Der letzte Zug nach Groß-Schweinbarth
Im Weinviertel wird eine der letzten Regionalbahnen eingestellt . Ein Lehrstück über Verkehrspolitik in Zeiten des Klimawandels.
Der Zug pfeift jetzt öfter als früher. Auch wenn Elfriede Rath von ihrem Haus in Großengersdorf den rot und blau gestreiften Triebwagen nicht sehen kann, so hört sie doch deutlich die Warnsignale, die er vor jedem Bahnübergang abgeben muss. Es gibt mehrere Bahnübergänge in der Marktgemeinde mit 1.500 Einwohnern, 15 Kilometer nordöstlich von Wien gelegen. Rath stört der Lärm nicht. Im Gegenteil : Der Landschaftsplanerin und Weinbäuerin gibt das Pfeifen des › kleinen Zugs ‹ ein Gefühl der Weite und der Verbindung des Dorfes mit der Welt. Weshalb sie findet : › Eine Gemeinde ist mehr wert, wenn sie einen Bahnhof hat. ‹
In Großengersdorf aber wird das Pfeifen am 14. Dezember 2019 zum letzten Mal zu hören sein. Auf der Regionalbahn mit dem Kürzel R 18, auch › Weinviertel-Landesbahn ‹ oder › Schweinbarther Kreuz ‹ genannt, stellen die Österreichischen Bundesbahnen ÖBB den Betrieb ein. Auch wenn der Autoverkehr in Österreich als größter Verursacher von CO2-Emissionen identifiziert ist; auch wenn die meisten Gemeinden rund um Wien unter der Verkehrsbelastung stöhnen : Ab dem 15. Dezember wird der öffentliche Verkehr im sogenannten Speckgürtel um eine Schienenverbindung ärmer sein.
› Wir leben hier unmittelbar vor der Wiener Stadtgrenze, viele Menschen aus unserem Ort pendeln, aber unsere Bahn wird nicht mehr fahren ‹, ärgert sich Gerhard Mayer : › In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich ? ‹ Gemeinsam mit Familie Rath hat der IT-Techniker und Musiker Mayer eine Initiative zur Erhaltung der Bahn gegründet : › Regionalbahn statt Bus ‹. Sie haben Kundgebungen und Unterschriftenlisten organisiert, haben Protestbriefe an die Niederösterreichische Landesregierung geschickt. › Wir wollen ein Gesamtkonzept von Bahn und Bus ‹, sagt Mayer, › mit der Bahn als Rückgrat des Nahverkehrs. ‹ Aber das wird vorerst am Einstellungsentscheid nichts ändern. Die Geschichte vom langen Sterben der Weinviertel-Landesbahn ist auch eine Geschichte über die österreichische Verkehrspolitik, die sich zwar laut zum Ausbau der Schiene bekennt, in Wirklichkeit aber immer noch auf den Straßenverkehr fokussiert.
Genau genommen werden zwei Strecken stillgelegt. Die eine beginnt in Obersdorf, einem Vorort der Kleinstadt Wolkersdorf, die andere in Gänserndorf. In Groß-Schweinbarth vereinigen sie sich – deshalb der seltsame Name › Schweinbarther Kreuz ‹. Richtung Norden führen die Schienen noch vier Kilometer weiter bis zum ehemaligen Kurort Bad Pirawarth. Landschaftlich sind beide Strecken nicht gerade spektakulär, aber die Fahrt vorbei an Maisfeldern, Weingärten, uralten Kirchen und monoton nickenden Ölpumpen hat doch ihren eigenen, sentimentalen Reiz.
Jahrzehntelang haben die ÖBB dem Verfall der Strecke tatenlos zugesehen. Weil die Schwellen nun morsch, die Gleise von Unkraut überwuchert sind, müssen die Züge teilweise extrem langsam fahren. Bricht eine Schiene, bleibt der Betrieb stundenlang unterbrochen. Und je mehr Probleme es gibt, desto mehr Fahrgäste bleiben weg. So sehen die ÖBB heute › zu wenig Potenzial für eine sinnvolle und wirtschaftlich darstellbare Weiterführung des Bahnbetriebs ‹, teilt die Pressestelle mit.
