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Betonierte Freiheit

Auf einer Brache im Wiener Stadtteil St. Marx haben junge Leute in Eigenregie einen beliebten Skatepark gebaut. Bald sollen hier jedoch die Arbeiten für die größte Veranstaltungshalle der Stadt beginnen. Das wirft die Frage auf: Wer darf eigentlich die letzten Baulücken in einer Großstadt gestalten?

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Fotografie:
Jan Federer
DATUM Ausgabe November 2021

DIY or die‹ steht auf dem verwitterten Sticker. Und tatsächlich ist alles selbstgebaut: Von den Betonsteilkurven und -doorways bis zum Zaun aus dunklem Maschendraht, der den Skatepark umschließt. Auf der Holzeingangstüre ein Schild: ›Construction site. Watch your step‹. Klein darüber: ›This is a private property run by …‹, das Schild ist abgeblättert und unleserlich. Auf Englisch, damit es auch der häufig internationale Besuch versteht: Das hier ist eine Baustelle.
Die Tür quietscht laut beim Eintreten. Mindestens 50 Menschen, Teenager bis Twentysomethings sitzen, reden, trinken und skaten unter freiem Himmel. Man trägt an den Knöcheln hochgestellte Jeans zu Nikes und Vans, Teile des Parks werden kreativ als Möbel benutzt, nur um Sekunden später wieder mit einem Skateboard überflogen zu werden. Es fühlt sich nach geordnetem Chaos an. Und es riecht nach Teer plus frischer Luft.

Je weiter man in die verwinkelten Betonformationen vordringt, desto dichter und bunter werden die Graffitis, Sticker und Edding-Tags auf dem Zement. Die Flecken zwischen dem Beton füllen alte oder noch nicht benutzte Baumaterialien: Holzbalken, Fliesen, Pflastersteine und Straßenschilder. Das Ende des Parks bildet eine ausgedehnte Formation aus ›Bowls‹, ›Pools‹ und allem anderen, was vertikal befahren werden kann. ›Das is ein Ort zum wehduan‹, sagt jemand, der gerade aus dem weitläufigen Becken klettert.

Wiens größter diy-Skatepark steht im Wiener Stadtteil St. Marx, auf einem seit Jahren brachliegenden Schotterparkplatz. Eine kleine Gruppe von Skatern hat ihn in Eigenregie geplant und betoniert. Ein Angebot, das an guten Tagen von 50 bis hundert Menschen genutzt wird. Bald aber soll hier das neue Großprojekt ›Wien Holding Arena‹ gebaut werden. Daraus erwächst ein Konflikt, der typisch ist, für die wenigen verbliebenen Freiräume der Großstadt Wien. Was verschwindet, wenn sie verschwinden? Und wäre ihr Erhalt bloße Sozialromantik oder Ausdruck eines zeitgemäßen stadtplanerischen Umgangs mit gewachsenen Strukturen?
Das spätsommerlich warme Wetter scheint an diesem Oktobertag besonders viele Skaterinnen und Skater angelockt zu haben. Aber Shirin Omran meint, dass die Anlage auch im Winter nicht so schlecht besucht sei. Die 26-Jährige muss es wissen, denn sie skatet selbst regelmäßig mit Freundinnen und Freunden hier.

Neben dem Lehramtsstudium ist sie Jugendarbeiterin im Skatepark Penzing oder gibt Skateboard-Kurse für Kinder. Außerdem ist Shirin Teil der ›Brettl Bande‹, einer Gemeinschaft, die mehr ›Raum für women, queer, trans- und gender-nonconforming people‹ im Skaten schaffen möchte. Shirin sitzt auf einer großen Spannholzplatte inmitten des Areals, um sie herum halbleere Mineralwasserflaschen und fremde Tabakpackungen. ›Es gibt schon so einen harten Kern, aber es kommen auch immer neue Leute‹, sagt sie und rückt ihre große schwarze Brille zurecht. Warum? ›Hier kann man die Sau rauslassen, wenn man das Bedürfnis hat‹, sagt Shirin.

Skateparks boomen bereits seit einigen Jahren, in kleinen Gemeinden ebenso wie in Wien. Zur Freude der Skatebegeisterten wird dabei mittlerweile auch mehr Expertise aus der Skateszene miteinbezogen. Allerdings nur bis zu einer gewissen Grenze: Die Parks haben städtische Vorschriften einzuhalten, sie müssen sauber und geordnet aussehen. St. Marx ist diesbezüglich anders. Denn der selbstgebaute Skateplatz wird auch selbstverwaltet und stellt damit ein Unikum in Wien dar. Sehr zur Freude von Aficionadas wie Shirin: ›Es gibt einfach so ungeschriebene Regeln, die jeder checkt, es hat so eine Eigendynamik, man fühlt sich wohl.‹
Skateflächen nach eigenen Vorlieben legal konstruieren zu können, ist offensichtlich Kern dieser Eigendynamik: Nach den Vorstellungen der Skater und quasi unterwegs improvisierend wuchs die Fläche zu dem, was sie heute ist.

