Es ist der Kontrast, Herr Bundeskanzler
Wie die versäumte Abnabelung von Sebastian Kurz der ÖVP schadet.
Eine schwere Entscheidung: Wer ist mehr zu bemitleiden? Ex-Bundeskanzler und Ex-ÖVP-Chef Sebastian Kurz oder Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer? Der eine drängte in die Öffentlichkeit, der andere ließ sich verdrängen. Wie verletzt muss ein Ego sein, dass es sein überdimensioniertes Konterfei auf einem Hochhaus benötigt? Wie unsicher muss ein Bundeskanzler und Parteichef sein, dass er sehenden Auges in eine Imagefalle tappt, in der schon sein Vor-Vorgänger untergegangen ist?
Nicht die Jubelfilme zur Person Kurz sind das Problem der ÖVP, sondern die Art und Weise, wie sie politisch instrumentalisiert worden sind: Das überraschende Auftauchen des ersten Films Anfang September sollte wohl die kritische Dokumentation ›Projekt Ballhausplatz‹ konterkarieren. Tatsächlich aber verdrängte er zwei Auftritte Nehammers mit konkreten Ankündigungen prompt aus den Schlagzeilen – Mietpreisbremse und Ausbau der Kindergärten. Ein politischer Moment zugunsten von Nehammer, ÖVP und Regierung wurde zerstört. Einige Wochen später folgte ein zweites Schmeichelwerk mit Namen ›Sebastian Kurz – The Truth‹, das auf der Streamingplattform Vimeo erschien.
In Summe genommen zeigt die Art der Inszenierung eine kaltschnäuzige Missachtung der Erfordernisse von Partei und Parteiführung. Ob die ÖVP insgesamt in ihrem verzweifelten Bemühen um Ansehen und Durchsetzung, ob Nehammer als Person durch die Filmfestspiele beschädigt werden könnte, war Kurz und seinem Kreis ganz offensichtlich keine Überlegung wert. Entweder merkte Nehammer nicht, was da hinter seinem Rücken vor sich ging, oder er wurde von seinem Kommunikationschef Gerald Fleischmann (ehemaliger Intimus von Kurz) im Unklaren gelassen, oder er hat die Realität verweigert beziehungsweise falsch eingeschätzt.
Da Nehammer es aus welchen Gründen immer – Unsicherheit, Respekt vor der Gruppe der Kurz-Fans in der Partei oder taktisches Ungeschick – verabsäumt hat, durch klare Distanzierung seine Autorität in der Partei zu unterstreichen, macht bereits ein kurioses Gedankenexperiment die Runde: Es gelingt Nehammer bis zum Frühjahr 2024 nicht, die Werte der ÖVP zu verbessern; Panik vor dem Machtverlust macht sich breit; ein Ende der rechtlichen Probleme für Kurz ist nicht abzusehen und nicht zu erwarten; Kurz scheint dennoch wieder die vielversprechende Alternative; Nehammer gibt wie einst Reinhold Mitterlehner entnervt auf. Von jetzt bis zur Nationalratswahl 2024 wird Nehammer jedenfalls ständig nach der Rückkehr des Sebastian Kurz in die Politik befragt werden. Damit ist schon ein Ziel der Filmfestspiele erreicht.
Nehammers Chance, dem persönlichen und parteipolitischen Dilemma zu entkommen, liegt in einer kompromisslosen Distanzierung von der Zeit unter Kurz. So hat er Ende September zum Beispiel eine Festlegung getroffen, die weitgehend unbemerkt geblieben ist, jedenfalls nicht den Beifall erhalten hat, den sie verdient: Der Modus der Stellenbesetzungen durch die Regierung müsse geändert werden, er sei nicht ›sauber‹. Kurz war zum Thema Postenschacher nur eingefallen: ›Ich habe das System nicht erfunden.‹
Nichts zeigt es deutlicher: Die Chance liegt im Kontrast. •