General ohne Heer

Robert Brieger ist Österreichs oberster Militär. Im Juni wechselt er nach Brüssel, um dort eine EU-Armee aufzubauen. Große Hoffnungen auf einen baldigen Erfolg macht er sich nicht.

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Fotografie:
Gianmaria Gava
DATUM Ausgabe Mai 2022

Andere in seinem Alter gingen auf die Straße. ›Ho-Ho-Ho-Chi-Minh!‹ riefen die jungen Leute damals auf Demos, um den Machthaber in Vietnam hochleben zu lassen. Als dessen Feind im Weißen Haus, Richard Nixon, 1973 zum Staatsbesuch nach Wien kam, hielten die Protestierenden Schilder in die Luft, auf denen das x im Nachnamen des verhassten US-Präsidenten durch ein Hakenkreuz ersetzt war. Der Zeitgeist verschmähte Grautöne. Im Kampf gegen den Krieg machten die Hippies mit den schulterlangen Haaren keine Gefangenen.

Robert Brieger, damals Gymnasiast in Wien, sah die Sache ein bisschen anders. Sein Interesse galt weniger den Vorkommnissen im fernen Saigon als jenen in der Nachbarschaft Österreichs. Ein paar Jahre zuvor waren die Panzer des Warschauer Paktes in Prag eingerollt, um die zarte Demokratiebewegung unter Alexander Dubček im Keim zu ersticken. Die Bilder von der Okkupation wurden 1968 stundenlang im ORF übertragen. Nicht zuletzt das, erzählt Brieger heute, habe ihn dazu gebracht, sich mit dem Wesen des Krieges zu beschäftigen: mit den technischen Voraussetzungen, die über Sieg oder Niederlage entscheiden; mit Strategie und Militärgeschichte; damit, wie man das unschöne Handwerk des Krieges erlernt, um einen Krieg tunlichst abzuwenden. ›Ich habe mich zur Verwunderung vieler Kollegen für eine Laufbahn als Berufsoffizier entschieden‹, sagt Brieger. Dabei wären ihm, der an der Schule verlässlich gute Noten schrieb, in der zivilen Welt der frühen Siebziger-jahre auch ganz andere Türen offen gestanden. 

Heute ist er 64 Jahre alt, ein General wie aus dem Bilderbuch: Hageres Gesicht, schlohweiße Haare, kerzengerade Haltung. ›Korrekt‹ ist ein Begriff, der immer wieder fällt, wenn die Rede auf Brieger kommt. Selbst von Leuten, die weltanschaulich ganz woanders stehen: Der scheidende Generalstabschef des Bundesheeres gilt als eher national gesinnt und konservativ, er wurde 2018 auf Wunsch von FPÖ-Verteidigungsminister Mario Kunasek bestellt. Nun endet seine Amtszeit. Am 6. Mai tritt Brieger als höchster militärischer Befehlsgeber der österreichischen Streitkräfte ab, um ab Juni in Brüssel den Aufbau einer EU-Armee voranzutreiben. Er wird Leiter des Militärausschusses der Europäischen Union, ein Job, für den er als qualifiziertester Bewerber ausgewählt wurde. ›EU-General‹ nennen ihn die Tageszeitungen ehrfurchtsvoll. Das klingt mächtiger als sein künftiges Amt ist. Als Noch-Chef der kleinen österreichischen Armee hat er mehr Offizierinnen und Offiziere unter sich als künftig Fußvolk. 

Denn die Union mag zwar nach den USA die zweitmächtigste Wirtschaftsmacht der Welt sein. Militärisch spielt sie aber keine große Rolle. 21 von 27 EU-Ländern sind Teil der NATO, des nord­atlantischen Militärbündnisses, in dem die USA als mit Abstand stärkste Streitkraft den Ton angeben. ›Wenn es um die Verteidigung geht, ist die NATO für die meisten Länder weiterhin das schwere Schwert erster Wahl‹, sagt Brieger. Für den Fall, dass es in einem ihrer Mi­t­gliedsländer wirklich kracht, gibt es dort Kommandostrukturen und Einsatzpläne, um dem bedrängten Verbündeten rasch zu Hilfe zu eilen. Die NATO ist gerüstet, Brüssel nicht. Bis 2025 soll die EU-Armee auf 5.000 Soldatinnen und Soldaten anwachsen, ein Bruchteil jener 60.000, von denen seit Jahrzehnten die Rede ist. ›Bei einer größeren militärischen Operation reicht das bestenfalls für den ersten Schritt‹, sagt Brieger. Militärisch flößt Europa keinem Angst ein. Während Brieger sein Büro in der Rossauer Kaserne am Donaukanal räumt, bereiten Finnland und Schweden ihre Unterlagen für einen NATO-Beitritt vor. Angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine werden alle bisherigen Vorbehalte über Bord geworfen. 

