Editorial November 2020

DATUM Ausgabe November 2020

Zweite Runde Lockdown-Bingo

Hätten Sie im Frühling gedacht, dass wir noch vor Winterbeginn wieder über Schulschließungen und die Kapazitätsgrenzen unserer Krankenhäuser diskutieren würden ? Ich berichtete damals noch für die deutsche Tageszeitung Die Welt aus Wien und muss gestehen, dass ich trotz langsam aufkeimender ­Kritik an einzelnen Maßnahmen oder deren Umsetzung nicht zu prognostizieren gewagt hätte, dass die türkis-grüne Regierung den Corona-›Vorsprung ‹, auf den sie so stolz war, derartig schnell wieder verspielen würde.

Doch wie wir inzwischen wissen, verstärkten legistische Schlampereien, parteipolitischer Hickhack und der rasante Wechsel zwischen Warnungen und Entwarnungen das berühmte Präventionsparadox, also den erfolgsbedingten Vertrauensverlust in Präventionsmaßnahmen. Frei nach dem Motto : ›Wenn’s uns jetzt so gut geht, kann’s nicht so schlimm gewesen sein. ‹ Oder eben, eine Eskalationsstufe weiter : ›War die Kur vielleicht schlimmer als die Krankheit ? ‹

Es kam also, wie es kommen musste : Die Menschen reisten, sie feierten, sie holten sich ein Stück ihrer alten Normalität zurück – bis die Kurve der täglichen Neuinfektionen wieder steil anstieg und eine zweite Runde Lockdown-Bingo auslöste : Sperrstunden ! Gästeregistrierung ! Testoffensive ! Wer bietet mehr?

Niemand will einen weiteren Ausnahmezustand, wie wir ihn im Frühling erlebt haben, und doch kann ihn nach heutigem Stand kaum jemand ausschließen. Wenn wir als Gesellschaft nicht zu großen Schaden nehmen wollen, werden wir jedoch zusätzliche Parameter in unser Dashboard aufnehmen müssen : Es wird nicht reichen, genügend Krankenhausbetten zur Verfügung zu stellen und entgangene Verdienste zu ersetzen. Wir werden uns auch mit den Menschen beschäftigen müssen, deren Zweifel an der › offiziellen ‹ Darstellung so groß geworden sind, dass sie sich von Fakten nicht mehr beirren lassen.

Verschwörungsmythiker hat es immer schon gegeben, aber seit Ausbruch der Pandemie sind sie lauter, sichtbarer geworden und ihre Gruselgeschichten in der vielzitierten Mitte der Gesellschaft angekommen. So ergab eine im Sommer veröffentlichte Umfrage des Marktforschungsinstituts Marketagent, dass fast 22 Prozent der Österreicher der Aussage zustimmten, Corona sei als Bio-Waffe entwickelt worden. Fast 16 Prozent der Befragten halten das Virus demnach für einen Vorwand, um Freiheitsrechte dauerhaft einzuschränken. Knapp 14 Prozent glauben, es gebe einen Impfstoff, er werde nur zurück­gehalten.

Aus diesem Grund haben wir nur zu gerne den Vorschlag unserer Gastkuratorin Corinna Milborn aufgegriffen, in dieser Ausgabe schwerpunktmäßig der Frage nachzugehen, warum immer mehr Menschen in obskure Parallelwelten abdriften – und was wir dagegen tun können. Wir haben aber wie immer auch besondere Geschichten zusammengetragen, die nichts mit der Pandemie zu tun haben : Werner Reisinger hat den Schriftsteller Martin Pollack im Südburgenland besucht. Katharina Brunner hat recherchiert, wieso Kärntner Slowenen das Verschwinden ihrer Sprache befürchten. Und Jana Reininger ist der Frage nachgegangen, wie es ist, wenn ein Mensch einem anderen gegen Bezahlung Arme und Beine leiht.

Ich wünsche Ihnen viel Freude mit den Seiten der Zeit. 

Sie können die gesamte Ausgabe, in der dieser Artikel erschien, als ePaper kaufen:

Bei Austria-Kiosk kaufen