›Die Dunkelziffer kann unser Freund sein‹
Wie uns der Simulationsexperte Niki Popper aus der Coronakrise begleiten wird.
Niki Popper betritt den Videochat, kann mich aber weder sehen noch hören. Wir greifen also aufs Telefon zurück. Es ist Sonntag, der 22. März, wir befinden uns zwischen der ersten und der zweiten Woche des ›Corona-Lockdowns‹. Popper ist Mathematiker, Informatiker und Simulationsexperte. Er und sein Team bei der interdisziplinären Forschungsplattform Dexhelpp können Krankheitsverläufe mathematisch simulieren und darstellen, welche Maßnahmen wie effektiv die weitere Ausbreitung des Coronavirus beeinflussen. Popper sitzt im Beraterstab der Bundesregierung, seit wann eigentlich? Ich glaube, seit zehn Tagen, ich müsste nachschauen… Ja, die Zeit verschwimmt, offenbar auch bei Mathematikern. Das tröstet.
Die erste Bewährungsprobe hat Poppers Team zum Zeitpunkt unseres Gesprächs hinter sich. Ihre ersten Modelle, was die Wirksamkeit von Maßnahmen wie Schulschließungen und Einschränkungen im öffentlichen Leben betrifft, haben sich als tragfähig erwiesen, das exponentielle Wachstum ist, wie es die Simulationen vorhersagten, leicht zurückgegangen. Dabei ist es gar kein exponentielles Wachstum. Als mathematisches Gnu verstehe ich das schon einmal nicht. Das macht nichts! Es ist eine logarithmische Kurve, die zu einer gewissen Phase so aussieht, als würde sie exponentiell steigen. Exponentielles Wachstum würde nie aufhören. Die Zahl der Corona-Infizierten wird aber jedenfalls abflachen, und zwar spätestens dann, wenn bereits viele Menschen in Österreich infiziert sind. Man lernt so viel in diesen Tagen.
Popper rät, so viel wie möglich zu testen, nicht nur bei Erkrankten, sondern auch in einem Sample der Gesamtbevölkerung. Was ihm Hoffnung macht, ist die Möglichkeit, dass es bereits viel mehr Infizierte geben könnte, als gedacht. Das wäre möglicherweise eine gute Nachricht! Die Dunkelziffer kann unser Freund sein, denn dann wäre ja offensichtlich der Anteil der schweren Erkrankungen und tödlichen Verläufe deutlich niedriger und wir wären der Abflachung der Kurve schon näher. Aktuell ist es schwierig, die vielen unterschiedlichen Aspekte von Messfehlern und unbekannten Einflüssen auseinanderzusortieren. Alle arbeiten aber mit Hochdruck daran.
Zweifellos würde die Menge der Infektionen eine ganz wichtige Kennzahl bleiben. Wir werden aber – bereits wenn Ihre DATUM-Ausgabe erscheint – einen ganz anderen Blick darauf haben. Die Leitzahl, die uns in den kommenden Wochen beschäftigen wird, ist aber natürlich die Anzahl der Menschen, die im Krankenhaus behandelt werden müssen.
Es ist Poppers Aufgabe, an die Zeit nach dem ersten ›Peak‹ zu denken. Wir müssen bereits jetzt an den Strategien für ein geordnetes Hochfahren des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens arbeiten. Poppers Simulationen werden die Politik dabei begleiten. Die Modellrechnungen seines Teams werden ihr als Werkzeuge dienen, um die Lockerungen einzelner Maßnahmen und ihre Auswirkungen auf ein neuerliches Ansteigen der Infektionen zu kalkulieren. Es gibt Maßnahmen, die kosten volkswirtschaftlich mehr als andere, und bringen, was die Ausbreitung des Virus betrifft, vergleichsweise wenig. Letztlich sind es kommunizierende Gefäße. Wir können das abschätzen und einordnen helfen, entscheiden muss letztlich die Politik. Und mindestens ebenso wichtig: Wir als Bürgerinnen und Bürger müssen uns dann solidarisch an diese Entscheidungen halten, denn nur mit Verboten wird es nicht gehen. Das wird ein wichtiger Schritt im Erwachsenwerden unserer Gesellschaft.
Wir werden uns also aus dieser Krise langsam und mühsam herausarbeiten müssen, begleitet von Erfolgen und Rückschlägen. Poppers Modelle werden für die Politik dabei ein Kompass sein. Letzte Frage: Durch die Coronakrise wird einer Handvoll Wissenschaftlern plötzlich Gehör und öffentliche Anerkennung verschafft. Er gehört dazu – was macht das mit einem? Was soll das mit mir machen? Ich halte mich heute nicht für schlauer als vor ein paar Wochen. Okay, cool. •