Datum Talente

Abenteuer im Kleinformat

Die Idee des › Mikroabenteuers ‹ verspricht Abwechslung und Aufregung direkt vor der Haustür – gerade während Corona eine verlockende Verheißung. Kann das funktionieren ? Unser Autor hat es ausprobiert.

·
Fotografie  :
Teseo La Marca
DATUM Ausgabe Mai 2021

Ein wenig seltsam ist es schon. Der Trekking-Rucksack und die Großstadt, das passt für mich einfach nicht zusammen. Was reinkommt : Zelt, Luftmatratze, Schlafsack, Ersatzwäsche, etwas Proviant, eine Stirnlampe, ein Taschenbuch. Ich komme mir vor, als würde ich für eine große Indien-Reise packen. Die Ungewissheit, die Aufbruchsstimmung : Macht’s gut, Leute, irgendwann werde ich schon zurückkommen, geläutert von den vielen Erfahrungen … Nein, nur Spaß, ihr seht mich schon morgen wieder. Geht auch nicht anders, ich habe um zehn Uhr vormittags ein Bewerbungsgespräch, bis dahin muss ich wieder frisch und voll betriebsfähig sein. Hinduistische Tempel werde ich auch keine sehen, allenfalls die Sisi-Kapelle am Pfaffenberg.

Als ich mir die bevorstehende Nacht im Zelt ausmale, merke ich, wie sehr ich von der Vorstellung geprägt bin, Abenteuer geht nur im ganz großen Stil. Auf der einen Seite das Wildcampen, Reisen per Anhalter, waghalsige Expeditionen. Irgendwo in der Ferne, in einem fremden Land. Und auf der anderen Seite die Sonntagsausflüge, der eigene Wohnort in all seiner Vertrautheit, ein Gläschen mit Aussicht auf dem Kahlenberg. Das ist Stadtflucht, wie ich sie kenne. Spazieren in der Nachmittagssonne, lauwarme Gespräche unter sonst beschäftigten Erwachsenen. Auch schön, aber richtiger Outdoor-Kick und Abenteuer ? Das ist was anderes.

Fragwürdig war diese Trennung zwischen Abenteuer und Sesshaftigkeit im Grunde auch schon vor den aktuellen Rei­sebeschränkungen, nicht nur aus transportökologischen Gründen. Das Problem für reisefreudige Städterinnen und Städter lautet : Wo bekomme ich den Faktor Abenteuer her, wenn ich im Jahr nur wenige Wochen Urlaub habe und nicht gerade als Reisereporter Karriere mache ? Was tun, wenn eine Familie mit Kindern sagt : Wir haben unsere Mama oder unseren Papa lieber gelangweilt zu Hause als irgendwo freudejauchzend oder krisengeschüttelt in der Welt draußen ?

Abenteuer vor der Haustür
Der britische Abenteurer und Autor Alastair Humphreys, ein Typ, der innerhalb von vier Jahren auf 74.000 Kilometern um die Welt geradelt war, fand sich mit Mitte 30 genau in dieser Lage wieder : glückliche Ehe, zwei Kinder, alles super. Aber manchmal auch irgendwie fad. Seine Frau mit den Kindern allein lassen und sich in der Welt herumschlagen ? Kam für Humphreys nicht in Frage. Ein verantwortungsvoller Familienvater zu sein, so dachte er lange Zeit, wäre nur möglich, wenn er von jetzt an auf Abenteuer verzichten würde – gewissermaßen eine Selbstverleugnung, sicher, aber ein notwendiges Opfer.

Der junge Familienvater war bereit zu resignieren. Bis er im Jahr 2011 eine recht simple und unspektakuläre Idee hatte : Warum nicht einfach mal den Autobahnring M25, der London umrundet, entlangwandern ? Gesagt, getan : Es wurde kalt, laut und hässlich, ganz wie befürchtet. Aber auch ungeheuer aufregend, sagt Humphreys. Seitdem tourt der Brite mit dem Konzept des › microadventure ‹ – des Mikroabenteuers – um die Welt. Seine Botschaft : Es muss nichts Großes sein, um uns zu bewegen. Es ist alles schon da, vor unserer Haustür : die eigene Wohnung als Base Camp. Die Komfortzone ist für Humphreys kein unabwendbares Schicksal. Sie zu verlassen, soll überall und jederzeit möglich sein – auch mit Familie und einem Nine-to-five-Job.

Wenn ich jetzt mit meinem übergroßen Rucksack auf der Ringstraße zur nächsten Tramhaltestelle marschiere und sich die wenigen Passanten nach mir umdrehen (Was, ein Rucksacktourist ? Das gibt es 2021 noch ?), ist in gewisser Hinsicht auch dieser Humphreys daran schuld. Das Konzept des Mikroabenteuers ist, seit ich davon gehört habe, bei mir haften geblieben. Am besten gefiel mir die Niederschwelligkeit : Keine großen Vorbereitungen, keine Planung, sondern innerhalb von 20 Minuten ab Entschluss das Haus verlassen. Für Ausreden bleibt da wenig Platz. Entweder man will es oder man will es nicht.