Und sie wächst noch weiter. An der Wand eines Containers befindet sich ein Metallgitterkasten. Darin steht, mit einer Kette versperrt, eine leicht rostige Betonmischmaschine. Der Container selbst beinhaltet hauptsächlich Baumaterialien und Werkzeug, um die Betonformation jederzeit erweitern zu können – ›Falls man spontan Lust kriegt‹, wie ein Skater sagt. Der ursprünglich gepachteten Fläche von 500 Quadratmetern ist der Park bereits seit einiger Zeit entwachsen. Gestört habe das bislang noch niemanden.

Die Nordseite des Containers schmückt das bärtige Gesicht von Karl Marx, im Comic-Stil und mit einem Heiligenschein. Das Kunstwerk ziert ein Schriftzug in schwarzen Großbuchstaben: ›don´t tear st. marx down‹.

Denn ausgerechnet auf diesem Brachgrundstück im 3. Wiener Gemeindebezirk soll bis 2024 die bisher größte Eventlocation der Stadt entstehen, so berichtete die apa bereits 2019. Die Stadthalle sei zu alt, zu klein und vor allem technisch nicht mehr geeignet für die Art von Veranstaltungen, die Menschen nach Wien bringen. So steht es zumindest in den Presseausendungen der Stadt Wien. 20.000 Menschen sollen in der neuen Halle in St. Marx Platz finden, das wären 4.000 mehr als in der Stadthalle. Wirtschafts- und Finanzstadtrat Peter Hanke erklärt auf Anfrage schriftlich, es gehe unter anderem um ›genügend Raum für Gastronomie, Merchandising und Logen bzw. Premiumseats‹. Die Arena ist laut Hanke nötig, um die Stadt als ›Top-Entertainment-Standort‹ abzusichern. Außerdem ›profitieren die Wienerinnen und Wiener durch noch mehr Events und Stars‹. 2019 wurde der Baubeginn noch mit 2021 datiert. Aber erst Ende 2020 stand das finale Gewinnerkonzept des Architekturwettbewerbs fest. Die Eröffnung wird inzwischen frühestens für 2026 geplant. In der Umgebung hängen Konzeptfotos eines grau-roten Stahlkolosses auf Plakatwänden. Aktuelle Infos zum Baubeginn aus dem Stadtratsbüro lagen zu Redaktionsschluss nicht vor. Fix ist: Geht es nach der Stadtregierung, sollen künftig sehr viel mehr Menschen als jetzt nach St. Marx kommen.

Eine lange Geschichte hat der Ort jetzt schon zu bieten: Im Mittelalter befand sich hier ein Quarantänelager für Pestkranke, 1851 gingen dann ein Schlachthof und Viehmarkt in Betrieb. Diese wurden 1997 endgültig aufgelassen. Eine neue Ära begann, als die Deutsche Telekom 2004 das Bürogebäude T-Center baute, auch das Forschungszentrum Vienna Bio Center wuchs zu beachtlicher Größe. Das heute ikonisch wirkende Eingangstor zum Areal mit den zwei weißen Stierstatuen war dagegen zu dieser Zeit noch verfallen. Das änderte sich spätestens, als die alte Rinderhalle 2014 als Event-Location in Vollbetrieb ging. Gleich nebenan befindet sich heute das Media Quartier Marx, Zuhause für Medienhäuser wie die Prosieben-Sat.1-Puls4-Gruppe oder die Wiener Zeitung. Bunte Design-Plakate schmücken die Gebäude, Restaurants und Cafés siedelten sich an, das Grätzel ist längst hip. Den Schlussstein für diese kommerzielle Modernisierung soll nun die Wien Holding Arena bilden.

Zugleich aber befindet sich in St. Marx auch immer noch eine der größten Brachflächen Wiens. Kulturveranstaltungen wie Konzerte und ein Flohmarkt finden hier derzeit ebenso Platz wie Kinder-Fußballspiele der Notunterkunft Erdberg. Zuständig für die Entwicklung des gesamten Gebietes ist die wse (Wiener Standortentwicklung GmbH), ein privatwirtschaftlich organisiertes Unternehmen im Eigentum der Stadt Wien. Im Sinne einer Standortaufwertung durch Zwischennutzung initiierte die wse auf der Brachfläche ein Urban Gardening Projekt. Dort treffen verschiedenste Alters- und Einkommensgruppen der Nachbarschaft zusammen und gestalten gemeinsam eine begrünte Ruheoase. Es wird Gemüse angebaut, und bei den wöchentlichen Treffen gemeinsam Pizza gebacken. Relativ zeitgleich entstanden das Stadtlabor der tu Wien und, mit großer Feier, der diy-Skatepark. Beide ebenfalls auf Einladung der wse und mit einem anfangs auf drei Jahre befristeten Mietvertrag. Andere Projekte folgten.