Damit könnte es künftig in der EU nur noch vier bündnisfreie Länder geben: Irland, das im Ernstfall auf Schützenhilfe aus Großbritannien zählen kann, die beiden kleineren Inseln Malta und Zypern, sowie Österreich. Und die Alpenrepublik hat nicht nur keinen mächtigen militärischen Verbündeten, sondern auch geografisch eine Sonderrolle. Im Kalten Krieg lag Österreich an der Grenzlinie zwischen den beiden Blöcken, direkt am Eisernen Vorhang. Nicht nur bei der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968, auch zwölf Jahre vorher, als sowjetische Truppen die ungarische Revolution blutig beendeten, ging die nicht ganz unberechtigte Angst um, dass es zu militärischen Grenzverletzungen kommen könnte. 

Dann fiel der Eiserne Vorhang, die Länder des ehemaligen Ostblocks traten nach und nach nicht bloß der EU, sondern auch der NATO bei. Ein Angriffsszenario schien damit undenkbar. In der vor elf Jahren beschlossenen, neuen Sicherheitsdoktrin Österreichs spielt die Möglichkeit eines Angriffs mit Soldaten und Panzern praktisch keine Rolle mehr. Die militärischen Herausforderungen der Zukunft seien hybride Kriege: Cyberattacken auf die Infrastruktur, gezielte Desinformationskampagnen zur Aufwiegelung der Bevölkerung, terroristische Akte und das zynische Spiel mit der Steuerung von Flüchtlingsströmen in westliche Länder. All das ist in den letzten Jahren bereits geschehen: Ein Hackerangriff auf den deutschen Bundestag; Fake-News-Kampagnen von St. Petersburger Trollfabriken, die maßgeblich dazu beitrugen, gesellschaftliche Konflikte in westlichen Demokratien anzuheizen; IS-Anschläge in Paris und Wien; und zuletzt die Steuerung von Flüchtlingsströmen Richtung Westeuropa durch den belarusischen Diktator Alexander Lukaschenko. 

Die Wette darauf, dass diese neuen Formen der Kriegsführung die alten verdrängen würden, ging aber nicht auf. Es gibt nur noch Wahrscheinlichkeiten, keine Sicherheiten mehr. ›Niemand hätte vor einigen Monaten einen Krieg in der Ukraine für möglich gehalten‹, sagt Brieger. Aber es ist geschehen. ›Das Spektrum der Bedrohungen hat sich erweitert, ohne dass eine der bestehenden ausgefallen wäre.‹ Und für den theoretischen Fall, dass Österreich mit Panzern und Soldaten angegriffen wird, sieht er schwarz: ›Die konventionelle Landesverteidigung ist ein Leistungsbereich, den wir derzeit aus Mangel an Ressourcen und Menschen nicht bespielen können‹, sagt Brieger. Einem feindlichen Angriff mit konventionellen Mitteln hätte Österreich derzeit wenig entgegenzusetzen. Wie lange es dauern würde, bis feindliche Truppen etwa von der ungarischen Grenze bis Wien vorstoßen? Schwer zu sagen, meint Brieger. Letztlich könne man davon ausgehen, dass diese sich wohl erst durch das NATO-Land Ungarn kämpfen müssten. Das gebe immerhin Zeit zur Vorbereitung. 

Die gute Nachricht ist, dass Österreich grundsätzlich auf Unterstützung der anderen EU-Länder pochen könnte. Denn der Vertrag von Lissabon sieht eine Beistandspflicht aller vor, wenn ein Land angegriffen wird. Müsste Österreich umgekehrt auch einspringen, wenn anderswo in der Union gekämpft wird? Grundsätzlich ja. Aber der entsprechende Artikel 42 der EU-Verfassung ist wie so vieles in der Union weich formuliert – aus Rücksicht auf neutrale Länder wie Österreich. Der Haken an der Sache ist die sogenannte ›irische Klausel‹, die jedem Land eine Hintertür offen lässt: Wenn es hart auf hart kommt, kann sich ein neutrales EU-Land mit einer halbwegs schlüssigen Begründung aus der Verantwortung stehlen. ›Wir können solidarisch sein und sind sowohl moralisch als auch politisch aufgefordert, uns am Schutz der EU zu beteiligen‹, sagt Brieger. ›Es gibt aber auch die Möglichkeit, sich unter Verweis auf die Neutralität anders zu entscheiden.‹ 

In der Praxis würde sich eine solche Enthaltung Österreichs wohl immer irgendwie argumentieren lassen, meint der Militärexperte Gerald Karner. ›Das ist eine sehr großzügige Klausel. Wir könnten theoretisch auf unsere völkerrechtliche Souveränität pochen und einen EU-Mitgliedsstaat als unbeteiligten Drittstaat bezeichnen, der uns nichts angeht.‹ Angenommen, es käme beispielsweise zu einem Angriff Russlands auf Polen, dann könnte die Bundesregierung die Entsendung österreichischer Soldaten ins Kriegsgebiet beschließen – wahrscheinlich gegen die Stimmungslage in der Bevölkerung. Denn Krieg bedeutet Soldaten, die in Särgen heimkehren. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich die Schlagzeilen von FPÖ-Presseaussendungen und Krone vorzustellen. Die Regierung müsste sich entscheiden zwischen einem Affront gegen die öffentliche Meinung und einem massiven Imageschaden gegenüber den europäischen Partnerländern. 

