Datum Talente

Zu wenig zum Leben

Unter dem Schlagwort › Pro Ana‹ treffen sich junge Frauen und Männer online, um sich gemeinsam ins Untergewicht und immer wieder bis in den Tod zu hungern. Petra ist eine von ihnen.

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Illustration :
Cruella Bobo
DATUM Ausgabe Mai 2021

Jeden Tag läuft Petra am Nachhauseweg vom Job im Supermarkt ihren Berg hinauf, vorbei am Summen der Bienen, grasenden Kühen und einem Alpensee. Morgen wird sie denselben Berg hinunterjoggen und am Abend den Aufstieg von vorne beginnen – immer ein bisschen schneller und anstrengender als nötig. Petra lebt in einer Idylle, die sie gerne genießen würde, aber sie schafft es nicht. In ihrem Kopf hämmert nur ein Gedanke: Dünn sein ist wichtiger als gesund sein, die wahrscheinlich zentralste und gefährlichste Regel der Pro-Ana-Bewegung.

Zu mehrt in Whatsapp- und Telegram-Gruppen oder zweisam mit einem › Twin ‹ im Privatchat: Junge Männer und Frauen, die sich als Pro-Ana identifizieren, nehmen zusammen ab. Sie leiden an Anorexia Nervosa, einer meist schweren Magersucht, und sehen ihre Krankheit nicht als solche. Die Anorexie stiftet ihre Identität. › Ana‹, wie sie die jungen Frauen nennen, ist in ihren Augen kein Feind, sondern die beste Freundin. Ihr zu entkommen, gleicht dem Ausstieg aus einer Sekte. Sie steht völlig kom­promisslos an erster Stelle – und an ihrer Seite zu bleiben, endet ohne Therapie oft mit lebenslangem Leiden oder gar dem Tod.

Anorexie ist eine der gefährlichsten psychischen Störungen. In einem Zeitraum von zehn Jahren Krankheit sterben fünf Prozent der Betroffenen an ­ihrer Magersucht. Die Suizidalität bei Anorexie ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung 57-mal so hoch. Bei Nichtbehandlung erliegen langfristig rund 15 Prozent der Betroffenen ihrer Essstörung. Wie Petra mangelt es ihnen häufig an Selbsteinsicht und Motivation, um ihre Krankheit in den Griff zu bekommen. Deshalb entdecken Ärzte viele Anorexien erst spät oder gar nicht.

Die 19-jährige Schweizerin Petra, die so nicht heißt, ist nicht in Therapie. Sie balanciert seit mehr als fünf Jahren mit Pro-Ana-Gruppen zwischen leichtem und schwerem Untergewicht. Über Wochen hungert sie ihren 1,61 Meter großen Körper herunter, ausgehend von ­einem Maximalgewicht von 48 Kilogramm. Erst wenn sie vermehrt unter den durch die Anorexie ausgelösten Schwächeanfällen leidet oder einen Essanfall hat, nimmt sie wieder etwas zu. Dieses Auf und Ab wiederholt Petra immer wieder. Einmal hat sie ihr Gewicht bereits auf 39 Kilogramm reduziert und das Hungern erst kurz vor dem Krankenhausaufenthalt gestoppt.

Wer verstehen möchte, wie die Anorexie zum alles bestimmenden Teil von Petras Leben werden konnte, muss früh ansetzen – so erzählt es Petra jedenfalls selbst. Sie kommt zwei Jahre nach ihrer großen Schwester zur Welt, und seit sie denken kann, hat sie das Gefühl, in ihrem Schatten zu stehen. › Geht meine Schwester in einen Raum mit zehn Leuten, ist sie nach einer halben Stunde mit jedem gut. Wenn ich das mache, will ich schneller raus, als ich drin war ‹, sagt Petra. Als Kind spricht sie selbst am Weihnachtsabend kaum mit ihrer Familie. Petra versteckt sich lieber in den Armen ihrer Mutter.