Erst werden Regionalbahnstrecken kaputtgespart, dann werden sie von der Politik als völlig veraltet dargestellt und ihre Einstellung und Ersatz durch Autobusse als modern und fortschrittlich gepriesen. Die Weinviertel-Landesbahn ist bei weitem nicht die erste Bahn, die diesen Teufelskreis durchläuft : So wurde Ende der 1950er-Jahre die Stilllegung der legendären Schmalspurbahn von Salzburg nach Bad Ischl begründet. So wurden von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre reihenweise Nebenbahnen in ganz Österreich vernichtet. 2019 sind sich aber alle politischen Lager einig, dass gerade im Umland von Großstädten ein leistungsstarker Nahverkehr besonders wichtig ist. Ist die Landesbahn im Weinviertel Opfer einer Verkehrspolitik, die im vorigen Jahrhundert stecken geblieben ist ?
Gerüchte über die Einstellung des Bahnbetriebs brodeln seit Jahren. Im Jänner 2018 verkündete jedoch der damalige niederösterreichische Landesrat für Verkehr, Karl Wilfing, dass der Erhalt des Schweinbarther Kreuzes gesichert sei. Die Bahn werde weiterfahren. Als Elfriede Rath in Großengersdorf das hörte, war sie › erleichtert : Ich glaubte dem Landesrat. ‹
Um so größer war der Schock im Frühjahr 2019, als der › Verkehrsverbund Ostregion ‹ VOR ohne Vorwarnung ein › völlig neues Mobilitätskonzept ‹ präsentierte : Einstellung der Bahn, Ersatz durch zwei Buslinien. Ab 2021 sollen nur noch elektrische Fahrzeuge verkehren. So werde der Verkehr › klimafreundlicher ‹ und rücke › näher an die Menschen heran ‹, erklären die Informationstafeln des VOR.
Karl Wilfing ist nicht mehr im Amt. Nach den Landtagswahlen 2018 wurde er auf den Posten des Landtagspräsidenten weggelobt. Fragen zu seinem damaligen Versprechen, die Regionalbahn zu erhalten, wehrt er ab : Er kommentiere Entscheidungen seines Nachfolgers nicht.
Wilfings Nachfolger im Verkehrsressort heißt Ludwig Schleritzko und ist für DATUM ebenfalls nicht zu sprechen. Aber in seinem Büro im Regierungsviertel von St. Pölten empfängt sein Pressesprecher Florian Krumböck. Vor sich hat er ein kleines Dossier liegen, in dem die Argumente der Bahnbefürworter aufgelistet sind und entkräftet werden sollen : Das Image der grünen Bahn ? Mit den alten Dieseltriebwagen nicht haltbar. Längere Fahrzeiten mit dem Bus ? Dafür wohnen viel mehr Menschen im 500-Meter-Umkreis einer Bushaltestelle. › Es wird nun ein besseres Angebot geben, dauerhaft ‹, verspricht Krumböck : › Wir sind gekommen, um zu bleiben. ‹ Das hieß es freilich auch über die Bahn.
› Wir haben in den letzten Jahren alles versucht, unsere Bahn zu erhalten ‹, versichert Erich Hofer, Bürgermeister der Marktgemeinde Auersthal : › Aber es ist nicht gelungen. ‹ Hofer will jetzt › nach vorne blicken, damit der alternative Verkehr angenommen wird. ‹ Bis jetzt ist das nicht der Fall. Das neue Buskonzept ist seit 2. September in Kraft. Bis zur Einstellung der Bahn fahren Züge und Busse parallel : Die Züge sind ziemlich leer. Die Busse aber fahren – ohne Übertreibung – ganz leer. › Ich hoffe, dass im nächsten Jahr mehr Menschen vom Auto umsteigen ‹, sagt der Bürgermeister. Das neue Busangebot sei gut, und der Bedarf werde sicher zunehmen : › Wir sind eine aufstrebende Region. ‹
Anders als im südlichen Wiener Umland ist es der Region zwischen Wolkersdorf und Gänserndorf gelungen, dörfliche Strukturen zu erhalten. › Wir sind froh, dass wir hier nicht so einen Siedlungsbrei haben wie im Süden ‹, sagt Elfriede Rath. Das soll auch so bleiben.
