Einen EU-Vertrag von Wien, bitte!

Wie Österreich aus dem europapolitischen Malus kommt.

DATUM Ausgabe September 2019

Höher, schneller, weitreichender: In den kommenden Wochen wartet ein Hürdenlauf auf das neue Spitzenpersonal der EU-Institutionen: EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen muss ihre Kommission angeloben und dann flugs Reaktions- und Aktionspläne für den Brexit, den Handelsstreit mit den USA und anhaltende Probleme mit Italiens Budget aus­arbeiten lassen.

Doch da ist noch was: Österreich. Die Republik hat im Zuge der Ibiza-Affäre und fortdauernder Aufdeckungen schweren Reputationsschaden in der EU genommen. Schon vorher musste man bis ins EU-Präsidentschaftsjahr 2006 unter der Ägide der damaligen Außen- und Europaministerin Ursula Plassnik zurückgehen, um die letzte auffällige Positiv-Bilanz Österreichs in der EU zu orten. Seitdem haben zwar Experten wie Richterin Maria Berger und Ökonom Thomas Wieser vielbeachtet in der EU gearbeitet. Doch Österreichs politische Frontfiguren fielen in den vergangenen 15 Jahren weder als EU-Visionäre noch als ­Krisenmanager auf. Zur Stunde steckt Österreich europapolitisch im Malus. Was also müssten die wahlwerbenden Parteien im Nationalratswahlkampf tun? 

Erstens, bildet Positionen! Die Parteien müssen dies jetzt zu den Pflichtfeldern der EU-Politik tun und diese Positionen auch zur Debatte stellen: Wie steht welche Partei zu einer CO2-Steuer? Zur Seenotrettung im Mittelmeer? Wie zur Budget- und Euro­frage, welche Krisenpläne gibt es für den Fall nächster Finanz- und Staatsschuldenkrisen? Wie würde man als Koalitionspartner auf Verletzung der Grund- und Menschenrechte in der EU reagieren? Gerade nach Ibiza müssen wir unsere Regierungsmitglieder zuhause für ihre Europapolitik zur Verantwortung ziehen. 

Zweitens, erzählt den Wählerinnen und Wählern von dieser eigentlichen Europawahl im September! Die nächste Bundes­regierung wird weitreichende Entscheidungen im Europäischen Rat fällen. Klimarettung, Technologie und die Zukunft unseres Zusammenlebens müssen rasch politisch angefasst werden. ­Bisher aber glänzt der heimische Europadiskurs durch seine Absenz. Selbst in den medialen Sommergesprächen und am Europäischen Forum Alpbach kommen Überlegungen für Österreichs Europapolitik nach Ibiza nicht vor. 

Parallel zu einem aktiven Europadiskurs im Wahlkampf sollten heimische Vertreterinnen und Vertreter in Brüssel – auch wenn wir eventuell bis Jänner keine Regierung haben – möglichst proaktive, breite Kontakt- und Vertrauensarbeit ­leisten. Für Durchschummler wird dieser Herbst schlicht und einfach zu heiß. 

Drittens, Neustart! Nützt die Zäsur, erstellt einen österreichischen EU-Fahrplan. Den Verlauf des Brexit können wir in Wien nicht beeinflussen. Eine Trendwende der österreichischen Europapolitik aber lässt sich vorbereiten. Wenn die nächste Bundesregierung vom Malus in den Bonus kommen möchte, geht sie das Thema ›EU-Vertragsänderung‹ an. 

Wien könnte einen neuen EU-Vertrag ausarbeiten. Diesen fordern viele, um die EU handlungsfähiger zu machen. Die nächste Regierung könnte 2022 einen ›Vertrag von Wien‹ zur Ratifizierung vorlegen. Dafür braucht es auch gar keine EU-Präsidentschaft. Es wäre nach den Verträgen von Maastricht, Nizza, Lissabon ein Signal aus Zentraleuropa. Zudem böte ein EU-Vertragsprojekt am Diplomatie-Standort Wien Gelegenheit, um die Worthülse des ›Brückenbauers‹ zu Mittel- und Osteuropa zu beleben. Es böten sich die brach liegenden Potenzialfelder Klima-, Stadt- und Digital-Diplomatie an. Ein ›Vertrag von Wien‹ würde Österreich in der EU neu positionieren. Der ›Vienna Treaty‹ könnte 2024 in Kraft treten – rechtzeitig zum Start der nächsten EU-Legislaturperiode.