Elben mag man eben
Bei den Tolkien-Tagen in einem Oberlecher Fünf-Stern-Hotel lernen Literaturwissenschaftler Spuren lesen. Wie viel Populärkultur vertragen die Geisteswissenschaften, ohne dass es trivial wird?
Friedhelm Schneidewind holt noch einmal seine Harfe heraus. Der Mann mit dem Namen, der selbst aus einer mittelalterlichen Sage stammen könnte, ist regelmäßig bei Tolkien-Tagungen und Mittelalterfesten als Musiker und Vortragender dabei. In Oberlech wird er noch einen Vortrag zum Strafrecht in Mittelerde halten, an diesem ersten Abend ist er mit seiner Partnerin an der Trommel für die musikalische Begleitung der Vorträge zuständig. Mit seinem langen grauen Bart und dem dunkelgrünen Gilet mit Goldstickereien wirkt es passend, dass er zwischen verschiedenen Blockflöten und Hörnern wechselt und am Ende noch eine Harfe herausholt. Sie wurde von einem der letzten Tiroler Harfenbauer für ihn angefertigt, erzählt er. Natürlich ist sie für ihn auch mit einem Drachenkopf verziert worden. Schneidewind hat übrigens auch jedes einzelne von Tolkiens Gedichten ins Deutsche übersetzt und vertont. Sicher ein sehr besonderes Interesse, aber doch eins, für das sich hier in Oberlech eine Bibliothek voller Tolkien-Fans begeistert. Das Fünf-Stern-Hotel Sonnenburg auf knapp 1.750 Metern Seehöhe ist an diesem Wochenende Schauplatz der sechsten Tolkien-Tage. Die Organisatoren Sebastian Streitberger und Stephan Köser wollen hier Wissenschaftler und Fantasy-Liebhaber zusammenbringen. Wie bei Tagungen stehen die Fachvorträge im Mittelpunkt, umrahmt werden sie allerdings von Harfenspiel und praktischen Workshops zum Thema Schwertkampf oder Spurenlesen. Wissenschaft lebendig machen ist das Motto.
Wer mit Fantasy nichts zu tun hat, fragt sich an dieser Stelle wohl: Wer war dieser Tolkien eigentlich, der hier ein ganzes Wochenende besprochen wird? John Ronald Reuel Tolkien war ein britischer Linguistik-Professor und Schriftsteller. Sein Roman ›Der Herr der Ringe‹ erschien zwischen 1954 und 1955 in drei Bänden und machte ihn zu einem der prägendsten Autoren für das Fantasy-Genre. Die Bücher gehören neben ›Harry Potter‹ zu den meistverkauften Fantasy-Romanen der Welt. Die Verfilmungen aus den frühen 2000er-Jahren gelten als Kult, die Drehorte in Neuseeland sind zu Pilgerstätten für Fans und wichtigen Tourismusdestinationen geworden. Erzählt wird eine klassische Heldenreise: Der Hobbit Frodo Beutlin muss sein ruhiges Leben im Auenland verlassen. Gemeinsam mit einer Gruppe an Gefährten soll er den mächtigen und dunklen Herrscher Sauron bezwingen, um ganz Mittelerde zu retten. Dafür dachte sich Tolkien eine komplexe Welt aus, Zauberer und Zwerge kommen ebenso vor wie Elben und Orks. Wer Tolkien einmal gelesen hat, weiß, wie detailversessen der Brite war. Viele der Völker in Mittelerde bekamen von ihm eine eigene Sprache, die der Linguist auch wirklich entwickelte, sodass auch heute Fans zum Beispiel die Elbensprache Sindarin lernen können. Tolkiens Blick für Details macht es leicht, sich stundenlang mit der Welt von Mittelerde zu beschäftigen. Dafür gibt es in Deutschland seit 1997 auch die Deutsche Tolkien Gesellschaft, die laut eigenen Angaben ›über 1.400 Mitglieder‹ hat. Einmal im Jahr organisiert die Gesellschaft mit dem Tolkien-Seminar ein wissenschaftliches Symposium an einer deutschen Universität, heuer in Göttingen.