Pavle etwa saß am gemütlichsten Ort des Skateparks – unter dem Kastanienbaum –, als ihm die Idee kam, nebenan einen Basketballplatz zu bauen. ›Einen richtigen, mit Markierungen, auf dem man gescheit spielen kann und so, sowas gibts in Österreich sonst eh nicht.‹ Kurzerhand gründete der damals 23-Jährige einen Verein und baute sich selbst einen Court. Das Baggerfahren und Betonmischen lernte er nebenbei, ebenso wie das Einholen von Baugenehmigungen, Zulassungen und Förderzusagen. Mit viel Hilfe aus seinem Freundeskreis wurde die Idee zur Realität.

Die verschiedenen Initiativen haben Vieles gemeinsam. Unter anderem, dass grundsätzlich immer jede und jeder willkommen ist. Es gibt keine Einlasskontrollen oder bestimmte Voraussetzungen. Die Holztüre des Skateparks steht 24 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche offen, und jede Freundesgruppe, die schon öfters in St. Marx skaten war, hat entdeckt, wie sich die selbstgebastelte Flutlichtanlage einschalten lässt, erzählt Ben Beofsich. Er ist Obmann des ›Alm diy‹-Vereins. Das aktuelle Herzstück des Vereins ist der Skate-Park in St. Marx. Zum Gespräch dort erscheint er mit hochgekrempelter Arbeitshose und drei Dosen Schwechater. Der studierte Verkehrswissenschaftler arbeitet zusammen mit seinen Freunden in der ersten Skatepark-Baufirma Österreichs, Spoff Parks. Schon alleine wegen der Arbeit dort könne er nicht permanent vor Ort sein, sagt Beofsich. Der Platz laufe mehr selbstverwaltet, und es würden sich immer wieder unterschiedliche Personen um den Platz kümmern. Für ihn ist wichtig klarzustellen: Der Raum sei ein Anlaufpunkt für viele marginalisierte Gruppen. ›Ich bin selbst oft überrascht, wie bunt das hier ist, Skaten ist viel weniger normativ geworden‹, sagt Beofsich.

Von der Mega-Eventhalle hält Beofsich persönlich wenig überraschend gar nichts: ›Dieser Ort wird dann einfach totes Land sein‹, sagt er. Die Arena sei mehr etwas für Leute, die hundert Kilometer im Umkreis wohnen und zu einem Robbie-Williams-Konzert wollen, darin sind sich viele der Projektnutzerinnen und -nutzer einig. Beofsich meint: ›Die Menschen, die hier zum ­Skaten herkommen, haben keine Kohle für Hundert-Euro-Konzerttickets.‹ Natürlich sei es Teil des diy-Bauens, dass selbstgebaute Betonstrukturen wieder verschwinden würden. Trotzdem ›werden ein Haufen Menschen extrem haß sein, wenn das wegkommt‹. Obwohl er dankbar für die Nutzungserlaubnis ist, übt er auch Kritik am Konzept: Kollektive wie der Skatepark würden ausgenutzt, um das Viertel aufzuwerten und gewinnbringende Großprojekte anzuziehen. Als Dank würden sie dann von eben jenen Flächen vertrieben.

Die Stadtgeographin Yvonne Franz vom Institut für Geographie und Regionalforschung der Uni Wien hält autonome Orte wie St. Marx allerdings für sehr wichtig, weil dort eine Art gemeinsame Gestaltung des Raums möglich werde, die sonst in Wien oft fehle. In der Stadtentwicklung sei es wesentlich, unterschiedliche Positionen miteinzubeziehen. ›Wir müssen da auch in Wien weitergehen im allgemeinen Verständnis, wie Bürgerbeteiligung und Partizipation aussehen.‹ Zwar bietet die Stadt Wien eine Online-Vorhabenliste an, die Beteiligungs-Optionen bei Stadtentwicklungsprojekten auflistet und in der St. Marx sogar aufscheint. Allerdings: Der letzte Eintrag stammt aus dem Jahr 2016, das damalige Vorhaben ist mittlerweile längst verworfen. Auf die Frage nach Bürgerbeteiligung im Planungsprozess der Eventhalle gibt das Büro von Stadtrat Hanke keine Antwort. Man verweist jedoch auf dutzende Gespräche mit Geschäftsführern und Produktionsleitern der großen Konzert- und Eventveranstalter in der ersten Planungsphase.

