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Anna und Jehova

Bekehrungsversuche, Familiendrama, soziale Isolation: Was passiert, als eine junge Frau die Zeugen Jehovas verlässt.

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Illustration:
Daniel Garcia

Bevor Anna Müller zum ersten Mal die Universität betritt, bevor sie den letzten Schritt in ihr neues Leben geht und die Vergangenheit hinter sich lässt, geht sie in ein Café. Sie trinkt eine Tasse Kamillentee, isst noch ein Brot mit Kichererbsenaufstrich und macht sich dann auf den Weg zu ihrer ersten Vorlesung. Sie geht vorbei an grünen Parkflächen und hippen Studentenlokalen, wie sie sie nun öfters sehen wird. Durch prunkvolle Passagen und endlos lange Gänge mit marmornen Säulen. Vor einer blaugrauen Türe macht Anna dann halt. ›Hörsaal 41. Hier muss es sein‹, sagt sie und atmet tief ein. Es ist der Moment, auf den sie seit ihrer Kindheit gewartet hat. Und den sie eigentlich nie erleben hätte sollen.

Anna ist 19 Jahre alt, gebürtige Wienerin und wuchs in einer Familie streng gläubiger Zeugen Jehovas auf. Wenn es nach Mama und Papa gegangen wäre, müsste sie jetzt in einem Büro oder Sekretariat sitzen, aber sicher nicht in einem Hörsaal. Statt des Schreibblockes sollte da eine Bibel vor ihr liegen, und anstatt abendlicher Partys sollte sie lieber beten und predigen. 17 Jahre lang hat sie sich den Regeln der Zeugen Jehovas gebeugt, ließ Tag und Nacht von der Religion bestimmen. Bis der Druck zu groß wurde und sie ausstieg. Das komplexe Regelwerk der in Österreich anerkannten Religionsgemeinschaft zwingt junge Menschen wie Anna immer wieder in ein Leben, das ihnen nicht gemäß ist. Ein Leben, in dem früh geheiratet wird und bald Kinder im Garten spielen sollen, in dem jeden Tag gebetet wird und man sich wöchentlich mehrmals trifft. Studieren gehört zu so einem Leben nicht dazu, es gilt unter den Zeugen Jehovas als verpönt.

Zwei Wochen vor ihrer ersten Vorlesung sitzt Anna im Schneidersitz auf einer grünen Wiese und zupft Grashalme aus dem Boden. Sie gehört zu jenen Menschen, die etwas Zeit brauchen, bis sie Fremden vertrauen können. Deshalb soll es fürs Erste der Wiener Stadtpark sein, schreibt sie am Vortag per WhatsApp. Die Bedingung für das Treffen: Anna will in der ganzen Geschichte anonym bleiben und ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen. ›Ich will nicht, dass das Ganze noch schlimmer wird‹, schreibt sie, ›ich will eigentlich nur, dass andere erfahren, was es bedeutet, in so einer Religion aufgewachsen zu sein.‹ 

17 Jahre lang hat sie sich den Regeln der Zeugen Jehovas gebeugt, ließ Tag und Nacht von der Religion bestimmen. Bis der Druck zu groß wurde und sie ausstieg.

Auf den ersten Blick wirkt Anna gar nicht wie jemand, der in einer streng christlichen Religionsgemeinschaft groß wurde. Sie wirkt eher wie eine ganz normale junge Frau, eine, die gerade mit der Schule fertiggeworden ist und der nun die Welt offensteht. Sie hat neugierige braune Augen und wuschelige Haare, wie eine Künstlerin. Ihre Jeans sind modisch zerrissen und die Stiefel pechschwarz. Sobald Anna aber beginnt, über ihre Vergangenheit zu erzählen, über die unzähligen Stunden, die sie mit Bibellesen verbracht hat und über die vielen Menschen, die sie vielleicht in ihre damalige Religion gelockt hat, verändert sich das Bild von ihr schlagartig. Nicht nur ihr Gesicht wird etwas kälter, ihr ganzer Körper geht in die Defensive. Als würde sie versuchen, gegen etwas anzukämpfen. Und plötzlich sitzt da keine Maturantin mehr im Gras, sondern eine Frau, der man ansieht, dass sie eine schwierige Vergangenheit hat.