Der Sprung von Tolkien in die Wissenschaft ist mitunter klein, immerhin war er selbst Professor für englische Sprachwissenschaft in Oxford. Aber darf sich die Wissenschaft mit Popkultur beschäftigen oder kratzt das an ihrem seriösen Image? Für Anna-Sophie Jürgens, Dozentin für Wissenschaftskommunikation an der Australian National University in Canberra, macht eine Öffnung der Wissenschaft in Richtung Popkultur nur Sinn. Die Forschung bestätige, dass Unterhaltung und Spaß das Lernen stimulieren. Positive Gefühle schaffen es eher, ein Interesse für die Wissenschaft zu wecken, ist Jürgens überzeugt. Sind die Forschungsthemen zugänglich und nachvollziehbar, habe man schon gewonnen und bekäme Aufmerksamkeit für Wissenschaftsbereiche, die sonst in der Öffentlichkeit eher untergehen. In Canberra gründete Jürgens die Forschungsplattform ›Popsicule‹, bei der Kollegen ihre Arbeit zu Popkultur-Themen vorstellen und sich darüber austauschen können. Sie selbst hat lange in Deutschland gearbeitet, für ein Angebot zur Vertiefung ihrer Forschung ging sie aber nach ihrer Promotion nach Australien. Während über ihrer linken Schulter ein ›Joker‹-Filmplakat hängt, erzählt sie von ihrem Eindruck, dass die englischsprachige Wissenschaft Popkultur gegenüber offener sei als Universitäten in Deutschland oder Österreich. An den Universitäten im deutschsprachigen Raum herrsche mitunter eine ganz andere Kultur. Wer sich statt mit Klassikern und Arthouse-Kino lieber mit Comic-Verfilmungen oder Populärliteratur beschäftige, werde kritisch beäugt. Junge Kollegen wechseln daher für ihre Forschung häufig ins nicht-deutschsprachige Ausland, wie Jürgens erzählt. Dieser skeptische Blick von Kollegen ist aber selten direkt gegen die Arbeit der Forscher gerichtet, ist Stephan Köser überzeugt. Der Mitorganisator der Tolkien-Tage nennt es eher einen kritischen Unterton hinter geschlossenen Türen, den er vor allem an der Universität wahrgenommen hat. In Augsburg war er Mitorganisator einer Ringvorlesung zu Tolkien, die stets für gut gefüllte Vorlesungssäle sorgte. Diese Beliebtheit hätten auch kritische Kollegen anerkennen müssen.
Paula Wojcik, die an der Universität Wien Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft ist, sieht eher die Offenheit der einzelnen Disziplinen für Popkultur als Grund für Skepsis – nicht die Regionen, in denen die Forschung stattfindet. In ihrem Bereich akzeptiere man popkulturelle Themen oft noch nicht als Betätigungsfeld. Sehr schnell werde man damit in die Sparte der Kommunikationswissenschaft gesteckt, die für Popkultur viel offener sei. Dabei hätten aber auch heutige Klassiker der Literatur einmal als Popkultur-Phänomen begonnen. Für eine Publikation hat sich Wojcik den Goethe-Kult um das Jahr 1900 angesehen, als man sein Gesicht auf Schokoladentafeln druckte. Sie benutzt für solche Personen den Begriff ›popkulturelle Ikone‹, also Phänomene, die so prägnant sind, dass sie auch auf sehr kleinem Raum unmittelbar wiedererkannt werden können – wie eben Goethes Gesicht auf einer Tafel Schokolade. Populärkultur ermögliche es, wirklich in die Köpfe von Menschen zu schauen und zu sehen, welchen Einfluss Literatur auf ihr Leben habe. Oft wissen Kollegen aber gar nicht, wie diese Phänomene untersucht werden sollen. Es fehle an passenden Methoden. Für Wojcik ist die Lösung eine viel stärkere Interaktion zwischen verschiedenen Disziplinen, man müsse voneinander lernen. Als Beispiel erzählt sie von einem großen Sonderforschungsbereich an der Universität Siegen zu ›Transformationen des Populären‹. Dort arbeiten 60 Wissenschaftler aus verschiedenen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zusammen, um das ›Populäre‹ in der Gesellschaft zu untersuchen.
