Das Gesicht der Disruption
Rutger Bregman drängt uns zur großen Steuerdiskussion.
Davos, 2019. Am Flughafen des verschneiten Hochtals parken 1.500 Jets der Gäste des Weltwirtschaftsforums. Rutger Bregman ist erstmals eingeladen. Der 30-jährige niederländische Historiker und Autor soll über seinen in mehr als 30 Sprachen übersetzten Bestseller sprechen, ›Utopien für Realisten‹. Er bemerkt die Höflichkeit im Umgang, aber auch die Begeisterung, mit der Unternehmer und Investoren Phrasen wie ›doing good by doing well‹ – also den Einsatz von Gewinnen etwa über Stiftungen – verwenden. Bregman geht in sein Zimmer. Er muss hier nie wieder eingeladen werden, er könnte auf der Bühne alles riskieren. ›Die Gäste fliegen mit ihren Privatjets hierher und weinen dann bei der Vorführung eines David-AttenboroughFilms über den Zustand des Planeten. Ich hatte das Ganze satt‹, erzählt er später in einem ZEIT–Interview.
Am nächsten Tag sitzt Bregman am Podium. Er sagt: ›Ich fühle mich wie auf einer Konferenz für Feuerwehrleute, auf der keiner über Wasser spricht. Das eigentliche Thema hier müssten Steuern, Steuern, Steuern sein.‹ Warum? Weil sich Staaten – nicht Reiche oder wohltätige Organisationen – klug, kühn und vorausschauend um die Bürger kümmern sollen. Weil Güter wie Bildung und Gesundheitsversorgung Recht sein müssen und kein Gnadenakt, so Bregman.
Bregman arbeitet bei der niederländischen Online-Zeitung The Correspondent – Unbreaking the news (ab September 2019 gibt es dieses Medium auch in englischer Sprache). In seinen Büchern plädiert er für die 15-Stunden-Woche und das bedingungslose Grundeinkommen. Volkswirtschaftlich rechnet er das Ganze durch, er verweist auf erfolgreiche Pilotprojekte. Er erinnert an die 1950er- und 1960er-Jahre, wo sogar in den USA oder Großbritannien Spitzensteuersätze von 80 Prozent galten, ›damals hatten wir richtige Erbschafts- und Immobiliensteuern.‹
Ist das Attribut für solche Ideen schlicht ›links‹? Die Debatte ›Kapitalismus versus Kommunismus‹ oder ›links versus rechts‹ wandere zum Glück langsam Richtung ›Humanismus versus Plutokratie‹, so Bregman jüngst in einem Mediengespräch mit Mitstreitern. Es gehe jetzt darum, Wähler im gesamten politischen Spektrum anzusprechen, um gemeinsam Korruption, Monopole und Freunderlwirtschaft zu beenden. ›Im Moment kannst du über Dinge sprechen, die noch vor ein paar Jahren unmöglich schienen. Das Overton-Fenster verschiebt sich‹, so Bregman.
Das Overton-Fenster ist ein Ansatz, der bestimmt, welche Ideen den Bereich der Akzeptanz innerhalb der möglichen Regierungspolitik einer Demokratie definieren. Ideenträger außerhalb des Fensters versuchen, die Öffentlichkeit zu überzeugen oder sie zu beeinflussen, um das Fenster zu verschieben oder es zu erweitern. Groß dimensionierte Besteuerung und kühne Ansätze für die Rolle des öffentlichen Sektors, wie sie Bregman andenkt, durchlaufen bis zu sechs Stufen: von undenkbar und radikal über akzeptabel, sinnvoll und aktuell bis hin zu Staatspolitik. Unmöglich, vermessen? Mitnichten, so Bregman. Das Studium der Geschichte habe ihn eines gelehrt: ›Die Dinge könnten immer auch anders sein.‹ •
Rutger Bregman, Jahrgang 1988, stammt aus den Niederlanden. Sein 2014 erschienenes Buch ›Utopien für Realisten‹ wurde zum internationalen Bestseller. Bregman ist bekannt für sein öffentliches Engagement für Steuergerechtigkeit.