In der Unterstufe beginnt dann das Mobbing. Petra sei magersüchtig und solle mal was essen, werfen ihr Klassenkolleginnen am Gang oder beim Turnunterricht an den Kopf. Ihre Schwester hingegen ist in der Schule immer die Beliebtere, Hübschere und Erfolgreichere der beiden. Für dieselbe Prüfung lernt Petra vier Stunden, die ältere Schwester nur eine. Sie schafft es in eine höhere Bildungseinrichtung, Petra nicht. Je älter sie wird, desto stärker wächst Petras Bedürfnis, aus dem Schatten hervorzutreten. › Ich wollte zumindest eine Sache besser können als sie ‹, erinnert sich Petra, › und da ich ja schon dünn war, sollte es eben die bessere Figur werden‹.

Das Bedürfnis, die Schlankeste zu sein, treibt sie seitdem an und drängt sie gleichzeitig an ihre Grenzen. Denn Essstörungen sind weit mehr als Schwierigkeiten mit dem Essen. › Dahinter stecken Probleme, Ängste, Unsicherheiten und Bedürfnisse, so wie bei Petra ‹, erklärt Eva Wunderer, die therapeutisch mit jungen Menschen wie Petra arbeitet und im Expertengremium für Essstörungen des deutschen Bundesgesundheitsministeriums sitzt. Als promovierte Psychologin lehrt sie in Landshut an der Fakultät für Soziale Arbeit und hat in den letzten Jahren intensiv zu Essstörungen, unter anderem im Zusammenhang mit Sozialen Medien, geforscht. › Die Essstörung erfüllt wichtige Funktionen, daher ist es auch so schwer, sie loszulassen. »Durch die Essstörung bin ich wer« oder »Durch die Essstörung leiste ich etwas« sind häufige Gedanken ‹, so Wunderer.

Ihr Wunsch nach Anerkennung lenkt Petra direkt dorthin, wo sie später ihren psychischen und physischen Tiefpunkt erfahren wird. Sie ist 13 Jahre jung, als sie das erste Mal › Magersucht ‹ googelt und sich durch das Internet klickt. Heute sind Anorexie-verherrlichende Bilder und Websites weitgehend gesperrt oder nur schwer auffindbar. Vor ein paar Jahren war das noch anders. Schon der dritte Link in der Suchmaschine führt Petra zu einem Pro-Ana-Blog. Die Optik der Seite erinnert damals nicht an eine Vermittlungs-Börse für Menschen mit Essstörungen, sondern an das Freundschaftsbuch eines jungen Mädchens: Schnörkelschrift, bunte Emojis und rosaroter Hintergrund. Auf Fotos umarmen sich Jugendliche im Weizenfeld hinter gelbem Instagram-Filter. So schnell diese Foren mittlerweile gelöscht oder gesperrt werden, erstellen Menschen mit Essstörungen wieder neue. Über eine solche Website hat auch DATUM Kontakt mit Petra aufgenommen.

Zwischen der inszenierten heilen Welt verstecken sich die eigentlichen Inhalte der Blogs. Tipps und Tricks fürs heimliche Abnehmen hinter dem Rücken der Eltern. Ein paar Klicks weiter gibt es sogenannte › Thinspo ‹ (von › thin ‹ und › inspiration ‹), also Bilder von abgemagerten Frauen – und dann die Kontaktdaten der Pro-Ana-Gruppen. Spätestens dort wird die zuerst so harmonische Optik gebrochen und der Ton rauer. Typisch dafür sind die › 10 Ana-Gebote ‹. Angelehnt an religiöse Dogmen fordern sie ein streng asketisches, krankhaftes Verhältnis zu Ernährung und eigenem Körper. Die Moral: Essen lädt Schuld auf. Eine Untergrenze für das eigene Gewicht gibt es nicht. Die Magersucht schenkt den Mädchen eine vermeintlich erstrebenswerte neue Identität und beraubt sie aller übrigen Eigenschaften. Die Gebote setzen den Rahmen dafür, › Anas Brief ‹ führt die Erzählung der Pro-Ana-Bewegung weiter aus.