Die Regeln sind klar : Kein Auto, der Schauplatz des Abenteuers soll zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden. Begrenzter Zeitrahmen, irgendetwas zwischen sechs Stunden und drei Tagen. Wenn es die Wetterbedingungen zulassen, kein Zelt. Keine Planung, nur eine unkonventionelle Idee : nachts die Stadt von Ost bis West durchqueren; in einem Industriegebiet zwischen Containern unter freiem Himmel übernachten; oder einfach in eine Richtung losgehen und schauen, wie weit man kommt.

Solche Unternehmungen sind mit Sicherheit nichts Neues, der hippe Begriff dafür ist es schon. Vielleicht geht es aber auch weniger um Semantik, sondern darum, dass es uns projektorientierten Menschen des 21. Jahrhunderts leichter fällt, etwas durchzuziehen, wenn wir es klar benennen und kategorisieren können. Ich mache nichts Verrücktes, keine Desperado-Aktion, nein, ich mache ein Mikroabenteuer; und kann mich dabei sogar auf einen Trend berufen. Humphreys Idee trifft nämlich einen Nerv, eine unerfüllte Sehnsucht, insbesondere seitdem die großen Reisen und Expeditionen wegen Corona tabu sind : In deutschsprachigen Online-Foren geben sich bereits tausende › Mikroabenteurer ‹ gegenseitig Tipps und tauschen Erfahrungsberichte aus. Auch auf Instagram bringt es der Hashtag #microadventure auf knapp 190.000 Beiträge, das deutsche Pendant auf über 20.000.

Es braut sich was zusammen
In meinem Fall hat das Mikroabenteuer auch einen rein praktischen Wert. Meine Wohnung ist in Wien aktuell zwischenvermietet, ich bin nur wegen des Bewerbungsgesprächs als angehender Lehrer in der Stadt. Ohne fixen Schlafplatz sind die Hemmungen, irgendwo auf den Hügeln im Nordwesten Wiens ein Zelt aufzuschlagen, gleich viel niedriger. Dafür wirkt der Termin am nächsten Tag etwas einschüchternd. Um zehn Uhr pünktlich und halbwegs präsentabel in der Schule erscheinen ? Ob das nach einer Nacht im Zelt überhaupt möglich ist ?

Was mir am meisten Sorgen bereitet, ist aber der Wetterbericht. Ungläubig blicke ich auf die dunkle Wolke mit Schneeflocken auf meinem Handy-Bildschirm, schaue mich dann wieder um, sehe im Bus 43A all die Menschen in T-Shirts und kurzen Hosen sitzen. Ich selbst bin nach wenigen Metern mit meinem Rucksack schon ganz verschwitzt. 20 Grad hat es an diesem Tag Anfang April, ein bezaubernder Frühlingstag, der die Städter ins Freie zieht. Nachts sollen aber Sturm und Schneefall aufziehen. Auf dem Cobenzl, wo ich einen alten Freund treffe, der mich ein Stück begleiten wird, präsentiert sich der Himmel schon grau, in Richtung Westen wird es immer dunkler. Wird mein Schlafsack warm genug sein ?

Solche Gedanken sind, so beschleicht mich im Nachhinein ein Verdacht, nur ein Vorwand. Eine Ausrede, um das Hirn beschäftigt zu halten. Es braucht meistens eine ganze Weile, bis man realisiert, dass man unterwegs ist, on the road again, mit demselben Rucksack auf dem Buckel, der einen auch schon nach Iran, in den Kaukasus und auf den Balkan begleitet hat. Noch schwieriger ist die mentale Umstellung, wenn die Umgebung so vertraut ist. Die Villenviertel in Sievering, die Weinberge. Vielleicht liegt es auch an der intensiven Arbeitswoche, die hinter mir liegt. Es ist eine beschauliche Welt, die sich mir jetzt eröffnet, aber doch irgendwie matt, wie in Zellophan verpackt. Mit einem unterschwelligen Brummen, das die Gegenwart verscheucht. Da ist die Aufmerksamkeit meines Begleiters schon viel schärfer. Er zeigt auf erste Maiglöckchen und auf die grünen Matten im sonst noch karg-braunen Wald, weist mich auf den Knoblauchgeruch hin : frischer Bärlauch.