Die 2.000-Einwohner-Gemeinde Auersthal hat einen Supermarkt im Ortszentrum. Es gibt Kindergärten, Schulen, Arztpraxen, eine Bankfiliale, ein Hotel, etwa 25 Landwirte und mehrere Gewerbebetriebe. Trotzdem schätzt der Bürgermeister, dass etwa 50 Prozent der erwerbstätigen Bewohnerinnen und Bewohner pendeln. Die meisten nach Wien.
Politisch ist die Region fest in Händen der ÖVP, aber die Gemeindevertreter zeigen viel Verständnis für grüne Anliegen. Einhellig ist die Meinung, dass der Klimawandel zum Handeln zwinge. Als Problemlösung wird › E-Mobilität ‹ genannt. Zwischen Obersdorf und Groß-Schweinbarth wollen die Gemeinden eine Modellregion bilden : Regionalbusse mit Elektroantrieb, Carsharing mit E-Autos, Ladestationen für E-Bikes. Mehr noch : › Vielleicht werden wir in Zukunft sogar auf das Zweitauto verzichten müssen ‹, sinniert ein Gemeindepolitiker.
Mit dem Zug brauchte man von Wien Mitte nach Auersthal eine Stunde und fünf Minuten, inklusive Umsteigen in Obersdorf von der S-Bahn in die Landesbahn. Das ist eine akzeptable Fahrzeit – theoretisch. In der Praxis ist die S-Bahn aus Wien oft verspätet, und weil der Anschlusszug nicht warten kann, müssen sich Pendler von Angehörigen mit dem Auto abholen lassen. › Wir haben uns eine direkte Zugverbindung zur U-Bahn in Leopoldau gewünscht ‹, sagt Auersthals Bürgermeister Hofer : › Aber unsere Wünsche hatten bei den ÖBB keine Priorität. ‹
Die Bahn liege jetzt im Trend der Zeit und eine Streckeneinstellung › passt von der Optik her nicht so gut ‹, muss Marianne Rickl-List zugeben. Die Bürgermeisterin von Groß-Schweinbarth versteht nicht, warum die ÖBB › jahrelang nichts in unsere Bahn investiert haben. Man könnte da schon Absicht vermuten.‹ Tatsächlich ist die Landesbahn in einem Zustand, der vor drei Jahrzehnten als modern galt, heute aber die Fahrgäste vertreibt. Die in den 1980er-Jahren im Tiroler Jenbach gebauten Dieseltriebwagen haben extrem hohe Einstiege – schwer zu bewältigen für ältere Menschen, ungeeignet für Kinderwägen oder Fahrräder. Bahnhöfe und Haltestellen sind trist, Fahrgast-Informationen in Echtzeit nicht vorhanden.
Auch Groß-Schweinbarth hat noch Wirtshäuser, Geschäfte, Betriebe. Aber die Gemeinde stöhnt unter der Verkehrsbelastung. Das Büro der Bürgermeisterin liegt direkt an der Hauptstraße, über die im Minutenabstand schwere Lastwagen donnern. Das Tempolimit im Ortsgebiet ist für die Fahrer kein Thema. › Wir haben noch kein Mittel gefunden, wie wir die Geschwindigkeit reduzieren können ‹, sagt die Bürgermeisterin. Dass nun noch mehr Linienbusse hinzukommen, sorgt für Unruhe in der Gemeinde. Für Rickl-List ist deshalb klar, › dass für jeden Bus, der nun zusätzlich fährt, Fahrten mit PKWs wegfallen müssen ‹. Bloß : Wie sollen die Pendler zum Umsteigen motiviert werden ?
Die einzige Investition der vergangenen Jahre in die Bahn war die Errichtung von Signalanlagen und Schranken an Bahnübergängen. Die Kosten von jeweils 500.000 Euro mussten die Gemeinden mittragen. Weil nun bald kein Zug mehr fährt, verlieren die teuren Anlagen ihre Funktion. › Das ist doch ein Wahnsinn ‹, ärgert sich Marianne Rickl-List : So werde Volksvermögen vernichtet.