Es ist ein kurzer Text, der in Foren kursiert und auf groteske Weise die Abgründe der gefährlichen Ideologie beschreibt: › Erlaube mir, mich vorzustellen. Mein Name, oder wie ich von sogenannten »Ärzten« genannt werde, ist Anorexie. Mein vollständiger Name ist Anorexia Nervosa, aber du kannst mich Ana nennen. Ich hoffe, wir werden gute Freundinnen. In der nächsten Zeit werde ich viel Zeit in dich investieren und ich erwarte das Gleiche von dir. […] Jetzt bin ich deine einzige Freundin. […] Ich habe dieses dünne, perfekte, beneidenswerte Kind geschaffen. Du bist mein, nur mein. Ohne mich bist du nichts. Also kämpfe nicht gegen mich ! Wenn andere Bemerkungen machen, ignoriere sie. […] Mit freundlichen Grüßen, Ana. ‹

› Als ich das erste Mal von den »10 Geboten der Ana«, nach denen wir leben sollen, gelesen habe, dachte ich mir, dass die alle komplett wahnsinnig sein müssen ‹, sagt Petra und scheint kurz selbst nicht ganz zu glauben, wo sie da hineingeraten ist. All dem Unbehagen zum Trotz tritt sie ihrer ersten Gruppe bei. Der Wunsch nach Kontrolle und sozialer Geltung übertrumpft ihre Bedenken. Oft kommen zur Gewichtszunahme Druck aus der Familie und dem Freundeskreis dazu, sagt Psychologin Wunderer, teilweise auch Unverständnis und Vorwürfe. › Das treibt noch mehr in die Fänge der Pro-Ana-Bewegung: Dort gibt es vermeintlich Trost und Sicherheit. Dort sieht jemand, was ich leiste. So wird Pro-Ana mehr und mehr zur wichtigsten Bezugsgruppe. ‹ Petra tritt zwar bald wieder aus der ersten Gruppe aus, aber genauso schnell wieder in die nächste ein. › Je öfter ich das durchgelesen habe, umso mehr Sinn hat es für mich gemacht. ‹

Den Weg in die Chats findet sie damals schnell – aber Misstrauen und die immer wiederkehrenden makabren Ansprüche der Mitglieder pflastern den Einstieg. Suchende sollen erst eine Nachricht an Mail-Adressen wie fasting.love@gmx.ch oder ana77mia@gmail.com schicken. Darin müssen sie Motivation, Wunsch- und Momentangewicht oder ihre Kontaktdaten nennen. Auf anonymen Messengerdiensten wie Kik oder Telegram klären die Gruppenleiterinnen dann Details. › Ich erzähl den Leiterinnen immer, was ich suche, und sie, was sie mir bieten können ‹, sagt Petra, › dann geht es los. ‹

Die Vielzahl an Vorsichtsmaßnahmen begründet Petra damit, dass immer wieder Pädophile versuchen würden, in die Gruppen einzudringen. Als selbsternannte › Coaches ‹ bieten die Männer auf Blogs und in Foren ihre Unterstützung beim Abnehmen an, um an kinderpornografisches Material zu gelangen, schreibt die Seite saferinternet.at. In weiterer Folge verlangen Coaches dann Nacktfotos oder Bilder in aufreizenden Posen von den essgestörten Mädchen. Laut Eva Wunderer versuchen die Personen hinter den Pro-Ana-Seiten mit ihren Vorsichtsmaßnahmen aber in erster Linie sich selbst zu schützen: › Manche geben sogar eingangs einen Warnhinweis, dass Personen mit einer Essstörung ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen sollten ‹, sagt Wunderer, › die weiteren Inhalte der Gruppen entlarven derlei Hinweise jedoch als billige Versuche, sich aus der Verantwortung zu stehlen. ‹

