche das nicht Menschen zu erzählen, die im Medienbereich tätig sind. Wenn ich mir überlege, wie viele hochqualifizierte Kolleginnen und Kollegen in prekären Arbeitsverhältnissen leben, dann sieht man, dass es für die Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie, die Gewerkschaften eine große Herausforderung ist, sich gerade nach diesen Rahmenbedingungen der Arbeitswelt zu richten.

Im Juni 2017 schrieben Sie im Profil, dass die Sozialdemokratie wieder die Klammer für widersprüchliche Interessen werden müsse. Sie meinten damit, kurz gesagt, Globalisierungsverlierer und Globalisierungsgewinner. Was nicht in dem Kommentar stand ist, wie die Sozialdemokratie das tun soll.

Sie haben schon Recht. Es geht auch darum, unterschiedliche Interessen zusammenzuführen. Neben Globalisierungsgewinner und Globalisierungsverlierer würde ich noch ein zweites Thema einbringen. Die Frage der Digitalisierung und der Auswirkung derselbigen auf den Arbeitsmarkt. Sie wird nämlich, ähnlich wie die Industrielle Revolution, gravierende Auswirkungen haben. Außerdem geht es natürlich auch darum, wie wir den Wirtschaftsstandort Wien durch die Digitalisierung stärken können. Aber wie kümmern wir uns um jene, die in Gefahr sind, zurückzubleiben? Sodass es keine Stadt der zwei Geschwindigkeiten gibt, sondern dass wir auch die Verantwortung übernehmen, diese Menschen mitzunehmen. Meiner Meinung nach ist die Aufgabe der Politik unter anderem ja auch, dass wir keine Gräben in der Gesellschaft herstellen, sondern, dass wir den wirtschaftlichen Nutzen für möglichst viele Menschen zugänglich machen. Im besten Fall über Wirtschaftsbeziehungen und – wo das nicht möglich ist – über das Sozialsystem.

Bei der Nationalratswahl 2017 gab es für die SPÖ unter Christian Kern in den Wiener Flächenbezirken im Schnitt ein Minus von ein bis drei Prozent, während es in den Innenstadtbezirken ein Plus von circa zehn Prozent gab. Wie wollen Sie bei der kommenden Wien-Wahl sowohl in den Außen- als auch in den Innenbezirken ein Plus erreichen?

Zwischen den Nationalratswahlen gibt es eine sehr starke Bevölkerungswanderung. Das heißt, in manchen Bezirken beträgt die Veränderung der Bevölkerung von einer Wahl zur anderen bis zu 30 Prozent. In manchen Bezirken leben seit der letzten Nationalratswahl also ganz andere Menschen. Trotzdem sieht man, dass die Ergebnisse der SPÖ korrelieren mit den Ergebnissen anderer Parteien. Zum Beispiel dort, wo die SPÖ stark gewonnen hat, haben die Grünen stark verloren, und wo die SPÖ weniger gewonnen hat, haben die Grünen weniger verloren. Das war bei dieser Nationalratswahl sehr klar erkennbar. Es gibt also Wanderungsbewegungen innerhalb der Stadt und Wanderungsbewegungen innerhalb des politischen Systems zwischen den Parteien. Spannend ist, wenn man sich überlegt, welche Themenschwerpunkte sind für möglichst viele Menschen relevant. Ich glaube, dass wir in der Sozialdemokratie die wichtigen Themen auch ansprechen. Nämlich Arbeit, Wohnen, Gesundheit. Das sind Themen, die alle Menschen interessieren.

›Die Bündnisstruktur der Arbeiterbewegung muss sich an neuen Zielgruppen orientieren.‹

Wie wollen Sie konkret die Auseinandersetzung mit der FPÖ gewinnen?

Es ist wichtig, dass man erkennt, welche Themenschwerpunkte die Menschen dazu gebracht haben, die FPÖ zu wählen. Die Wähler sind nicht nur Menschen, die rechtsorientiert sind, sondern offensichtlich gibt es Themenfelder, wo es Enttäuschungen über das bisherige politische System gibt. Die FPÖ hat lange Zeit Protestwähler angesprochen, in den letzten Jahren ist das nicht mehr so gewesen.

Was ist Ihr Plan, damit die Menschen im Oktober 2020 nicht den Strache ankreuzen, sondern den Ludwig?

Man muss sich um die Themen kümmern, wo wir stark sind, also die sozialdemokratischen Themen. Außerdem muss man sich auch überlegen, welche Themen sind Schnittmengen, wo die Bevölkerung sich vorstellen kann, anderen Parteien ihr Vertrauen zu schenken und sich nicht auf die FPÖ zu verlassen. Bei der Arbeiterkammerwahl war spürbar, dass dieser Mythos, dass die FPÖ die neue Arbeiterpartei ist, bei den Arbeitnehmerinnen und -nehmern nicht angekommen ist. Daher bin ich durchaus optimistisch, dass es uns gelingen wird, mit den Kernthemen der Sozialdemokratie die Menschen zu gewinnen.

Wollen Sie die Möglichkeit heute schon wahrnehmen, um eine allfällige Koalition mit der Wiener FPÖ auszuschließen?

Das habe ich schon mehrfach getan. Da haben wir eindeutige Beschlüsse.

Im Oktober vergangenen Jahres haben wir gelernt, dass Sie die Inseratevergabe der Stadt Wien evaluieren lassen wollen. Sie haben unter anderem gesagt, dass journalistische Qualitätskriterien in Hinkunft eine größere Rolle spielen sollen. Wie steht es um die Evaluierung?

