Russland hat gewählt. Im Vorfeld lief folgender TV-Spot: Ein Familienvater, gespielt von einem beliebten Komiker, durchlebt Albträume, weil er die Wahl versäumt. Nun muss jede Familie einen Schwulen in Pflege nehmen, der Sohn braucht vier Millionen Rubel (die Inflation!), Toilettengänge werden rationiert und er selbst soll zur Armee, obwohl er über fünfzig Jahre alt ist.
Wie bitte? ›Die Sprache von TV-Comedians eignet sich bestens für eine Wahlkampagne im Interesse Putins‹, erklärt ein russischer Journalist auf der Website dekoder.org. ›Unter anderem deshalb, weil die jetzige Epoche keinerlei eigene originelle Sprache hervorgebracht hat.‹
Was ist bloß los mit Russland? Keine Ahnung, geben wohl viele von uns zu. Da kommt Dekoder und ›entschlüsselt‹ das Land. In dieses Medien-Start-up hat der deutsche Gründer Martin Krohs sein Erbe gesteckt. Russische und deutsche Redakteure aus verschiedenen Disziplinen beobachten täglich unabhängige russische Medien. Sie übersetzen Artikel, ordnen Berichte inhaltlich ein, veröffentlichen Fotostrecken, Debattenschauen (mit Beiträgen auch aus staatsnahen Medien) und Podcasts, versehen mit kurzen Erklärtexten von Wissenschaftlern. Stalins Tod, der Krieg in der Ukraine, in Syrien, Trollfabriken, Meinungsfreiheit, Lehrergehälter: Dekoder leuchtet Thema für Thema im zeitgenössischen Russland höhlengleich aus.
Wie klar, wie nötig, wie reichhaltig.
Dekoder-Chefredakteurin ist die vierzigjährige Tamina Kutscher aus Augsburg. Nach dem Besuch einer Journalistenschule studierte sie Slawistik, ›exzessiv‹ bis 2008. ›Eine Entdeckungsreise‹, sagt sie heute noch stolz und verliebt in ihr Curriculum. Den Umbruch 1989/91 erlebte Kutscher als Teenager, die 1990er eröffneten sich ihr als eine einzige ›Verheißung‹: In St. Petersburg lernte sie gleichaltrige Theater- und Kulturschaffende kennen (mit einigen kann sie seit der Krim-Annexion nicht mehr über Politik reden – oder gar nicht mehr). Es gab Freiräume, Improvisation überall, Partys auf Dächern. Auf Zugreisen kostete sie sich durch Happen ›Fett und Schmalz‹ wohlwollender Babuschkas. Im Bademantel sang ihr die tadschikische Freundin inbrünstig das Epos von Rustam und Tamina vor. Im Schwulenclub verstand Kutscher, dass die tanzenden Männer vor 21 Uhr heterosexuelles Familienleben mimten.
2016 gewann Dekoder den Grimme-Online-Award. Die Plattform bietet laut Jury ›eine Einordnung der öffentlichen Meinung in Russland, die sonst so in Deutschland nicht stattfindet. Den Lesern wird alles an die Hand gegeben, um sich ein eigenes Bild zu machen.‹ Finanziert wird das Projekt bislang über verschiedene (unabhängige) Stiftungen und über den Dekoder-Klub, also Leser, die monatlich zwei Euro bezahlen.
›Hasspostings und Trolle bekommen wir keine, eher tatsächliche Debattenbeiträge‹, so Kutscher. Sie sieht Russland in seinem innen- wie außenpolitischen Handeln sehr kritisch. Jedoch solle der Westen ruhiger reagieren. Überschriften wie ›Wer stoppt Putin?‹ seien nicht hilfreich. Denn: ›Im 21. Jahrhundert ist die hauptsächliche Exportware Russlands nicht Öl oder Gas, sondern Angst‹, zitiert Kutscher den russischen Politologen Sergej Medwedew.
Wo politisches Terrain vermint ist, helfen – vor wie nach der Wahl – Einblicke in die Lebensrealitäten der Russen, wie Dekoder sie bietet. Oder Kontakte und Freundschaften zwischen Menschen. Darum stimmt Kutscher den EU-Sanktionen gegenüber Russland zwar zu, hätte aber zugleich den Russinnen und Russen visafreies Reisen ermöglicht.