Jeder hat die Zeugen Jehovas schon einmal gesehen, sei es an Bahnhöfen oder vor Einkaufszentren. Doch was hinter der Fassade steckt, wissen nur die wenigsten Außenstehenden. Dass es sich dabei etwa nicht nur um eine Randerscheinung handelt. Dass sie seit 2009 eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft sind und mehr als 20.000 Mitglieder in Österreich zählen. Dass fast in jedem größeren Ort in Österreich ein sogenannter Königreichssaal steht, in dem sich die Gläubigen mehrmals wöchentlich versammeln. Und dass die Mitglieder einem strengen zentralistischen Regelsystem unterliegen, einem, das für weltliche Menschen weit weg jeglicher Vorstellung liegt. 

1881 gründete Charles Taze Russell eine christlich ausgerichtete Glaubensgemeinschaft, die ›Zion’s Watch Tower Tract Society‹, damals entstanden aus Unstimmigkeiten, die er in der Bibel erkannt haben wollte. Bald entwickelte sich mehr daraus, und es spalteten sich die ›Ernsten Bibelforscher‹ ab, jene religiöse Bewegung, die als direkte Vorgängerin der Zeugen Jehovas gilt. Sie schufen eine neue christliche Lehre, eine, die die Bibel wortwörtlich nimmt. Heute agiert die sogenannte Wachtturmgesellschaft, die hinter den Zeugen Jehovas steht, laut eigenen Angaben ›in über 230 Ländern und Territorien‹. Sie zählt mehr als acht Millionen Mitglieder und organisiert sich in mehr als 110.000 Ortsversammlungen. Zweimonatlich gibt sie die Zeitschrift ›Wachtturm‹ heraus, die mit rund 80 Millionen produzierten Stück die auflagenstärkste Zeitschrift der Welt ist. Die Zeugen Jehovas sind einerseits eine Religion der Superlative, scheinbar von Fleiß und Gutmütigkeit geprägt, aber andererseits sind sie auch eine Religion, die für ihr striktes Regelwerk immer wieder kritisiert wird. Denn ein guter Zeuge Jehovas feiert weder Weihnachten noch seinen Geburtstag. Er darf sich nicht politisch engagieren, auch nicht wählen gehen. Seine Freunde und Partner hat er stets in der eigenen Religion zu suchen, Fremdblut darf er keines annehmen, auch nicht, wenn es ihm das Leben retten könnte. Von Tabak, Alkohol und anderen Drogen sollte er die Finger lassen, und Sex vor oder außerhalb der Ehe ist sowieso nicht erlaubt.

Anna war ihr Leben lang Teil dieser Religion, sie war eine von den acht Millionen, verteilte selbst die Wachtturm-Ausgaben an andere Menschen. Und sie hielt sich an all diese Regeln. An jene Regeln, die ihr später das Studieren untersagen sollten und ihr nach ihrem Austritt den Kontakt zu ihrer Familie verbieten würden. Bereits kurz nach ihrer Geburt wird Anna von ihrer Mutter im Kinderwagen mit zum Predigtdienst, dem Zu-Tür-zu-Tür-Gehen, genommen. Mit drei Jahren sitzt sie dann oft schon stundenlang in den Versammlungen, den Gottesdiensten der Zeugen Jehovas, und singt bei Liedern mit, die sie noch lange nicht verstehen kann. Sie lernt die Regeln schnell, weiß, was Mama und Papa zulassen und was nicht. Bevor gegessen werden darf, muss Papa immer ein Tischgebet sprechen. Will Anna nachmittags mit anderen spielen, dann nur mit Kindern aus der Gemeinde, und vor dem Einschlafen gibt es eine Gute-Nacht-Geschichte aus der Bibel. 

Die Wachtturmgesellschaft agiert laut eigenen Angaben ›in über 230 Ländern und Territorien‹. Sie zählt mehr als acht Millionen Mitglieder und organisiert sich in mehr als 110.000 Ortsversammlungen.

