Der mit dem Ruck

Wie Wolfgang Ischinger ohne Amt Außenpolitik gestaltet.

DATUM Ausgabe Dezember 2018 / Jänner 2019

Wolfgang Ischinger erzählt mit Elan via Telefon: ›Priorität Nummer eins: Die EU muss in der Außen- und Sicherheitspolitik vom Einstimmigkeitsprinzip wegkommen. Es muss möglich sein, dass eine qualifizierte Mehrheit von Staaten Entscheidungen trifft. Die Chancen stehen gut, dass Deutschland hier einen Schritt macht, ich erwarte mir hier in den nächsten Wochen einen Ruck.‹ Einen Ruck Richtung einer patenteren EU. Nun ist Wolfgang Ischinger beileibe kein Träumer und auch kein Schreibtischtäter. Er war Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und Botschafter in London und Washington. Er ­leitet die Münchner Sicherheitskonferenz, die er klug zur Politikkonferenz mit Dialogformaten von Minsk bis Peking umgebaut hat. Er lehrt an der Berliner Hertie School, publiziert. Warum dieser Einsatz? Weil Ischinger Außen- und Weltpolitiker der alten Garde ist. Mit einem Wissen um Vergangenheit und Zukunft, um Zusammenhänge, und mit dem Blick für die berühmten ›windows of opportunity‹. Weil Außenpolitik zu Hause beginnt, geht Ischinger diese kleinen Schritte zu Hause in Deutschland. Unermüdlich, pausenlos, vom Kanzleramt zur Lokalredaktion.  ›Ich setze mich dafür ein, dass wir die zwei wesentlichen Säulen von Deutschlands Außenpolitik – die EU und das transatlantische Bündnis – nicht verkümmern lassen. Wir tun plötzlich so, als wären diese Projekte zu teuer. Wir gerieren uns als Kassenwart. Doch was haben unsere Kinder und Enkel von der schwarzen Null, wenn uns die EU um die Ohren fliegt?‹ Deutschland müsse in die eigene Zukunft investieren, also in das europäische Projekt. Man sei Nettozahler, und das sei richtig und gut so. ›Frontex, eine Verteidigungsunion und eines Tages gar eine europäische Armee – all das gibt es nicht zum Nulltarif‹, so Ischinger. Er fährt fort mit den Prioritäten, ›der Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. Sie ist heute kein geringeres Projekt als 1988, als wir erste Vorschläge zum Euro gemacht haben. Hat man uns ketzerisch und unvernünftig geschimpft? Ja, aber Politik braucht eben Mut und Weitsicht.‹ Ischinger steht der CDU nahe, ›Austeritätsprediger‹ jedoch sind seine Sache nicht. Sein Land hätte gerade ein ganzes Jahr politisch verplempert, doch ›jetzt ist die Kanzlerin frei, mutig zu sein.‹ Es gäbe nämlich noch weitere Top-Prioritäten, die Ost-West-Gespräche zur Abrüstung und zur Lösung der Ukrainekrise sowie einen gemeinsamen Prozess mit den USA zur Stabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens, ›das ist im Moment die gefährlichste Lage‹.  Wenn Ischinger erzählt, klingt das alles machbar. Er genießt Respekt von allen Seiten, vielleicht, weil er diplomatisches Geschick mit authentischer Haltung vereint. Er ist weder Mitglied einer Regierung noch einer Partei, doch er unterhält einen Stab und absolviert einen Terminkalender, als wäre er mindestens EU-Kommissar. Hier ist einer, 72 Jahre alt, der Lust auf die Kante, die Klarheit und die Kühnheit ausstrahlt, die es für weltpolitische Influencer braucht.  Umso besser, dass Wolfgang Ischinger einer von etwa zehn Ideengebern für den  neuen Think Tank von Bundeskanzler Kurz ist. ›Ein hochinteressanter Kreis. Und ich fast der einzige Ausländer‹, sagt er.