Die Leitungen der Initiativen am Gelände haben alle erst aus der Zeitung von der Event-Halle erfahren. In Evaluierungsprozesse wurde niemand von ihnen eingebunden. Yvonne Franz räumt ein: ›Das Mitspracherecht ist natürlich immer auch eine Frage der Eigentumsverhältnisse einer Liegenschaft.‹ Wenn das Verweilen der selbstorganisierten Projekte aber nicht möglich sei, plädiere sie stark dafür, zumindest die Expertise von Zwischennutzungen in die langfristige Stadtplanung einzubinden. Kollektive wie auf der Brachfläche seien gut darin, Partizipation auf einer informellen, niederschwelligen Ebene zu gestalten. ›Das lädt eine ganz andere Vielfalt an Personen ein, die in formellen Partizipationsprozessen nicht aktiv wären‹, so die Expertin. Ein Beitrag zur demokratischen Teilhabe, den Franz für umso wertvoller hält, als man bedenken müsse, dass ›immer mehr Personen in dieser Stadt nicht wählen dürfen‹.

So ganz ohne Widerstand wollen die Nutzerinnen und Nutzer der Initiativen das Feld allerdings nicht räumen. Zahlreiche Gerüchte über Strategien und Pläne machen die Runde. Alle, mit denen man redet, haben etwas anderes gehört. Manche sind sich sicher, dass hier noch Großes bevorsteht, andere meinen, dass sich zu wenig Leute dafür interessieren würden. In letzter Zeit sind Graffiti-Tags auf den Plakaten der Eventhalle aufgetaucht. ›Neu Marx besetzen‹ oder ›Platz für Jugend statt Zubauen‹ steht da gesprüht. Leute von der Arena seien das gewesen, so wird gemunkelt. Die Arena, das ist in diesem Fall das 1976 besetzte Konzertgelände, welches sich etwa 400 Meter östlich von St. Marx befindet. Nach einem Musik-Festival im zum Abriss bestimmten Schlachthof besetzte das Publikum damals kurzerhand das Areal. Die Stadt Wien ließ die Bewegung als Kompromiss schließlich auf einem benachbarten Gelände ein bis heute bestehendes Kulturzentrum errichten.

Könnte sich Ähnliches ein knappes halbes Jahrhundert später in St. Marx wiederholen? Die Verantwortlichen der Nutzungsinitiativen betonen unisono, der Stadt Wien keine Schwierigkeiten machen zu wollen. Die wse habe schließlich von Anfang an klargestellt: Die Fläche gibt es nur, bis etwas anderes kommt. Außerdem hofft man durch Kooperation auf bessere Chancen für einen neuen, alternativen Standort. Für die kleinen Vorhaben bedeutet ein Umzug allerdings auch den Verlust von Investitionen. Diese sind meist aus eigener Tasche in den Aufbau und Erhalt der für alle gratis zugänglichen Projekte geflossen. Trotzdem sind die Kollektive dankbar für die Möglichkeit, die Fläche bis heute so lange nutzen zu können. Stadtrat Hanke verspricht einstweilen, dass die Stadt Wien die Nutzerinnen und Nutzer ›wie schon in der Vergangenheit bei der Suche neuer Standorte unterstützen‹ werde. Eine konkretere Zusage gibt es bisher nicht.

Was aber ginge eigentlich verloren, sollten die lokalen Initiativen verschwinden? ›Letztlich wäre das die Urbanität, ein Zusammentreffen von Vielfalt und Unterschiedlichkeiten‹, so Stadtexpertin Franz. Dieses einzigartige Miteinander wird laut Beofsich möglich, weil dem Ort von Menschen Leben eingehaucht wird und er nicht ›einfach nur von der Stadt hinbetoniert worden ist‹. Er vergleicht den Skatepark mit einem Kinderzimmer: ›Schau, wenn dir die ­Eltern das Zimmer einrichten, wirst du nicht so viel Freude damit haben und nicht so gern aufräumen.‹ Die Mietverträge für die Pachtungen sind monatlich kündbar. Für das Areal wurde schon öfters groß geplant und bisher dann doch nicht gebaut. Die Hoffnung der Kollektive ist, dass das noch ein bisschen so bleibt. Oder in den Worten Beofsichs: ›Ich glaubs erst, wenn irgendwer sagt: In einer Woche sind die Bagger da.‹ •

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