›Mit fünf Jahren schon war ich eine Muster-Zeugin Jehovas‹, sagt sie, das, was sich ihre Eltern immer gewünscht hätten. Annas Mutter nahm damals zwei Kinder mit in ihre Ehe. Auch Annas Vater hatte schon ein Kind. Die neue Religion ihrer Eltern gefiel den dreien allerdings alles andere als gut. Vor Annas Geburt noch verließen zwei der drei Geschwister die Religion und damit das Elternhaus. Auch die dritte Tochter spurte irgendwann nicht mehr und wurde von den Eltern vor die Türe gesetzt. Alles, was den Müllers noch blieb, war ihre einzige gemeinsame Tochter, jene, die komplett unter den Regeln der Zeugen Jehovas aufwachsen sollte: Anna. So musste sie schon im Vorschulalter mehrmals monatlich von Haus zu Haus gehen, hörte sich dreimal die Woche die Versammlungen an und saß auch daheim jeden Tag vor der Wachtturm-Literatur. Und dann, erinnert sie sich, war da ein Vorfall. Etwas, das andere, denen sie es erzählt hat, mit offenem Mund hat dastehen lassen. Anna ist fünf Jahre alt und ein kleines Mädchen, als sie eines Tages, sie erinnert sich, im Garten steht. Es ist ein schöner Tag, die Wiesen grün, der Löwenzahn blüht, und der Nachbar mäht den Rasen, nichts Besonderes. Bis Anna sich, und sie weiß nicht mehr, wieso sie es getan hat, an den Zaun stellt und folgenden Satz ruft: ›Euer Gott ist der falsche und ihr werdet alle sterben!‹ Wie kommt Anna auf so etwas? Wie kann es sein, dass eine Fünfjährige ihrem Nachbarn den sicheren Tod verspricht?

Die Antworten auf diese Fragen liegen in der Bibel. In vielen Passagen gibt es Anzeichen für eine große Schlacht, eine Art Weltuntergang. Die Zeugen Jehovas nennen ihn ›Harmagedon‹. Nach ihrem Verständnis werden allerdings nur all jene diese Schlacht überleben, die an Jehova glauben und sich an seine Regeln halten. Und nur sie sollen es auch sein, die danach ewig weiter auf der Erde leben dürfen. Alle anderen werden sterben. ›Harmagedon ist der Grundstein vieler Überlegungen der Zeugen‹, sagt Gerd Borchers-Schreiber, Experte für die Religionsgemeinschaft. Die Sache mit dem Studieren etwa käme auch davon. Demnach würde es sich nämlich für die Mitglieder schlichtweg nicht mehr auszahlen, studieren zu gehen, lieber sollte man noch so viel wie möglich beten. Borchers-Schreiber ist schon ein älterer Herr, er hat graue Haare am Kopf und tiefe Falten im Gesicht. Früher war er selbst jahrzehntelang bei den Zeugen Jehovas, kannte sogar Männer aus der sogenannten Leitenden Körperschaft, der weltweiten Führungsspitze der Religionsgemeinschaft. Heute klärt er darüber auf. ›Auch der ­Predigtdienst kommt in gewissen Maßen davon.‹ Da die Zeugen Jehovas davon ­ausgehen, dass bei Harmagedon alle Un­gläubigen sterben werden, und sie die Bibel aber auch dazu verpflichtet, anderen Menschen zu helfen, wollen sie noch so viele wie möglich retten. Je mehr Menschen sie dazu bringen, ihren Glauben zu ändern, desto mehr haben sie vor dem Tod gerettet, so die Logik. ›Das macht es schwierig, die Zeugen Jehovas in Gut und Böse einzuteilen‹, so Borchers-­Schreiber. 

Es ist ein warmer Sommertag und Anna ist acht Jahre alt, als sie sich im Ernst-Happel-Stadion stolz unter die Tribüne zu den anderen Kindern setzt. Damals findet nicht nur der jährliche Kongress der Zeugen Jehovas statt, bei dem Tausende Gläubige ins Ernst-Happel-Stadion pilgern, sondern auch Annas Taufe. Die letzten vier Wochen über hat sie mit ihrer Mama alles vorbereitet, hat diesen Tag bis ins kleinste Detail geplant. Die Taufe ist der wichtigste Tag im Leben eines Zeugen Jehovas. Erst wenn Anna getauft wurde, gehört sie dazu, und auch erst dann muss sie sich offiziell an die Regeln halten. Bevor es so weit ist, geht es für sie und die anderen Täuflinge erstmal in die Umkleide. Sie ziehen sich noch ihre Badesachen an, bekommen die letzten Instruktionen und gehen dann in Reih und Glied hinaus zum Schwimmbecken in die Mitte des Stadions. Dort steht ein Mann in weißem T-Shirt, er hebt im Minutentakt die Täuflinge kurz hoch, taucht sie ins Wasser und hebt sie dann wieder hoch. Als Kind hat Anna sich immer vorgestellt, dass sie beim Untertauchen etwas spüren würde, sagt sie. So wie Jesus, als er getauft wurde. In der Bibel steht nämlich, dass er den Heiligen Geist spürte und in Form einer Taube herankommen sah. Doch als Anna untergetaucht wird, spürt sie nichts außer das Chlor in ihren Augen. ›Glücklich war ich trotzdem.‹