Gegen Blogs im Internet oder Pro-Ana-Whatsapp-Gruppen rechtlich vorzugehen, ist in Österreich aber praktisch kaum möglich. › Eine generelle rechtliche Grundlage zur Löschung gibt es weder für Foren noch für Gruppen ‹, sagt Katrin Grabner, Kinderrechtsexpertin bei SOS-Kinderdorf. Soziale Plattformen können zwar entlang ihrer Community-Richtlinien entsprechende Gruppen sperren oder löschen, Verpflichtungen gibt es aber keine. Unter Umständen könnten die Inhalte nach dem Jugendschutzgesetz des jeweiligen Bundelandes als › jugendgefährdend ‹ eingestuft werden. Aber selbst hier sei es laut Grabner schwer, tätig zu werden, insbesondere bei ausländischen Providern. Auch dass Minderjährige Teil einer solchen Gruppe sind, ist nicht verboten. › Wir bräuchten schlichtweg eine bessere rechtliche Grundlage im Sinne des Kinder- und Jugendschutzes ‹, fordert Grabner. Neue Gruppen und Blogs könne man damit aber nicht verhindern. › Umso wichtiger sind daher Aufklärung und der Ausbau von psychologischer Hilfe und Beratungsangeboten für Betroffene. ‹

Von emotionalen Beziehungen mit › Twins ‹, einzelnen Abnehmpartnerinnen und immer wieder auch Abnehmpartnern, bis hin zu Gruppen, die mit › Meanspo ‹ (von › mean ‹ und › inspiration ‹) arbeiten, Mitglieder bei Regelverstößen also beschimpfen und förmlich › zur Sau ‹ machen: In ihren fünf Jahren in der Magersucht hat Petra das meiste probiert, was Pro-Ana zu bieten hat. Seit Dezember letzten Jahres hungert sie gemeinsam mit sieben anderen jungen Frauen in einer Whatsapp-Gruppe. Die meisten studieren, sind Anfang 20, und alle leben schon jahrelang als › Anas ‹, wie sie sich selbst nennen. 200 bis 300 Nachrichten am Tag verschicken sie in der Gruppe. Von banalen Alltagsgeschichten bis zu einschlägigen Texten.

Die Abnehm-Regeln bleiben seit Petras erster Gruppe immer ähnliche. Mitglieder dürfen das Kalorienlimit von maximal tausend pro Tag nicht überschreiten, also nur halb so viel essen, wie eine durchschnittliche Frau mit 19 Jahren braucht, um den Körper mit genügend Nährstoffen zu versorgen. Am Abend müssen sie ein Foto von der Gewichtsanzeige der Waage und eine Auflistung der verbrannten und zu sich genommenen Kilokalorien in die Gruppe schicken. Zusätzlich führen die jungen Frauen eine BMI-Liste – der Body Mass Index ist eine Maßzahl für die Bewertung des Körpergewichts in Relation zur Körpergröße – und dokumentieren ihre Abnehm-Bilanzen mit Strichdiagrammen.

Petra hält ihr Telefon vor die Webcam und zeigt die letzten Monate. Langfristig gesehen stagniert ihr Untergewicht entlang von Sinuswellen. Eine Zeit lang wandert die Kurve nach unten, dann schießt sie wieder nach oben. Von diesen Unregelmäßigkeiten sind alle Gruppenmitglieder gleichermaßen betroffen, denn das extreme Untergewicht, das sie anstreben, ist lebensgefährlich und nicht dauerhaft zu halten. Laut Wunderer wehrt sich der Körper automatisch gegen starken Gewichtsverlust. › So gibt es oft Plateaus in der Gewichtsabnahme oder sogar Gewichtszunahmen. Leider werden diese von den Betroffenen als Niederlage erlebt ‹, sagt Wunderer. › Da sie sich in einem viel zu niedrigen Gewichtsbereich befinden, müssen sie sich täglich zügeln und kasteien. Viele von Anorexie Betroffene haben auch Essanfälle. ‹