In Zahlen abbilden lassen sich die Verknüpfungen von Wissenschaft und Popkultur nur schwer, da Projekte über viele Disziplinen verstreut stattfinden. Dass sich die Wissenschaft in ein nicht-akademisches Umfeld hin öffnen muss, sei mittlerweile aber Konsens bei den meisten von Wojciks Kollegen. Popkulturelle Themen würden vor allem dabei helfen, die Hemmschwelle zu senken. Ein Asterix-Comic sei als Thema greifbarer als ›Ulysses‹ von James Joyce, als Außenstehender lese man so ein Paper vielleicht eher, glaubt die Literaturwissenschaftlerin. Auch Sebastian Streitberger, der heute mit Stephan Köser die Tolkien-Tage organisiert, sieht darin vor allem einen Vorteil für die Wissenschaftskommunikation. Wissenschaft mache oft einen guten Job, schaffe es aber nicht, die Menschen damit zu erreichen. Über ein popkulturelles Thema hingegen habe man die Aufmerksamkeit, danach sei es auch leichter, über ein Thema zu informieren, das auf den ersten Blick für manche nicht so spannend sei. Die Popkultur könne hier ein erster Impuls für das wissenschaftliche Interesse sein.
Paula Wojcik sieht das Problem vieler Wissenschaften generell in ihrer komplexen und oft hoch technisierten Sprache. Die müsse erst in eine Sprache übersetzt werden, die das Thema nicht banalisiert, aber trotzdem einfach verständlich macht. Historiker wären darin schon besser, aber in der Literaturwissenschaft würde man darin in der Ausbildung nicht ausreichend geschult, erklärt Wojcik. Dabei sei die Begeisterung der breiten Bevölkerung so wichtig: ›Wir brauchen die Menschen auf unserer Seite, die verstehen, dass es wichtig ist, Wissenschaft zu fördern.‹
Als Sebastian Streitberger und Stephan Köser an der Universität Augsburg noch als Studenten ihre erste Ringvorlesung zu Tolkien organisierten, war die Sprachwissenschaftlerin Monika Kirner-Ludwig eine ihrer ersten Unterstützerinnen im Kollegium. Sie hält auch in Oberlech traditionell den Eröffnungsvortrag. Kirner-Ludwig, die heute an der Universität Innsbruck Dozentin für Anglistik ist, verteilt gleich zu Beginn an jeden Teilnehmer zwei quadratische Karten, die jeweils in mittelenglischer Schrift den Buchstaben ›Y‹ oder ›N‹ abbilden – Yay or Nay. Damit soll abgestimmt werden, ob sie in ihrem Vortrag über Tolkiens Studentenleben auch kleine Exkurse zu, wie sie sagt, ›nerdigen‹ Themen der Linguistik wie der ersten deutschen Lautverschiebung einbauen soll. Am Ende dauert ihr Vortrag eine Stunde länger als geplant, das ›Nay‹ zückte niemand. Kirner-Ludwig spricht dabei so, wie Professoren gerne in Filmen gezeigt werden: Sie spricht ihr Publikum direkt an, fragt es nach seiner Meinung. Sie liest nicht bloß vor, sie nimmt die Anwesenden mit auf eine Reise durch das Studentenleben in Oxford, zeigt Tolkiens Jugendfotos und zitiert aus dem Protokoll einer Sitzung des Stapleton-Debattierclubs. Darin beschwerte sich Tolkien als Schriftführer des Clubs seitenlang über seine immer betrunkener werdenden Mitstudierenden. Kirner-Ludwig macht dabei ausladende Armbewegungen und liest Tolkiens zeilenlange Sätze so, als hätte sie sie gerade erst selbst aufgeschrieben. Das Publikum lacht und hört ihr zu, einige schreiben sogar mit, obwohl es mittlerweile knapp zehn Uhr abends ist.