Groß-Schweinbarth war die einzige Gemeinde, die von der Bahn zumindest steuerlich profitierte. Der Bahnhof hatte einen Fahrdienstleiter, für den zahlten die ÖBB pro Jahr 15.000 Euro Kommunalabgabe. Das ist keine große Summe, aber › in zehn Jahren waren es 150.000 Euro. Wenn die jetzt wegfallen, werden wir das spüren ‹, sagt die Bürgermeisterin. Außerdem wohnten in Groß-Schweinbarth mehrere Lokführer, die hätten ab Dezember einen weiteren Weg zu einer neuen Dienststelle. Offiziell sprechen darf das ÖBB-Personal mit Medien nicht. Die Pressestelle gibt keine Einwilligung.
Der Name › Schweinbarther Kreuz ‹ erinnert daran, dass Groß-Schweinbarth tatsächlich ein wichtiger Eisenbahn-Knotenpunkt war. Dass das von hier ausgehende weitverzweigte Netz der Weinviertler Lokalbahnen nicht überleben konnte, liegt schon in der Geschichte seiner Entstehung begründet. Errichtet wurde es, um im 19. Jahrhundert Milch oder Getreide, Holz oder Ziegel in großen Mengen rasch in die Hauptstadt zu bringen. Die Strecken wurden billig gebaut, mit Bahnhöfen weit außerhalb der Dorfkerne. Schließlich wollten die Fuhrwerker nicht ihr Geschäft verlieren.
Es gab aber damals auch Verkehrskonzepte, die heute wieder als besonders modern gelten. Die Lokalbahn von Stammersdorf nach Auersthal, also der Vorgänger der Regionalbahn 18, wurde bald nach der Eröffnung 1903 mit der Dampftramway in Wien verbunden. So konnten die Züge von der Augartenbrücke im 2. Bezirk in einer Stunde und 45 Minuten nach Auersthal fahren. Heute heißt diese Kombination von Straßenbahn und Eisenbahn › Regiotram ‹ oder › Tram-Train ‹. Viele Städte in Europa bauen solche Kombi-Bahnen, um das Umland einzubinden und Pendler vom Auto auf die Schiene zu bringen.
Im Süden Wiens bewährt sich dieses System bei der › Badner Bahn ‹. Im Norden aber wurde es noch in der Monarchie zerschlagen. Der Wiener Teil der Bahn wurde zur Straßenbahn (der heutigen Linie 31), der niederösterreichische zur Lokalbahn. Stammersdorf wurde zur Endstation für Tram und Zug. Uralte und eigentlich unbegreifliche Rivalitäten zwischen Bundesbahn, Stadt Wien und Land Niederösterreich verhinderten den Aufbau eines gemeinsamen Nahverkehrsnetzes. Sie verhindern es bis heute. Die letzte Chance wurde 1988 vergeben, als die ÖBB die Strecke von Stammersdorf bis Obersdorf stilllegten.
Heute verläuft auf der Trasse ein Radweg, alte Signale erinnern noch an den Schienenweg. Ringsherum haben Shoppingmalls und Industriehallen die Landwirtschaft verdrängt. Ein Diskonter baut ein riesiges Verteilerzentrum. Alle Güter werden mit dem LKW transportiert. Schnellstraßen und Autobahn sind nahe, der nächste Schienenanschluss weit weg.
Nur ein kleiner Rest des einstmals ausgedehnten Weinviertler Schienennetzes überlebte diese erste Stilllegungswelle. Aber der wurde auf den Stand der Zeit gebracht : Mit den damals modernen Triebwägen, Taktverkehr, Umsteigebahnhof zur S-Bahn. Das › Schweinbarther Kreuz ‹ galt als Lösungsmodell für das Problem defizitärer Nebenbahnen.
Mehrere Jahre ging das gut. Dann wurden die Fahrpläne verändert, Fahrgäste versäumten immer öfter ihre Anschlüsse. In Obersdorf entstand eine Park & Ride-Anlage, worauf mehr und mehr Pendler auf den › kleinen Zug ‹ verzichteten und mit dem Auto zur S-Bahn zu fuhren. Einzelne Streckenteile wurden stillgelegt, wieder aufgesperrt und wieder stillgelegt.
Kaum jemand kannte sich mehr aus – nicht einmal der damalige ÖBB-Generaldirektor Christian Kern.