Ein paar Jahre später sitzt Anna zwischen Mathematikbüchern und Wachtturm-Zeitschriften in ihrem Zimmer, als sie das erste Mal zu zweifeln beginnt. Es sind die strikten Regeln und die kleinen Unstimmigkeiten innerhalb der Lehre, die ihr aufgefallen sind. Wie kann es etwa sein, dass ein so liebender Gott, wie Jehova es sein soll, alle Ungläubigen töten will? Wie kann es sein, dass ein Gott, der nur das Beste für sie will, so viele Anforderungen an sie stellt? Und wieso darf sie nichts davon in Frage stellen? Die nächsten Wochen und Monate verbringt Anna damit, Antworten auf ihre Fragen zu suchen, um herauszufinden, was mit ihrer Religion eigentlich los ist. Doch sie findet keine. Nur noch mehr Dinge, die für sie keinen Sinn mehr ergeben.

Auf einer Halloween-Party irgendwo in einem Dorf 50 Kilometer außerhalb von Wien steht Anna das erste Mal in einem Bierzelt. Sie ist 14, noch nie zuvor hat sie Bier getrunken, und noch nie zuvor hat sie die Regeln der Zeugen Jehovas so schwerwiegend gebrochen. Es ist ein befreiendes Gefühl. Endlich tut sie das, was sie will, und nicht nur das, was die Religion von ihr verlangt. Der Abend wird dann noch lang, aus dem einen Bier werden zwei, fünf, acht. Sie bekommt gleich beim ersten Mal einen Vollrausch ab. Trotzdem geht sie am nächsten Morgen zum Predigtdienst, lässt sich nichts anmerken, denn ihre Eltern sollen erst einmal nichts davon mitbekommen. Sie beginnt jetzt aber, regelmäßig fortzugehen. Manchmal raucht sie auch heimlich nach der Schule, und sie trifft sich mit Burschen. Gleichzeitig beginnt ein ständiges Versteckspiel, es darf sie niemand von ihrer Versammlung sehen, sonst wird sie verpfiffen. Ihre Eltern muss sie ständig belügen, jeden Tag. Und die Predigtdienste, Versammlungen und Bibelstudien? Die macht sie weiter. Zum Schein. 

Zwischen Vorspeise und Hauptspeise nimmt Anna dann eines Tages all ihren Mut zusammen und sagt einen Satz, der ihr schon lange auf der Zunge liegt: ›Mama, Papa, ich weiß nicht, ob ich noch an Gott glaube.‹ Stille. Nun ist es gesagt, Anna ist erleichtert. Was das für Folgen hat, realisiert sie erst in den Minuten danach, als ihre Eltern beginnen, mit ihr zu schreien, so schildert sie es später. Was das eigentlich soll, fragen sie Anna, und ob sie wisse, was das jetzt für sie und die Familie heißt. Als Anna am nächsten Tag von der Schule heimkommt, ist sie irritiert. Bevor sie noch die Türe schließen kann, sieht sie, dass ihre Eltern in der Küche sitzen. Mit einem fremden Mann. Als er sich zu ihr umdreht, erkennt sie das Gesicht. Es ist ein Ältester aus ihrer Versammlung. Annas Eltern sind noch am vorherigen Abend zur Versammlung gegangen und haben dem Mann von Annas Zweifel berichtet, der die Versammlung leitet. Jetzt sitzt er in ihrer Küche. ›Komm, wir gehen mal ein bisschen spazieren‹, sagt er zu Anna.

