Der halbe Eremit
Eigentlich ist Alois Penninger Einsiedler geworden, um mit Gott alleine zu sein. Stattdessen hat er jetzt mehr mit Menschen zu tun als jemals zuvor.
Es ist vier Uhr nachmittags, die Sonne scheint. Alois Penninger, gestutzter Bart, helle Augen, isst auf seiner Terrasse einen Kartoffelkäse. In der linken Hand hält er ein Buttermesser, in der rechten ein Stück Brot. Vor ihm am Tisch steht ein Teller, daneben Vogelfutter für seinen immer wiederkehrenden Rotkehlchen-Freund ›Toni‹.
Äußerlich unterscheidet Penninger wenig von einem durchschnittlichen Pensionisten, der seinen Ruhestand genießt. Nur sitzt er hier nicht in seinem Schrebergarten – sondern hoch oben im Steinernen Meer, vor einer Klause, die vor ihm über die Jahrhunderte schon von 35 anderen Einzelgängern bewohnt wurde. Alois Penninger ist der 36. Eremit von Saalfelden.
Die mehr als 350 Jahre alte Eremitage befindet sich im Besitz der Gemeinde. Sie liegt nördlich des Stadtzentrums, auf rund tausend Höhenmetern, und ist zu Fuß gut zu erreichen. Die Tour dauert maximal eine halbe Stunde. Oben lockt die in einer Felshöhle ausgebaute Kapelle, eine Klause im Fels mit Glocke und der Ausblick auf das Schloss Lichtenberg, den Berg Kitzsteinhorn sowie auf den Zeller See.
Und natürlich Alois Penninger. Der 64-Jährige aus Fürstenzell in Niederbayern kümmert sich seit April 2022 um die Kapelle, um die Klause und um die Glocke, ist also quasi Hausmeister und Seelsorger in einem. Das alles tut er für Gottes Lohn. ›Ich habe einen Platz in Gottes Plan, auf Gottes Erdboden, Gott kennt mich und ruft mich bei meinem Namen‹, sagt Penninger mit breitem bairischen Akzent.
Der Eremit von Saalfelden lebt hier oben ohne Fließwasser und ohne Strom, hackt Holz, um kochen und heizen zu können. Und er betet mehrmals täglich, um Gott und sich selbst zu finden. Wer denkt, dass er dabei alleine ist, irrt jedoch. Seit er in der Klause über Saalfelden angekommen ist, hat er mehr mit Menschen zu tun als jemals zuvor in seinem Leben.
Ungefähr 20 bis 30 Wanderinnen und Wanderer besuchen Alois Penninger täglich. Die einen interessieren sich für seinen Lebensweg, die anderen suchen jemanden, um ihr Herz auszuschütten. Einige sind auch enttäuscht, wenn sie ihn sehen, so ganz ohne langen Bart und ohne Kutte. Denn oft sind sie von weither angereist, um einen Segen zu bekommen.
Wer den Eremiten nach seinem Vorleben fragt, erfährt Folgendes: Jahrzehntelang führte Penninger mit Frau und Kindern einen Bauernhof mit Schweinen sowie einem Stück Land. Er liebte seinen Beruf, ging sonntags in die Kirche. Aber als er den Hof vor über fünf Jahren seinem Sohn übergab, begann ein neuer Abschnitt und die Suche nach Gott, sagt Penninger.
Das hat auch mit folgender Geschichte zu tun: 2018 wurde Penningers Sohn, der auch Alois heißt, in Bayern als bester Manager des Jahres in der Landwirtschaft ausgezeichnet. Im TV-Interview mit dem Veranstalter betonte der erfolgreiche Sohn, dass es ›gar nicht verkehrt ist, wenn man von der gewohnten Spur abweicht und etwas Neues wagt‹. In einem anderen Interview sagte er: ›Das Wichtigste ist, denke ich, nicht aufzuhören, anders zu denken.‹ Das gab Penninger senior zu denken: Hatte er es vielleicht falsch oder schlechter als der Sohn gemacht? Dass er nicht alle Entscheidungen nachvollziehen konnte, die Alois junior am Hof traf, kam noch dazu. Ins Detail will Penninger nicht gehen, aber wer ihm zuhört, merkt, dass damals etwas in ihm zu arbeiten begonnen hat.
Wollte er deshalb auf den Berg, ins Einsame? Ganz so einfach ist es nicht. Die großen Sinnfragen trieben den Pensionisten um. Zu Beginn seines Lebensabends begann er plötzlich an dem Etikett zu zweifeln, das so lange an ihm geklebt war: Familienvater, Hofbesitzer – ist das wirklich alles? Er wollte, ja musste etwas ändern, sagt Penninger. Also bewarb er sich um die Eremiten-Stelle, die er in der Zeitung ausgeschrieben fand.
Mehr als zehn Personen wollten damals den unbezahlten Job. Warum setzte sich Alois Penninger durch? Laut Pfarre Saalfelden erfüllte der Pensionist die wesentlichen Kriterien am besten: christliche Grundeinstellung, Offenheit gegenüber Menschen und bodenständiges Auftreten. Auch sein Berwerbungs-E-Mail überzeugte: ›Robinson Crusoe begleitete mein »Einschlaf-Kopfkino« bis ins jugendliche Alter. Später faszinierte mich der Film »Cast Away«, in dem Schauspieler Tom Hanks allein auf einer Insel strandet. Und als nachhaltigste Beschreibung des Alleinseins empfinde ich den Film »Die Wand«, der auf dem Buchroman von Marlen Haushofer basiert.‹
So zog Penninger vor über einem Jahr in den Wald. Auf einem Stück Land, das er übernommen hat, will er sich im Loslassen üben. Die Einsiedelei sei für ihn ›eine Oase zum Nachdenken, um mit sich ins Reine zu kommen‹. Unterstützung bekommt er auch von seiner Familie, die ihn ab und zu besuchen kommt. Wie lange er bleiben werde? Das wisse nur Gott, sagt Penninger.