In einem Interview mit dem Magazin Profil im Jahr 2013 nannte der spätere Bundeskanzler das Schweinbarther Kreuz als Beispiel für die gesellschaftliche Verantwortung der ÖBB. Die Bahnstrecke von Groß-Schweinbarth nach Sulz-Nexing gebe den dort lebenden Menschen die Chance, am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teilzuhaben, erklärte Kern stolz : › Deshalb bezahlen Bund und Land, damit die Bahn dort fährt. ‹ Peinlich für den Bahnchef : Zum Zeitpunkt des Interviews war die Teilstrecke nach Sulz-Nexing längst stillgelegt.
Immer wieder wollten die ÖBB das Schweinbarther Kreuz zur Gänze auflassen. Immer wieder war der Protest aus den Gemeinden so stark, dass man die Lebenszeit der totgesagten Bahn verlängerte. 2019 jedoch läuft der Verkehrsvertrag zwischen Land und Bahn endgültig aus. Die ÖBB berufen sich auf ihr › Zielnetz 2025+ ‹ und einen Bericht des Rechnungshofes, wonach der Betrieb einer Bahnlinie nur ab 2.000 Fahrgästen pro Tag zu rechtfertigen ist. In den Zügen des Schweinbarther Kreuzes sollen es lediglich 700 Fahrgäste sein. Die Kritiker der Einstellung sagen hingegen, dass mit der Bahn bis zu 2.500 Personen fuhren. Damals, als sie noch als modern galt.
Im › Zielnetz 2025+ ‹ wurden vor etwa einem Jahrzehnt die großen strategischen Ziele der Staatsbahn formuliert : Ausbau der Hauptstrecken, Ausbau der S-Bahn in den Ballungsräumen, moderne Bahnhöfe, neue Güterterminals. Nebenbahnen sollten aufgegeben und den Bundesländern zum Kauf angeboten werden. Das hatte in Niederösterreich die Einstellung der meisten Verbindungen zur Folge : 2011 übernahm das Land von den ÖBB 28 Nebenbahnstrecken mit über 600 Kilometer Schienen. Die meisten Strecken wurden abgetragen und durch Radwege ersetzt, darunter die malerische Schmalspurbahn durch das Ybbstal. Eingestellt wurde auch die Regionalbahn nach Waidhofen an der Thaya, der Gemeinde mit den meisten Autos pro Einwohner in Österreich. Investiert wurde lediglich in Touristenzüge in der Wachau und in die Modernisierung der Schmalspurbahn nach Mariazell. Sie bekam schicke Schweizer Züge mit dem nicht gerade unbescheidenen Namen › Himmelstreppe ‹. Zur selben Zeit trieb die Landesregierung das Straßenbauprogramm massiv voran.
2019 erklärt sich Niederösterreich zum › Vorreiter in der Mobilitätswende ‹. Aber wenn Landespolitiker von großen Verkehrsprojekten sprechen, dann meinen sie Schnellstraßen im Weinviertel, im Marchfeld oder im Traisental. Oder die Waldviertel-Autobahn. 313 Millionen Euro fließen in diesem Jahr in den Straßenbau in Niederösterreich. 103 Millionen kommen aus dem Landesbudget. Nur 95 Millionen Euro gibt Niederösterreich im selben Zeitraum für den öffentlichen Verkehr aus. Dennoch versichert Pressesprecher Florian Krumböck, dass Niederösterreich beim öffentlichen Verkehr nicht so schlecht aufgestellt sei : › Wir sind das Bundesland mit dem zweithöchsten Anteil an ÖV-Nutzung. Nächstes Jahr investieren wir 40 Prozent mehr Budget in Öffi-Angebote. ‹
Tatsächlich leben selbst in Niederösterreich totgesagte Nebenbahnen länger. Fünf Strecken wurden in letzter Zeit analysiert, vier davon für erhaltenswert befunden. Die Strecken nach Puchberg am Schneeberg, im Erlauf-, im Traisen- und im Kamptal sollen modernisiert, vielleicht sogar elektrifiziert werden. Warum muss nun ausgerechnet die Bahn im Wiener Umland dran glauben ? Das sei alleine die Entscheidung der ÖBB gewesen, sagen Bürgermeister der Region und Verkehrspolitiker in St. Pölten. Das Land sei in alle Entscheidungen eingebunden gewesen, entgegnen die ÖBB : Nichts sei überraschend gekommen.