Wie ein solcher Einsatz aussehen könnte, wurde vor 15 Jahren festgelegt. Denn auch ohne EU-Armee könnten die einzelnen Mitgliedsländer eigene Truppen an die Front verlagern. Österreich würde die Rolle zufallen, eine multinationale Brigade mit 3.000 bis 5.000 Soldatinnen und Soldaten zu befehligen. Schon jetzt finden dazu regelmäßig Übungen statt, bei einem Ausscheren Österreichs im Ernstfall würde nicht nur der Ruf des Landes, sondern die militärische Glaubwürdigkeit der gesamten Union leiden. 

Und das, obwohl die Koordinierung der einzelnen EU-Bataillone schon jetzt kompliziert genug ist, weil 27 Länder mit 27 unterschiedlichen Interessen mitreden. Manche träumen sogar davon, dass eines fernen Tages alle nationalen Armeen im Unionsgebiet aufgelöst werden und in einem EU-Heer aufgehen könnten. Auf jeden Fall sollte es eine gemeinsame Armee geben, die direkt auf das Kommando aus Brüssel hört und im Ernstfall rasch eingesetzt werden kann.

Brieger ist jedenfalls skeptisch, was seine künftige Arbeit betrifft. ›Bis zu einer EU-Armee ist es noch ein weiter Weg, über meine Verwendung in Brüssel hinaus‹, sagt Brieger. ›Ob es in den nächsten zehn bis 15 Jahren eine Weiterentwicklung gibt, wird sich weisen.‹ Dabei ist die Idee schon ein halbes Jahrhundert alt. Bereits in den 1970er-Jahren verständigten sich die damaligen EG-Länder im Rahmen des Helsinki Headline Goal auf das Ziel einer europäischen Armee mit bis zu 60.000 Soldatinnen und Soldaten. In den 2000er-Jahren kamen die Battle Groups dazu, die früher oder später zu schnellen Eingreiftruppen werden sollen: schneller verfügbar, mit verkürzten Entscheidungsprozessen. Seither stockt der Prozess. Eine eigene Armee für das Friedensprojekt EU? Das lässt sich in den Mitgliedsländern schwer verkaufen. 

Die NATO-Mitglieder in der EU fühlen sich unter dem transatlantischen Schutzschirm sicher. Mit der militärischen Macht der USA, mit ihrem Know-How und nicht zuletzt auch mit der Entschlossenheit, enorm viel Geld für Rüstung auszugeben, kann eine europäische Armee in absehbarer Zeit nicht konkurrieren. Sie wäre also bestenfalls eine Ergänzung – und damit mit erheblichen Mehrkosten verbunden. ›Es gäbe Überlegungen, die eine Zusammenarbeit von NATO und EU-Armee vorsehen‹, sagt Militärexperte Karner. ›Aber das kann und will sich kaum jemand leisten.‹ Es sei daher nicht verwunderlich, dass es in erster Linie neutrale und wenig einflussreiche Länder wie Österreich sind, die diese Vision vorantreiben.

Länder wie Österreich, in denen die Menschen besonders mit dem Militärischen fremdeln. ›Fighting for peace is like fucking for virginity‹ steht auf einer Mauer gleich gegenüber der Kommandozentrale des Bundesheeres auf der Rossauer Lände. In den kommenden Monaten wird über die Nachfolge von Brieger an der Spitze des österreichischen Heeres entschieden. Der Posten wird politisch besetzt, als Favorit gilt Rudolf Striedinger, der als Co-Leiter der Corona-Kommission GECKO landesweit Berühmtheit erlangt hat. Vor allem gilt er als Wunschkandidat von Verteidigungsministerin Claudia Tanner (ÖVP). Die Besetzung schlägt keine hohen Wellen, für das Bundesheer interessiert sich in Österreich kaum jemand. ›Ich habe Verständnis für eine gewisse Abneigung, sich militärischen Problemen aktiv zuzuwenden‹, sagt Brieger. ›Es gibt ein kollektives Gedächtnis, und die Österreicher hatten in den letzten hundert Jahren nicht sehr viel Glück mit ihrem Militär.‹ Dementsprechend schwierig sei es, größere Investitionen in das Heer politisch zu verkaufen.

Seine Vorgänger an der Spitze des Heeres haben der Politik deswegen immer wieder den Marsch geblasen. Brieger trat diplomatischer auf. Der Kunstsammler und Hobbyjäger ist kein Freund lauter Töne, er sieht sich als Teamplayer, der im Hintergrund beharrlich und ohne große Emotion seine Ziele verfolgt – auch wenn diese noch in weiter Ferne liegen. Eine Eigenschaft, die ihm in Brüssel zugutekommen könnte. Denn die Sinnhaftigkeit einer EU-Armee steht zwar grundsätzlich außer Frage. Aber wie beim österreichischen Bundesheer bleibt es meist bei Lippenbekenntnissen. •

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