Frommer Wunsch
Es ist erst Ende November, aber da der Christbaum am Wiener Rathausplatz schon leuchtet, die Supermarktregale längst übergehen vor Lebkuchen und wir uns erst im kommenden Februar wiederlesen, scheint es mir, dass an dieser Stelle kein Weg vorbeiführt an einem kurzen Blick zurück.
2022 wird ohne Zweifel als jenes Jahr in die Geschichtsbücher eingehen, in dem eine neue Ära der Unsicherheit begonnen hat. Russland hat mit seiner Invasion der Ukraine den Krieg nach Europa zurückgebracht, die liberale Weltordnung auf den Kopf gestellt und zentrale Nervenstränge der globalisierten Wirtschaft gekappt. Der Satz ›May You Live in Interesting Times‹, der noch 2019 (!) der Biennale in Venedig als Motto diente, wirkt also allerspätestens seit heuer wieder wie ein Fluch – wenn auch nicht unbedingt wie ein chinesischer, wie 1936 der britische Ex-Außenminister Austen Chamberlain behauptet hat.
Das vergangene Jahr hat aber auch gezeigt, dass Demokratien sehr wohl in der Lage sind, auf aktuelle Herausforderungen schnell und entschlossen zu reagieren – wenn nur alle an einem Strang ziehen. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass ein Land wie die Ukraine die Atommacht Russland zurückdrängen kann? Dass Länder wie Finnland oder Schweden eine NATO-Mitgliedschaft beantragen? Oder dass ein Land wie Österreich seine Abhängigkeit von russischem Erdgas um fast 60 Prozentpunkte reduzieren würde?
Wir können also, wenn wir nur wollen. Das sollte uns trotz aller Erschöpfung nach diesem Annus Horribilis Hoffnung geben, für das Viele, das noch zu tun bleibt. Denn 2022 hat auch gezeigt, was passiert, wenn wir Missstände leugnen, kleinreden oder wegwitzeln: Nicht nur Putins energiepolitische Macht, auch die Rekordhitze des heurigen Sommers oder die Chats zwischen Chefredakteuren und Politikern sind das Ergebnis von Entwicklungen, die Kenner der jeweiligen Materie seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten anprangern.
Einem der großen Themen, bei dem uns sowohl auf österreichischer als auch auf europäischer Ebene seit Langem kein Fortschritt mehr gelungen ist, haben wir den Schwerpunkt dieser Doppelausgabe gewidmet: Die Flucht von Menschen aus Kriegsgebieten, aber auch vor wirtschaftlicher Not, führt nach wie vor zu krisenhaften Zuständen auch in Österreich, die nach Meinung der allermeisten Experten vermeidbar wären.
Allein der Umstand, dass Boulevard und FPÖ bereits vor einer ›Wiederholung von 2015‹ warnen, sollte uns zu denken geben. Vielleicht müssen wir uns überlegen, wie wir ein politisches System schaffen, das mindestens so viel Anreize für die Lösung von Problemen bietet wie für deren Skandalisierung.
Dass es einfachere Aufgaben gibt, liegt auf der Hand. Aber wenn man nicht einmal zu Adventbeginn große, fromme Wünsche formulieren darf – wann dann?
Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und einen großartigen Start ins neue Jahr!
Ihre Elisalex Henckel