Der Fluch des Faktischen
Notizen aus Utopia‹, so hieß die zehnteilige Kolumnenserie, die der Schriftsteller Ilija Trojanow vergangenes Jahr für dieses Magazin verfasst hat. Die Texte entstanden während Trojanows Arbeit an seinem utopischen Roman ›Tausend und ein Morgen‹, der dieser Tage im Verlag S. Fischer erschienen ist. (Trojanows Kolumnen finden Sie gesammelt auf unserer Website, indem Sie im Suchfenster ›Utopia‹ eingeben.)
Im Roman selbst lässt Trojanow Zeitreisende, mehrere sogenannte ›Chronautin‹ (in der Utopie gibt es kein Binnen-I, sondern nur diese simple, gendergerechte Form des Plurals), aus einer friedlichen Zukunft in die Vergangenheit reisen. Auf ihren Raumzeitreisen ins ›Damalsdort‹ erleben sie verblüfft und teilweise angewidert Phänomene wie Sklaverei, Gewalt, Besitz, religiösen Wahn oder Gier und versuchen auf sonderbar sanfte Weise, korrigierend einzugreifen. Sie tun dies aus reinem Pflicht- und Mitgefühl. Denn auf ihre heile Welt in der Zukunft, die sich schlussendlich als doch nicht ganz so heil herausstellen wird, haben Veränderungen in der Vergangenheit keine Auswirkungen. Vielmehr entstehen durch ihre Interventionen immer neue alternative ›Raum-Zeit-Linien‹, also Universen.
Doch eines ist all diesen Welten gemein: ›Das Existierende sträubt sich grundsätzlich gegen Veränderung‹, lässt Trojanow seine Protagonistin Cya sagen. Und weiter: ›Was existiert, hat einen Vorteil gegenüber dem, was existieren könnte. Egal, wie schlecht es sein mag. Was existiert, behauptet, kraft seiner Existenz notwendig zu sein. Was es noch nicht gibt, unterliegt einem Generalverdacht, der verhindert, dass Vernünftiges und Nützliches und Schönes sich durchsetzen. Deswegen ist es so schwierig, das, was sein sollte, herbeizuführen, egal, wie viele Menschen sich danach sehnen. Es ist so viel einfacher, das Vorhandene zu erhalten.‹
Wenn Sie auf Seite 16 dieser Ausgabe blättern, werden Sie diesen Gedanken fast ident wiederfinden, aber diesmal nicht von einem gefeierten Schriftsteller, sondern aus dem Mund der renommierten Umweltökonomin Sigrid Stagl: ›Eine der Hauptschwierigkeiten ist, dass wir mögliche Veränderungen fast nie als etwas Positives, Aufregendes erleben, sondern den Status quo oder die Vergangenheit als das Erstrebenswerte sehen. Aber stellen Sie sich vor, wie wir in 20 Jahren auf unsere vom Autoverkehr dominierten Städte zurückblicken werden.‹
Stehen wir uns also wirklich so sehr selbst im Weg? Sind es Fantasielosigkeit und Zaghaftigkeit, die uns daran hindern, endlich ins Handeln zu kommen und die nicht gerade geringe Zahl vorhandener Probleme in Angriff zu nehmen? Von denen ist die durch den Treibhauseffekt bedingte Erderhitzung mit all ihren Begleiterscheinungen zweifellos die größte und längst nicht mehr nur in der Langfristperspektive. Das Zeitfenster schließt sich, doch scheint die wachsende Dringlichkeit auf viele kontraproduktiv zu wirken: Die Flucht in die Verdrängung wird zunehmend von geradezu pubertärem Trotz oder kindlicher Technologiegläubigkeit überlagert. Gewiss, wir dürfen uns darüber freuen, dass die Emissionen von Treibhausgasen in Österreich gegenüber dem Vorjahr um sechs Prozent gesunken sind. Doch wirklich durchatmen können wir erst, wenn das im nächsten Jahr wieder gelingt, und im Jahr darauf noch einmal, und dann immer und immer wieder, bis wir endlich nur mehr so viel CO2 ausstoßen, wie die Natur von selbst aufnehmen kann.
Dazu, wie diese Herkulesaufgabe allen Widrigkeiten zum Trotz gelingen kann, finden Sie eine ganze Reihe von Geschichten im Schwerpunkt dieses Heftes. Eine Voraussetzung dafür wird jedenfalls sein, dass wir lernen, Veränderungen als etwas Lustvolles zu begreifen und uns vom Diktat des Existierenden nicht länger zurückhalten lassen.
Ich wünsche Ihnen viel Freude mit den Seiten der Zeit!
Ihr Sebastian Loudon
sebastian.loudon@datum.at