Himmel und Erde
Anja Manfredi erforscht griechische Mythologie und unser kulturelles Gedächtnis.
Was verbindet einen Gebirgszug, einen einzelnen Knochen der Halswirbelsäule und Skulpturen an Gebäuden, die die Funktion einer Säule übernehmen, miteinander? Sie alle tragen etwas: den Himmel, den Kopf oder den Teil eines Hauses. Und all diese Dinge münden in der Begrifflichkeit des ›Atlas‹ – mal als Gebirgszug in Marokko, mal als Halswirbelknochen und mal als weibliche Figur, die an Stelle des berühmten Titanen aus der griechischen Mythologie das Himmelsgewölbe trägt.
Seit 2019 setzt sich Anja Manfredi mit der Symbolik dieser fundamentalen Verknüpfung von Himmel und Erde auseinander. Anregungen für diese Auseinandersetzung fand sie im Werk Aby Warburgs (1866-1929): Der Hamburger Kunst- und Kulturwissenschaftler versuchte, metaphorische Verbindungen einer kunsthistorischen Bilderwelt in einem Atlas (schon wieder einer) zusammenzufassen, den er Mnemosyne (Erinnerung) nannte. Darin geht es um die assoziative Verknüpfung unserer visuellen Bildkultur zu einem kollektiven Bildgedächtnis.
Diese Warburg’sche Idee nimmt Manfredi auf, analysiert sie und treibt sie in neue Höhen: Sie reist nach Nordafrika, sucht in Sammlungen nach Objekten und analysiert ihren Lebensmittelpunkt Wien, mit all seinen Darstellungen auf Dächern und Fassaden nach der Figur der Atlanten und Karyatiden. Dabei stößt sie auf unterschiedliche Formen der Repräsentation von Gesten des Tragens, der Dekoration und der grundlegenden kulturellen Veränderungen im Zusammenhang mit der Figur des Atlas. Und so reibt und inspiriert sich die Künstlerin an der Idee eines visuellen Nachschlagewerks (von Warburg bis Gerhard Richter) und entwickelt ein eigenes Werk, das sich mittels Fotografie mit unserer kulturellen, historischen und globalen Geschichte auseinandersetzt. Dabei reflektiert sie eben auch jene Sehnsucht, beide Welten aus irdischem Leben und göttlich transzendentalem, überirdischem Sein miteinander zu verbinden, die viele Menschen seit Langem bewegt. •
Anja Manfredi (*1978, Lienz/Tirol) setzt sich nicht nur künstlerisch mit fotografischen Mittlen und
Themen auseinander, sondern leitet auch die unabhängige Ausbildungsstätte ›Schule Friedl Kubelka für künstlerische Photographie‹. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen im Bereich der Fotografie in Österreich.
Ihre Arbeiten befinden sich in zahlreichen Sammlungen wie der Kunststiftung DZ Bank oder Sammlung Spallart. Sie wurden kürzlich im Kulturforum Bank Austria und der Charim Galerie Wien, von der
sie auch vertreten wird, in großen Einzelausstellungen präsentiert. Gerade wurde das Aby Warburg
Institut in London wiedereröffnet.
* Felix Hoffmann leitet das Foto -Arsenal Wien, Österreichs neues Zentrum für fotografische Bilder und ›Lens Based Media‹. Mehr Informationen: www.fotoarsenalwien.at