Dreimal am Tag läutet Penninger die Glocken, in der Früh, zu Mittag und am Abend. Er bereitet auch die Kapelle für anschließende Gebetszeiten, Andachten oder für den Gottesdienst vor. Und er kümmert sich um die Klause, in der immer wieder etwas repariert werden muss. Rund 25 Quadratmeter ist sie groß und von Frühling bis Spätherbst bewohnt. Im Winter bleibt sie auch wegen der Lawinengefahr leer.
In der Klause hängen die Bilder der früheren Eremiten. Darunter befindet sich auch Penningers unmittelbarer Vorgänger, der erste evangelische Einsiedler Matthias Gschwandtner. Nach knapp zwei Saisonen kehrte der in seine Heimat in Oberösterreich zurück. Und natürlich ein Bild von Begründer Thomas Pichler, ein Bergbauernsohn, der dem Orden der Franziskaner angehörte. Satte 35 Jahre hielt er durch, allerdings ohne Happy End: Laut historischen Quellen soll er ein ›verbotenes Buch‹ gelesen haben, das sein Herz immer trüber werden ließ. 1699 stürzte er sich aus einem Fenster und starb. Überhaupt ist die Geschichte der Saalfeldner Eremiten nicht immer nur christlich-idyllisch. Von einem heißt es, er habe immer wieder gewildert. Ein anderer soll mit den Mägden im Umkreis Kinder gezeugt haben.
Alois Penninger will es besser machen. Wenn die Einsamkeit nachts zu drückend wird, greift er manchmal zum Handy. ›Ohne Strom‹ stimmt nämlich nur halb: Am Dach der Klause gibt es inzwischen ein Solarpanel, mit dem sich Smartphones laden lassen. Die Eremiten sollen die Bergrettung verständigen können, wenn sich ein Unfall ereignet. Das passiert selten, öfter schon macht Penninger Fotos, um schöne Erlebnisse in der Natur oder Schnappschüsse von seinen Besuchern zu teilen.
›Sie haben mir beim Bewerbungsgespräch schon erzählt, dass Wanderer vorbeikommen, aber dass es so viele am Tag sind, damit hätte ich nicht gerechnet‹, sagt Penninger. Das war auch bei seinen Vorgängern nicht anders, und manche ihrer Geschichten werden heute noch erzählt: Etwa die von dem Paar, das extra aus Spanien angereist war, um den Segen des Saalfeldner Eremiten zu erhalten. Oder der Trompetenspieler, der vor der Klause einst ein Stück vorspielte und dann wortlos wieder zurück ins Tal hinunterging.
Auch während des einstündigen Gesprächs mit DATUM besuchen drei Menschengruppen den Rückzugsort von Alois Penninger. Sie beobachten ihn neugierig, hören gespannt zu. Zwischendurch zitiert er en passant aus der Bibel. Einer seiner Favoriten ist das Zeit-Gedicht Kohelets: ›Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen …‹, so fängt es an. Damit gibt er den Besucherinnen und Besuchern auch Nachdenkaufgaben mit, wenn sie mit sich hadern. Je länger man ihm zuhört, umso mehr verfestigt sich der Eindruck, dass Alois Penninger seine fast priesterliche Rolle durchaus genießt.
Auch von mystischen Ereignissen erzählt Penninger seinen Gästen mit Vorliebe. Eines Tages saß er auf der Bank vor seiner Klause. Es war bewölkt. Durch ein Loch in den Wolken fiel ein einziger Sonnenstrahl – und traf genau ihn. ›War das ein Zeichen Gottes?‹, fragt sich Penninger. Die Besucher fühlen mit. Sie wollen mehr. Penninger holt sein solargeladenes Handy und zeigt Bilder, viele beeindruckende Naturaufnahmen. Auf einigen ist auch das Schloss Lichtenberg zu sehen.
Menschen aus der Umgebung bringen Penninger immer wieder Wasser und Essen. Eigentlich müsste er sich die Lebensmittel unten kaufen und selbst hochtragen, aber durch die vielen Helfer ist das nicht oft nötig. Penninger zeigt sich dankbar, dass er so viel Unterstützung erhält. Ausgerechnet in der Einsiedelei hat er den Zusammenhalt zu schätzen gelernt. Er zeige ihm, welchen hohen Wert eine Gemeinschaft heutzutage noch haben kann. ›Das habe ich schlussendlich gelernt: um Hilfe zu bitten.‹ Und dass ihm die Menschen, die er eigentlich verlassen hat, doch ans Herz gewachsen sind.
In Saalfelden, resümiert Alois Penninger, könne man gar kein wirklicher Einsiedler sein. Dafür müsste man zum Beispiel nach Kanada in die Wildnis. Warum er trotzdem schon das zweite Mal hier oben ist, statt an einem wirklich einsamen Ort? Laut Penninger wäre das eigentliche, das wahre Einsiedlerdasein gar nichts für ihn gewesen, auch wenn er das erst im Lauf der letzten zwei Jahre herausgefunden hat: ›Ich bin glücklicherweise nur ein halber Eremit.‹ •