Schimpftiraden, wenn Mitglieder die Regeln missachten, gibt es in Petras aktueller Gruppe nicht, dafür aber harte Strafen. Wenn jemand vergisst, die Waagebilder zu schicken, dann muss diejenige drei Tage lang fasten. Petra sei das noch nicht passiert, einigen anderen schon. › Dann wird viel Glück gewünscht, oder man fastet einen Tag mit. Wir wollen uns nach einem Regelbruch ja unterstützen. ‹

Aber niemand will, dass die anderen einen auf der BMI-Liste überholen. Was die jungen Frauen antreibt, bleibt der Vergleich untereinander. › Die Waage sagt, ob heute ein guter oder ein Scheißtag ist. Steht da ein Plus, kannst du’s vergessen. ‹ Aktuell ist Petra auf dem zweiten Platz. Vor ein paar Tagen hat Isabella sie überholt. Jetzt möchte Petra › voll durchstarten ‹ und wieder die Beste werden, endlich die Kontrolle erlangen. › Es wirkt wie ein Spiel, doch es geht um das Leben ‹, sagt Wunderer, › dahinter zeigt sich die Not der Betroffenen: Sie sehnen sich danach dazuzugehören, gut oder sogar besser zu sein, alles richtig zu machen. ‹

Schicksale wie jenes von Petra gibt es unzählige. Menschen mit Essstörungen brauchen oft lange Zeit, bis sie Behandlung in Anspruch nehmen und bleiben so über Monate, manchmal Jahre hinweg Teil einer hohen Dunkelziffer. Wie viele Menschen in Österreich an Essstörungen leiden, weiß niemand ganz genau. Ein ganzes Drittel der Mädchen ist gefährdet, eine Essstörung zu entwickeln. Jeder 16. Jugendliche zwischen elf und 18 Jahren leidet bereits an einer. Und 90 bis 95 Prozent aller Erkrankten sind weiblich. Das geht aus der MHAT-Studie › Mental Health in Austrian Teenagers ‹ hervor, die unter der Leitung von Andreas Karwautz und Gudrun Wagner an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Med-Uni erhoben und 2017 veröffentlicht wurde. Zahlen zu Essstörungen in Österreich gab es zuvor nicht. Dieser Datenmangel erschwert die Behandlung enorm.

Ganz gleich, ob man bei Hausärzten und Diätologen, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder den Zentren für Psychotherapie nachfragt: Seit der Corona-Pandemie haben sich Fälle wie jener von Petra extrem vermehrt. Schon davor stieß die medizinische Infrastruktur für die Behandlung von Essstörungen vielerorts an ihre Grenzen. Jetzt platzt sie förmlich aus allen Nähten. In den Stationen müssen Ärzte triagieren, Betroffene warten teilweise monatelang auf Therapieplätze in Ambulanzen – was sie im schlimmsten Fall das Leben kostet.

Auch Petras gestörtes Essverhalten hat sich weiter verschlechtert. Die Pandemie weckt ihr Bedürfnis nach Kontrolle. › Während Corona möchte ich zumindest die Macht über das Essen behalten. Das kann ich noch selbst bestimmen ‹, sagt sie. Gleichzeitig hadert sie mit Gedanken an ihre nächste Mahlzeit. Ausgangsbeschränkungen und Lockdown halten sie gefangen zwischen Kühlschrank und Speisekammer. Um ihr Wunschgewicht zu erreichen, verheimlicht sie ihre Symptomatik, auch vor der eigenen Partnerin.
Petra liebt Alena, die so nicht heißt, über alles. › Obwohl sie mehr auf den Hüften hat ‹, sagt sie, › das finde ich bei ihr wunderschön, nur ich möchte so nicht aussehen. ‹ Gemeinsam kümmern sie sich um zwei Maine-Coon-Katzen, die während der Interviews immer wieder ins Bild hüpfen und auf Petra herumtanzen. Mehr als zwei Jahre schon kennen sie sich, haben ein Haus am Berg gemietet und leben dort zusammen. › Wir sind wirklich glücklich ‹, sagt Petra.