Das scharfe Aroma begleitet mich bis zur Schafbergwiese, dem Ziel, wo ich mein Nachtlager aufschlagen will. Hier bricht der Bärlauch-Geruch abrupt ab, stattdessen schlägt mir der süßlich-würzige Dunst von Cannabis entgegen. Dutzende Gruppen junger Menschen haben sich eingefunden, um den milden Abend zu genießen, ein lässiger Groove dringt aus Lautsprechern. Eine Ausgelassenheit, die mittlerweile Seltenheitswert hat. Ich setze mich unauffällig dazwischen, betrachte den 16. Bezirk im Abendlicht und verzehre einen mitgebrachten Bosna. Zelten im Freien gilt in Österreich als Ordnungswidrigkeit, deshalb warte ich mit dem Aufbau lieber, bis ich allein bin. Erst bei Einbruch der Dunkelheit verlassen die ersten Menschen die Wiese. Normalerweise bin ich bei Partys nicht der allerletzte, der nach Hause geht, aber heute …

Die Irrelevanz des Ichs
Der Mördergedanke – damit hätte ich in Wien nicht gerechnet. Was, wenn in der Umgebung ein Psycho herumstreift ? Die Erfahrung, wie ausgesetzt und verwundbar ich eigentlich bin, ich kenne sie noch von irgendwo her, aber sie ist doch etwas Ungewohntes. Egal ob in Ostanatolien, an der bosnisch-montenegrinischen Grenze oder im Speckgürtel Wiens, die nächtlichen Schauergeräusche sind eben überall dieselben. Der Wind in den Baumwipfeln. Entferntes Hundegebell. Ein Knacksen im benachbarten Wald, dann ein Scharren, schwere Schritte, die sich nähern. Oder ist da schon ein Schnaufen ? – Wenn die Fantasie einmal in Gang ist, ist sie nicht mehr aufzuhalten. Übrig bleibt nur, die eigenen Gedanken auszuhalten.

Nach und nach verstummen in dieser Nacht die suspekten Geräusche, sie werden, wie alles andere, übertönt vom Sturm. Zuerst ein gleichförmiges Rauschen in den Baumwipfeln, dann ein Tosen und Toben. Schließlich donnern die Luftmassen in gewaltigen Böen über die Schafbergwiese und zerren an der Zeltwand, Regen setzt ein. Irgendwann um Mitternacht geht das Prasseln und Trommeln in ein Rieseln über und ich wickle mich noch fester in den Schlafsack. Am nächsten Tag starre ich perplex aus der Zeltluke : alles weiß.
Plane ausbreiten, einmal nach links falten, Stangen rein und das Zelt um deren Achse zusammenrollen. Mit klammen Fingern drücke ich das Ganze in den Rucksack und breche in der kalten Morgenluft auf. Wie jedes Mal, wenn eine Nacht im Zelt überstanden ist, stellt sich dieses merkwürdige Gefühl der Freiheit und Unverwundbarkeit ein. Unterwegs kaufe ich mir eine Brezel und frage, weil mein Handy-Akku leer ist, Passanten nach dem Weg. Jeder und jede ist freundlich zu mir, scheint sich zu freuen, in Pandemie-Zeiten ein paar Worte mit einem Fremden zu wechseln.

Könnte das jetzt auf unbestimmte Zeit so weiter gehen ? Ein weiterer Tag des Vagabundierens, ein neues Nachtlager finden, sich noch weiter in der Welt auflösen und ein Teil davon werden. Oder wäre das ein Selbstverlust, eine Flucht ? Ich glaube nicht, dass solche Begriffe die Kernerfahrung des Abenteuers ausreichend beschreiben können. Das Ich geht nicht verloren, es wird auch nicht gewonnen, es wird schlicht irrelevant. Ich fühle mich an diesem Morgen wie aufgesogen von der nur noch am Rande vertrauten Umgebung, den spontanen Begegnungen, den simplen Fragen nach Witterung, Orientierung, Nahrung und Schlafplatz. Anstatt eines › Ichs ‹ mit all seinen Krisen und Zukunftsfragen bleibt nur noch eine geballte, auf den gegenwärtigen Augenblick geschärfte Aufmerksamkeit übrig. So liegt vielleicht ausgerechnet in der Exponiertheit des Abenteuers eine eigentümliche Sicherheit. Man kommt sich selbst nicht abhanden, weil man sich selbst nicht mehr zu wichtig nimmt. Die eigentlichen Gefahren des Selbstverlusts lauern im Alltag.

Mit diesen Gedanken komme ich schließlich bei der Schule an, es ist kurz vor zehn. Obwohl ich mir unterwegs bei einem Freund noch eine Dusche gegönnt habe, bin ich pünktlich. Das erleichtert mich nicht einmal, ich bin nur positiv überrascht. Bevor ich auf die Türklingel drücke, halte ich kurz inne : keine Aufregung, keine Nervosität, wie sonst immer. Ich bin einfach nur neugierig. Als wären das bevorstehende Gespräch und dessen Ergebnis nur Teil eines Abenteuers. Gut so. Jetzt brauche ich eigentlich nur noch eine plausible Erklärung, warum ich mit einem Tramper-Rucksack und verdreckten Trekking-Schuhen erscheine. •