Populärkultur wird aber nicht nur von der Wissenschaft für mehr Aufmerksamkeit verwendet, auch für politische Themen kann sie vereinnahmt werden. Ein Beispiel: Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni schrieb bereits 2021 in ihrer Autobiographie, wie sehr sie Tolkien und den ›Herr der Ringe‹ liebe. Ihr Lieblingscharakter ist Samwise, ein friedlicher Hobbit, Italien sei für sie hingegen so bedroht wie das verlorene Königreich Númenor. In Tolkiens Erzählung versank die Insel Númenor ähnlich wie Atlantis im Meer, nachdem ihr König zu machthungrig geworden war. Melonis Fazit: Italien müsse sich auf seine traditionellen Werte berufen, um zu überleben. Diese Auslegung von Tolkiens Erzählung kam in den 1970ern erstmals unter Italiens Rechten auf, Meloni greift sie nun wieder auf. Ihre Liebe zu Tolkien schlägt sich auch im Kulturbudget des Landes nieder. Knapp eine Viertelmillion Euro wurden laut italienischen Medienberichten für eine Tolkien-Schau im Museum für zeitgenössische Kunst in Rom veranschlagt, die Meloni selbst eröffnete. Die strenge Aufteilung in Gut und Böse, die in Fantasy-Welten meist zum Kern der Handlung gehört, ist in Melonis Interpretation nicht weit weg von klassischen rechtspopulistischen Motiven. Die Anderen sind die Bösen, die für unsere Probleme verantwortlich sind, ihnen wird die Schuld zugewiesen. Die vergleichende Literaturwissenschaftlerin Paula Wojcik sieht den Begriff Vereinnahmung in diesem Kontext dennoch kritisch. Ein Großteil der Popkultur könne gar nicht ›vereinnahmt‹ werden, da er eben nicht an eine politische Haltung gekoppelt sei, die man mit dem Gebrauch verletzen würde. Vielmehr sollten wir uns fragen, ob es nicht eher um das Unbehagen an einer bestimmten politischen Haltung gehe: ›Wenn Winnie The Pooh in China als Protestfigur gebraucht wird, scheint es nicht als »Vereinnahmung« gewertet zu werden.‹ Zur Erklärung: Der Zeichentrickbär wurde in China zu einem verbotenen Protestsymbol, nachdem Kritiker von Machthaber Xi Jinping sein Aussehen mit dem des Bären verglichen hatten. Auch Anna-Sophie Jürgens betont, dass es zum Beispiel feministisch ausgerichtete Literaturwissenschaft schon seit Jahrzehnten gebe. Das heißt für sie aber nicht, dass unser Blick tatsächlich informierter ist. Forschung benutze immer eine bestimmte Linse, um Themen zu untersuchen. Heute werde das auch kritisch reflektiert.
In Oberlech stehen die knapp zwanzig Teilnehmer der Tolkien-Tage mittlerweile draußen vor dem Hotel. Die Luft verspricht Regen, aber noch hält das Wetter. Angestrengt blickt die Gruppe auf den nebelumwobenen Berggipfel am anderen Ende des Tals. Nachdem Herr Schneidewind am Vormittag seinen Vortrag zu Mord und Totschlag in Mittelerde gehalten hat, gibt Hotelchef Gregor Hoch einen Crashkurs im Fährtenlesen. Nach einigen Erklärungen am Whiteboard geht es ›ins Feld‹, was in diesem Fall die Sandkiste vor dem Hotel bedeutet. Während Hoch zwei Teilnehmern Anweisungen gibt, wie sie über den Sand laufen sollen, blickt der Rest der Gruppe in die entgegengesetzte Richtung. Nach ein paar Minuten dann das Signal, endlich dürfen sich alle wieder zu ihm umdrehen. Vertieft studieren alle die Spuren in der Sandkiste. ›Ich glaube, einer hat den anderen geschubst und dann ist er hier nach links weggelaufen‹, meint Stephan Köser, während er eine Seite der Sandkiste entlang geht. Zustimmendes Nicken in der Gruppe, es wird über den Ballen-Einsatz und die Menge an aufgewühltem Sand diskutiert. Fast möchte man ›Heureka‹ rufen, aber es wäre nicht ganz passend: Schließlich wandte Tolkien sich früh von der Altphilologie ab, um sich der Anglistik zu widmen – und seiner Elbensprache. •