Die nächsten Monate muss Anna wöchentlich ein Bibelstudium mit dem Ältesten abhalten. Ihre Zweifel sollen damit beseitigt werden. Auch ihre Eltern machen ihr Druck, drohen ihr, sie rauszuschmeißen, falls sie wirklich aussteigen sollte. Für Anna beginnt eine schwierige Zeit. Ihre Eltern, ihre Versammlung, ihre Freundinnen aus der Gemeinschaft und der Älteste, es wollen sie alle dazu bringen, wieder an Gott zu glauben. Als sie 16 ist, wechselt der Älteste, der mit ihr das Bibelstudium führt, noch einmal. Es ist ein kleiner Lichtblick, statt des strengen Mittfünfzigers sitzt da nun ein jüngerer Künstler mit ihr in der Küche. Anna versteht sich auf Anhieb mit ihm, sie reden oft und viel gemeinsam. Kurz überlegt sie noch, vielleicht doch nicht auszusteigen. Aber irgendwann hält sie auch das nicht mehr aus. Mit 17 entscheidet sie sich endgültig gegen die Zeugen Jehovas. Auf der Heimfahrt eines Bibelstudiums beginnt Anna neben dem Ältesten zu weinen. Sie wolle nicht mehr, sagt sie, es würde das letzte Mal sein, dass sie sich treffen. Der Älteste antwortet, ob sie wisse, was das dann heißt, dass sie sich, wenn sie wirklich aussteigen möchte, dem Rechtskomitee stellen müsse, einem Komitee aus drei Ältesten, die eine Art Gerichtsverfahren mit demjenigen abhalten, der die Regeln gebrochen hat. Doch Anna weigert sich. Sie macht dem Ältesten klar, dass sie nie wieder etwas mit den Zeugen Jehovas zu tun haben wird, auch nicht mit irgendeinem Rechtskomitee. 

Wie kann es etwa sein, dass ein so liebender Gott, wie Jehova es sein soll, alle Ungläubigen töten will?

Am nächsten Tag erhält sie einen Brief, den ihr die drei Ältesten ihrer Versammlung geschrieben haben. ›Liebe Anna, wir fühlen uns von Herzen gedrängt, Dir einige Zeilen zu schreiben…‹ Anfangs klingt es für Anna wie eine Entschuldigung, sie ist erstaunt, doch je weiter sie liest, desto mehr wird es zu dem, was sie sich erwartet hat: Ein Brief, der sie mit Zitaten und Metaphern aus der Bibel von ihrer Entscheidung abbringen soll. Aber Anna wird sich nicht mehr umentscheiden. Sie legt den Brief zur Seite und beginnt zu weinen. Aus Freude und Trauer zugleich. Anna hat es geschafft: Sie ist keine Zeugin Jehovas mehr.

Ein Monat nach ihrer ersten Vorlesung sitzt Anna im Café ›Alt Wien‹ im ersten Bezirk. ›Eigentlich bräuchte ich jetzt ein Achterl Wein‹, sagt sie, im Studium gehe es ihr zwar gut, doch daheim sei etwas passiert. Sie hat sich wieder einmal mit ihrer Mama gestritten, doch diesmal schlimmer als sonst. Sie habe sich gestern lange mit ihrem Freund darüber unterhalten, sagt sie, und sie sei sich nun sicher: ›Ich ziehe jetzt ganz von daheim aus.‹ Für 14 Uhr, in zwei Stunden, hat sie mit ihrer Mama den letzten Termin per SMS vereinbart. Sie wird ihr Zimmer räumen und alles vorerst bei ihrem Freund verstauen. Es ist ein wichtiger Schritt, findet sie, aber es ist auch einer, der sie traurig macht. ›Eigentlich wollte ich nie mit ihr streiten. Eigentlich wollte ich immer nur eine ganz normale Familie.‹ Sie ist den Tränen nahe. Anna ist eine starke Frau, eine, die vorbildlich ist, stets die Ruhe bewahrt und die nichts so leicht unterkriegt. Doch jetzt kann sie ihre Gefühle nicht mehr verstecken. 