Bei der Initiative › Regionalbahn statt Bus ‹ will man weder die eine noch die andere Erklärung akzeptieren. Gerhard Mayer wünscht sich von Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner ein Bekenntnis, › dass in Zeiten des Klimawandels die Bahn erhalten und ausgebaut wird ‹. Mehrere Briefe schickte die Initiative schon nach St. Pölten. Antwort kam keine.
Handfeste Argumente für die Bahn hat Christian Sterzl gesammelt. Er wohnt mit seiner Familie in Raggendorf, die Gemeinde hat sogar zwei Bahnhaltestellen. Beide sollen jetzt durch einen großen Busbahnhof ersetzt werden, wo sich die Ost-West-Linie und die Nord-Süd-Linie kreuzen. Von einem › Hub ‹ sprechen die Verkehrsplaner. Für die Bewohner der Auersthaler Straße in Raggendorf bedeutet das : 140 Mal pro Tag donnern die Busse an ihren Fenstern vorbei.
Sterzl hat die vielen Studien und Fachartikel studiert, die in den vergangenen Jahren zum Schweinbarther Kreuz geschrieben wurden, voll mit Vorschlägen, wie der Verkehr auf der Schiene verbessert werden könnte. Nichts davon wurde umgesetzt. Der Software-Entwickler hat nun eine achtseitige Gegendarstellung erstellt. Er zweifelt darin sowohl die von der Bahn behaupteten hohen Betriebs- und Renovierungskosten als auch die vom Land angeführte geringere Belastung der Umwelt durch die Umstellung auf Busverkehr an. Die Kosten für die Bahn würden absichtlich zu hoch, jene für den Bus zu niedrig angesetzt. Warum er sich die Mühe macht ? › Weil es mich ärgert, wie intransparent mit Steuergeldern umgegangen wird. ‹
Vor allem glaubt Sterzl nicht dem Versprechen, dass ab 2021 nur mehr E-Busse in der Region fahren würden. Die Technik sei bei weitem nicht ausgereift. Als Beweis legt er eine brandaktuelle Studie des Salzburger Verkehrsverbunds vor : Elektrobusse seien für den Regionalverkehr untauglich. Die Leistungen der Batterien würden vor allem im Winter nur für Kurzstrecken reichen.
Christian Sterzl lebte zuvor im Schweizer Kanton Aargau. Er weiß, was attraktiver Nahverkehr bedeuten kann : Die schmalspurige Lokalbahn vor seiner Haustüre fuhr zu den Stoßzeiten alle 15 Minuten, sonst alle halben Stunden. Natürlich elektrisch. Anschlüsse an den Knotenbahnhöfen waren garantiert. Niemals wäre er damals auf die Idee gekommen, den Weg zur Arbeit mit dem PKW zurückzulegen. Heute hingegen fährt er, wenn er nach Wien muss, zumeist mit dem Auto zur nächsten S-Bahn-Haltestelle. Den › kleinen Zug ‹ benutzt er nur selten, und das neue Buskonzept hält er für dilettantisch gemacht, › von Leuten, welche die Region nicht kennen ‹.
An einem trüben Herbstnachmittag, wenige Wochen vor dem Einstellungstermin der Bahn, hat die Initiative Regionalbahn die Bürgermeister der betroffenen Gemeinden zu einer Versammlung nach Bad Pirawarth gebeten. Es gibt Neuigkeiten, eine private Bahngesellschaft könnte den Betrieb übernehmen. › Aber das braucht Zeit ‹, sagt Gerhard Mayer, › deshalb wollen wir, dass die Einstellung um ein Jahr verschoben wird‹. Die meisten Bürgermeister sprechen sich für die Bahn aus, vielleicht auch, weil Gemeinderatswahlen bevorstehen. Aber sie fürchten, dass zusätzliche Kosten ihre Gemeindebudgets belasten könnten.
Der Versammlungssaal in Bad Pirawarth ist ein ehemaliger Kursalon und direkt davor gab es für die Kurgäste eine Bahnhaltestelle. 2004 wurde die Strecke stillgelegt und zum Radweg umgebaut. Von der Bahn ist nur das Haltestellenhäuschen geblieben, daneben stehen eine Ladestation für Elektrofahrräder und Fitnessgeräte zur freien Benutzung. Wo früher die Weinviertel-Landesbahn fuhr, heißt es nun : › Weg frei für eine fittere Gesellschaft. ‹