Einzig Ana steht zwischen ihnen – und damit das Essen. Petra belügt ihre Partnerin mehrmals täglich. Ungewöhnlich ist das laut Wunderer nicht. › Viele Betroffene verheimlichen ihre Essstörung über Monate oder gar Jahre hinweg vor Familienangehörigen und den Partnerinnen und Partnern. ‹ Während des Jobs im Supermarkt verzichtet Petra › aus Stress ‹ auf eine Mahlzeit in der Mittagspause und freut sich vor ihren Kolleginnen auf das Abendessen. Alena erzählt sie dann, schon so voll vom Mittagessen in der Arbeit zu sein, dass sie jetzt nichts mehr runterbringe.

› Wenn ich etwas esse, dann möglichst vor ihr, damit sie nichts ahnt. ‹ Anders ist eine Ernährung mit maximal tausend Kalorien am Tag nicht zu verstecken. Es ist ein aussichtsloses Dilemma, in dem Betroffene gefangen sind, sagt Wunderer. › Sie wollen niemanden be­lügen, aber sie wollen die Essstörung auch nicht offenlegen. Aus Scham, um nicht zur Last zu fallen, und nicht zuletzt, weil Essstörungen oft als »Pubertätskrise« oder »Wohlstandsspinnerei« diskreditiert und verkannt werden. ‹ Aber Petra kocht. Gerne für sich allein, lieber nur für Alena. › Typisch ‹ sei das, sagt Wunderer. Für Petra ist es eine Challenge. › Ich mach Essen und rühr es nicht an ‹, sagt sie, › dann fühl ich mich erfolgreicher, weil ich sagen kann: nein, ich bin stärker, selbst wenn es vor der Nase steht. ‹ Ihre Partnerin hingegen isst sehr gerne. Trotzdem versucht Alena Diäten – gemeinsam mit Petra.

Zuletzt verzichteten beide auf das Abendessen. Von Mahlzeiten nach 17 Uhr nehme man am meisten zu, hatte Petra Alena erzählt. Darum ist Alena auf den Plan eingestiegen. › Mir hat das in die Karten gespielt. Vielleicht hab ich sie da ein bisschen manipuliert ‹, sagt Petra und schmunzelt kurz. Bedenken, dass ihre Partnerin durch solche Spielchen selbst eine Essstörung entwickeln könnte, hat sie nicht. › Ich esse, um zu existieren, nicht weil es gut schmeckt. Alena hingegen liebt es. Die könnte niemals Ana werden ‹, sagt sie.

Dass Alena ein normales Essverhalten zeigt und Diäten › nicht durchhält ‹, ist laut Wunderer eine Ressource für Petra. › Zu meinen, dass jemand, der mit Genuss und gerne isst, nie an Magersucht erkranken kann, ist jedoch ein Irrglaube, denn Essstörungen haben allenfalls sehr vordergründig mit dem Essen zu tun. ‹ Mittlerweile isst Alena wieder wie gehabt ihr Abendessen. Petra nicht. Ein kleiner Sieg aus der Perspektive einer Identität, die vom Vergleich mit anderen lebt.

Schon mit 15 hungert Petra sich einmal auf ihren Tiefpunkt und damit fast auf das Wunschgewicht von 39 Kilogramm. Das massive Untergewicht fordert seinen Tribut. Petra fallen Haare aus. Obwohl sie Sport liebt, schafft sie es kaum noch vor die Tür. Ein Körper ohne regelmäßige Nahrungszufuhr fährt seine Funktionen herunter. Das Herz schlägt langsamer. Der Blutdruck sinkt. Jedes Mal, wenn sie aufsteht, wird ihr schwarz vor Augen. Ihre Oberschenkel berühren sich beim Sitzen nicht mehr. Wirbelsäule und Schlüsselbeinknochen stechen wie Dornen aus ihrem Körper. Sie schützen Petra vor den Urteilen der Außenwelt. Die Blicke der Menschen schmerzen nicht mehr. Worte verlieren ihre Bedeutung, denn in ihrem Delirium empfindet Petra die lang ersehnte Kontrolle.