Die hat sich gut entwickelt, und es wird nicht mehr lange dauern, bis wir das präsentieren. Wir werden das auch mit einem anderen strategischen Themenschwerpunkt der Stadt kombinieren. Ich möchte gleich einen Irrtum berichtigen: Wir machen keine Medienförderung. Unser Ziel ist, dass wir Informationspolitik der Stadt für die Bewohner betreiben. Mir geht es ganz stark darum, dass wir die Inhalte, die uns wichtig sind, mit jenen Zielgruppen verbinden wollen, für die diese Inhalte wichtig sind. Wenn wir beispielswiese aufmerksam machen wollen auf das breite Angebot im geförderten Wohnbau und die Vergabe der Gemeindewohnungen, dann werden wir versuchen, uns an jene Medien zu richten, die von jenen Menschen gelesen werden, die eine Gemeindewohnung suchen. Wenn wir Betriebsansiedlungen vorstellen, werden wir wahrscheinlich ein anderes Medium ansprechen. Da geht’s mir darum, dass wir punktgenau die Informationen transportieren wollen und an jene Menschen richten, die diese benötigen.

Wollen Sie weniger informieren, oder wird das Informationsvolumen gleich bleiben?

Das Volumen wurde in den letzten Jahren stark reduziert. Das ist für die Medien natürlich wenig erfreulich. Wir werden aber in etwa das aktuelle Niveau beibehalten. Es werden nur andere Herausforderungen auf uns warten. Der Transport von Information ist nicht mehr auf Print beschränkt, sondern es gibt mehr Informationskanäle, die von der Bevölkerung benutzt werden. Es kommen zusätzlich zu den Medien Fernsehen und Radio ganz stark die Social Media Produkte dazu, wobei wir nicht internationale Konzerne unterstützen wollen, sondern es geht uns darum, wie wir Möglichkeiten schaffen können, dass es eine stärkere Community in unserer Stadt gibt, die wir auch mit Informationen versehen.

Die nächste Wahl, die ansteht, ist die EU-Wahl. Haben Sie seit 1981 eigentlich immer Rot gewählt?

Ja.

Warum soll man bei der EU-Wahl Rot wählen?

Ich werde nicht in diese Falle tappen, die die jetzige Bundesregierung aufstellt, nämlich diesen vorgetäuschten Dualismus zwischen einem EU-freundlichen Karas und einem EU-ablehnenden Vilimsky, womit der Versuch unternommen wird, die ganze Wählerschaft abzudecken. Wir sind in der Sozialdemokratie für ein gemeinsames Europa. Wir sind gegen jene, die Europa zerstören wollen. Ich bin davon überzeugt, dass das der einzig richtige Weg ist, wie wir im internationalen Wettbewerb bestehen können. Es gibt kein Land in der EU, das im internationalen Wettbewerb bestehen kann, wenn es nicht gelingt, gemeinsam wirtschaftlich aufzutreten. Wir sind der Politik der EU gegenüber, wie sie derzeit besteht, nicht kritiklos, es gibt vieles, was wir besser machen wollen. Wir wollen stärker den Menschen und die sozialen Bedürfnisse berücksichtigen, aber wir wollen eine gemeinsame Europäische Union. Das ist ein Friedensprojekt, über das wir nicht froh genug sein können, und ich halte den Brexit für eine schreckliche Entwicklung. Nicht nur für die EU, sondern auch für Großbritannien.

Werden die Sozialdemokraten den ersten Platz schaffen?

Ich glaube, wir haben gute Chancen, und das wird natürlich unser Ziel sein.

›Wir sind in der Sozialdemokratie für ein gemeinsames Europa. Wir sind gegen jene, die Europa zerstören wollen.‹

Dass Sie einmal eine Wahlempfehlung für Herrn Schieder abgeben, hätten Sie sich vor eineinhalb Jahren wohl auch nicht gedacht.

Ich habe dem Andi Schieder damals schon sehr geraten, sich auf die internationale Politik zu konzentrieren. Weil ich überzeugt bin, dass er das sehr, sehr gut kann. Er ist seit Jugendtagen im internationalen Bereich tätig, mit großem Erfolg. Von daher hab ich ihm das schon zeitgerecht sehr ans Herz gelegt (lacht). Wobei ich sagen muss, nachträglich gesehen hat mir diese Konkurrenzsituation sehr geholfen. Das weiß man in der Situation oft nicht, aber nachträglich gesehen war es für mich eine starke Unterstützung. Ich werde heute noch von Leuten gegrüßt, die mir zum Wahlsieg gratulieren. Dadurch, dass das über Monate hinweg gegangen ist, ist in der Bevölkerung das Gefühl gewachsen, dass ich die Wahl gewonnen habe.

Sie meinen, Ihnen hat es das Gewinnerimage verpasst, und der Verlierer ist nach Europa gegangen?

Naja, ich finde das ist ein Bereich, wo er wirklich viel einbringen kann.

Herr Ludwig, Schlussfrage: Nach Ihrem Tod wird man ein Platzerl, eine Straße in Wien nach Ihnen benennen. Welches soll es sein?

Ich habe großen Respekt für die Persönlichkeiten, die dafür ausgewählt werden. Für mich wird es aber ohnehin einen Platz geben in der Geschichte unserer Stadt. Denn im Stadtsenatssitzungssaal im Rathaus hängen die Bilder der Wiener Bürgermeister, und irgendwann werde ich dort auch hängen. Ich bleibe also im Spiel und werde mit großem Interesse die Sitzungen des Stadtsenats verfolgen.