Erst im Rückblick wird Anna so richtig klar, wie hart die Zeit seit ihrem Ausstieg war. Niemand aus der Gemeinschaft, seien es ihre früheren Freundinnen oder ihre eigene Familie, darf mehr mit ihr sprechen. Wenn sie doch einmal jemandem aus ihrer alten Versammlung über den Weg läuft, wechseln die Leute meist die Straßenseite. In der gleichen Zeit verschlechtert sich der Gesundheitszustand ihres Vaters rapide, bis er 2017 verstirbt. Manchmal sitzt Anna stundenlang nur da und weint. Das ständige Lügen, der Zwang ihrer Eltern und die Angst, die sie ständig begleitete, manchmal ist alles wieder da. Eines Abends zieht ihr Freund dann die Notbremse: Er drängt sie, sich professionelle Hilfe zu suchen, so könne es nicht weitergehen. Am nächsten Morgen schon wählt Anna die Nummer der Bundesstelle für Sektenfragen, einer Beratungsstelle für Betroffene von Sekten, und macht einen Termin aus. Beim Gespräch kommt dann die Ernüchterung: ›Frau Müller, leider dürfen wir Sie nicht beraten.‹

Die Frau, die Anna das mitgeteilt hat, heißt Ulrike Schiesser. Sie ist Psychologin bei der Bundesstelle für Sektenfragen und die österreichische Expertin auf diesem Gebiet schlechthin. Tagtäglich berät sie Menschen, die in Guru-Bewegungen geschlittert oder aus okkultistischen Gruppen ausgestiegen sind. Nur beim Thema Zeugen Jehovas wird sie vorsichtig. ›Dazu können wir uns nicht äußern‹, sagt sie. Ja, es würde immer wieder Anfragen von ehemaligen Zeugen Jehovas geben, und ja, sie empfinde es auch so, dass diese Menschen eigentlich Hilfe bräuchten, wenn sie sich an die Bundesstelle wenden. Doch aus gesetzlichen Gründen dürften sie ehemalige Zeugen Jehovas nicht beraten. Denn die Bundesstelle für Sektenfragen ist eine öffentliche Einrichtung, sie wird mit österreichischen Steuergeldern finanziert, und ihre Arbeit ist gesetzlich genau geregelt. Es dürfen keine Anfragen zu religiösen Gruppierungen bearbeitet werden, die den gesetzlichen Status als anerkannte Religionsgemeinschaft besitzen. Und genau den haben die Zeugen Jehovas. ›Da können wir nicht viel machen‹, so Schiesser, ›Gesetz ist Gesetz‹. Ihren Status haben sich die Zeugen Jehovas hart erkämpft. Österreich wollte sie zuerst nicht anerkennen, sie wären dem Staat gegenüber nicht positiv eingestellt, hieß es, ein wichtiges Kriterium für die Anerkennung. Erst nach mehreren innerstaatlichen Klagen und schlussendlich einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte lenkten die Behörden ein. Damit waren sie den anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften gleichgestellt. Das macht es für Menschen wie Anna nicht gerade einfacher. 

Ein kalter Dezembernachmittag, zwei Monate nach Annas erster Vorlesung. Draußen vor dem Fenster fallen die ersten Schneeflocken vom Himmel. Drinnen sitzt Anna vor ein paar Kisten am Boden und kramt darin herum. Das Zimmer, in dem sie jetzt sitzt, nennt sie das erste Mal ›Zuhause‹. Es ist nicht mehr das von ihrer Mutter oder das von ihrem Freund. Seit gestern Abend wohnt sie jetzt offiziell in einer Studenten-WG und hat endlich ihr eigenes Zimmer. Bis jetzt ist es noch spärlich eingerichtet, in der einen Ecke liegt nur eine lose Matratze am Boden, in der anderen stehen ein paar Sessel. Anna hat sich verändert. Sie spricht jetzt ruhiger, bedachter. ›Die Zeugen Jehovas haben mir meine Kindheit gestohlen, ja‹, sagt sie, aber das bedeute nicht, dass sie ihr ganzes Leben von ihnen beherrschen lassen muss. Eines will sie noch durchziehen, sagt sie. Sie will eine eigene Selbsthilfegruppe für junge Zeugen Jehovas aufmachen. Damit es die nächste Generation von Aussteigern wenigstens ein bisschen leichter hat als sie selbst. •