Es kommt, wie es kommen muss: Petra kann das extreme Untergewicht nicht halten. › Ich war am Ende, und mein Kopf hat gesagt: Wenn ich so weiter mache, endet das nicht gut. So habe ich mich ins Leben zurückgekämpft ‹, sagt Petra. Ein paar Wochen später ist sie wieder auf ihrem Anfangsgewicht von 48 Kilogramm – und hungert allem Leid zum Trotz bald darauf doch wieder. › Es lässt mich nicht los. Wenn ich Krebs hätte, dann würde ich den weghaben wollen. Aber in mir ist etwas, das mir sagt, dass diese Krankheit zu mir gehört. ‹ Der körperliche Zusammenbruch ist für Petra zwar damals ein Weckruf, doch sie bleibt in ihrer Essstörungs-Identität verhaftet, sieht dauerhaft keinen anderen Weg für sich. › Eine Essstörung aufzugeben, bedeutet eben nicht nur, einfach wieder zu essen und zuzunehmen ‹, sagt Psychologin Wunderer, › wenn ich denke, die Essstörung gehört zu mir und macht mich aus: Wer bin ich, wenn sie weg ist  ? Es ist professionelle Hilfe nötig und Unterstützung aus dem sozialen Umfeld, um eine andere Identität aufzubauen. ‹

Die derzeit zur Verfügung stehenden Behandlungsmethoden bei Anorexie erreichen eine Ansprechrate von maximal 80 Prozent. Deswegen fordern Expertinnen und Experten nachdrücklich höhere Fördermittel für die Forschung, um neue Behandlungsmethoden zu entwickeln und das Hilfsangebot für Menschen mit Essstörungen aufzustocken.
› Ich glaube, meine größte Angst ist, dass Leute enttäuscht wären. Ich habe alle, die ich liebe, jahrelang belogen. Würde ich es ihnen sagen, wäre ich auf ewig die mit einer an der Klatsche ‹, sagt Petra. Wie sie haben viele Betroffene Angst, andere zu enttäuschen und nicht geliebt zu werden, bestätigt Wunderer. Angehörige und Partner machen sich oft Vorwürfe, haben selbst Schuldgefühle – was die Betroffenen zusätzlich belastet. Wie kann man es besser machen  ? › Aus meiner Sicht ist es wichtig, den Verdacht auf eine Essstörung anzusprechen. Ohne Vorwürfe und Diagnosen, stattdessen die eigene Sorge betonen ‹, erklärt die Expertin. Als nächster Schritt sei es unumgänglich, zu professioneller Unterstützung zu motivieren und sich auch selbst Hilfe zu holen. › Essstörungen sind heilbar, Betroffene ­haben kein »lebenslang«-Schicksal ‹, sagt Wunderer, › am meisten helfen ihnen liebevolle Zuwendung, Zuversicht und viel Geduld, um wieder gesund zu werden. ‹

Ob Petra jemals in Therapie gehen wird, ist offen. Morgen wird sie wieder ihren Berg hinauflaufen. Vorbei an den altmodischen Häusern, den summenden Bienen und den mampfenden Kühen – wieder ein bisschen schneller und anstrengender als nötig, in ihrem Kopf die hämmernde Stimme der Anorexie. Übermorgen dasselbe. Vielleicht aber wird sie eines Tages stehen bleiben, die Idylle sehen und den Entschluss fassen, ihr Leben zu ändern. •

 

Hotline für Essstörungen der Wiener Gesundheitsförderung
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E-Mail-Beratung :
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Sowhat. Kompetenzzentrum für Menschen mit Essstörung
Tel. : 01 40 65 717
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