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›Ich habe keine Zeit, Angst zu haben‹

Thomas Neuwirth über die Zeit nach dem Weltruhm, den Wert Europas und sein politisches Erwachen.

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Fotografie:
Stefan Fürtbauer
DATUM Ausgabe Mai 2019

Menschen, die man aus dem Fernsehen kennt, sind kleiner als man dachte. So ist das, seit es das Fernsehen gibt. Also ist das auch mit Thomas Neuwirth so. In Zivil gekleidet, ohne langes Haar und Abendkleid also, erkenne ich ihn erst auf den zweiten Blick, als er vor unserer Redaktion steht. Wir wollen über sein wechselvolles Leben sprechen, und –  eine Ausnahme, denn das tut er üblicherweise nicht – über Politik und Europa.

Spreche ich heute mit Thomas Neuwirth?

Ja. Aber lass uns bitte per Du sein.

Neben Thomas Neuwirth gibt es mittlerweile zwei weitere Rollen, zwei Kunstfiguren, mit denen du auftrittst: die Conchita und den Wurst. Sprichst du unterschiedlich, je nach Rolle?

Ja, das passiert irgendwie. Wobei ich glaube, dass mittlerweile die Vermischung doch größer ist, als viele denken. Mein Leitsatz lautet: Am Ende ist es immer Wurst. Ich werde in einer frisierteren Version meiner selbst, wenn man Conchita so nennen möchte, nicht viel andere Dinge sagen, als ich sie als Wurst in einem String-Tanga in einem Fenster tanzend sage.

Dein öffentliches Leben seit 2006 liest sich von heute aus wie ein Entwicklungsroman. Wer bist du, wo stehst du heute?

Natürlich habe ich in jeder Situation das Gefühl, jetzt hab ich’s heraußen, jetzt bin ich angekommen, jetzt hab ich’s voll verstanden. Und ein Jahr später denkst du dir: Aha, da ging ja doch noch was weiter! Ich glaube, ich habe viel von meiner Oberflächlichkeit verloren. Mein Riesengoal war ja immer: Ich will berühmt sein, ich will ein Star sein. 

Wurscht als was.

Genau. Ich habe mir gedacht, ich kann Leute unterhalten und das mach ich. Im Laufe der Zeit kommt man drauf, dass das Berühmtsein überhaupt nichts wert ist. Man macht was, von dem man denkt, dass die anderen das gerne hätten. Dann kommt unerwartet der Erfolg und man denkt sich: Okay, das verkauft sich gut. Dann beginnt man sich abzuschleifen und ständig das Gleiche zu machen. Das Gleiche zu sagen, gleich auszuschauen. Ich habe mich selbst in diesen Käfig sperren lassen und bin draufgekommen, dass das nicht ist, was ich will. Ich habe keinen Bock mehr, Fragen zu beantworten wie: ›Was ist dein Lieblingsessen?‹ Mir kommt vor, ich habe die letzten vier Jahre nur geredet. Ich habe für mich wenig getan, ich habe mich künstlerisch nicht wirklich weiterentwickelt, und dann ist es plötzlich auf mich eingeprasselt wie nur was. Emotional, in meinem Privat- und Berufsleben. Und da habe ich etwas verstanden: Ich sollte zu dem zurückkehren, was ich schon einmal gewusst habe. Weil früher habe ich gewusst, dass ich etwas kann und habe darauf vertraut, dass das, was aus mir herauskommt, genug ist. Zwischenzeitlich hatte ich das verloren, weil ich auch diese Chance nicht vergeben wollte, die Conchita Wurst für mich dargestellt hat. 

Muss man berühmt werden, um zu erkennen, dass es um das Berühmtsein an sich nicht geht?

Ich glaube schon. Man hört das ja immer: Geld macht nicht glücklich, Erfolg macht nicht glücklich. Natürlich ist es schön, wenn man seine Rechnungen mit dem bezahlen kann, was man am liebsten tut, aber ab einem gewissen Punkt wird das Glücksgefühl nicht mehr größer, wenn es nur mit materiellen Dingen gefüttert wird.

Worum geht es?

Ich merke gerade extrem, dass ich an einem Punkt angekommen bin, wo ich wieder das mache, was mir Spaß macht und ich kompromisslos das herzeige, was in meinem Kopf schön ist. Ich fühle mich seit langem wieder gebraucht, ich fühle mich von mir gebraucht. Weißt du, ich habe es gehasst, Hausübungen zu machen. Alles, was mir aufoktroyiert wird, um das Produkt besser zu machen, nervt mich unheimlich. Jetzt bin ich an dem Punkt angekommen, wo ich verstanden habe: Der ganze Prozess ist ja die Gaudi dran. Diese Ungeduld, die ganze Arbeit davor nicht machen zu wollen, sondern nur abzuliefern: Dadurch hatte ich mein Glück ein bisschen verloren. Und jetzt habe ich wieder Spaß daran, proben zu gehen und Musik zu erarbeiten. 

Der Sieg beim Song Contest ist bald fünf Jahre her. Was würdest du dem Thomas von vor fünf Jahren von heute aus gesehen raten?

Ich bin kein Mensch, der etwas bereut. Kennst du ›Outlander‹, diese Netflix-Serie, wo sie durch die Zeit reist und von 1948 auf einmal ins 17. Jahrhundert katapultiert wird und versucht, den Schotten zu helfen, die Revolution nicht zu starten, weil sie weiß, dass sie verlieren werden? Ich schaue mir das an und denke mir, ich würde nicht wollen, dass irgendwer zu mir kommt und mir sagt, was ich tun soll, weil sonst das und das passiert. 

Du bist auch ein Produkt der TV-Aufmerksamkeitsökonomie. Was hast du über das Showbusiness gelernt?

Dass es sehr einfach ist, Menschen zu unterhalten.

Was ist der Dreh?

In meinem Fall konnten die wenigsten damit umgehen, dass ich kompromisslos das tue, was ich will. Das hat mein Leben lang immer schon dafür gesorgt, dass alle auf mich geschaut haben. Ich bin schon mit Rock in den Kindergarten gegangen, wahrscheinlich ohne im Hinterkopf zu haben, dass ich dann das center of attention bin, aber unrecht war mir das auch nicht. Vor ein, zwei Jahren bin ich herumgelaufen mit dem Gedanken ›Bitte schauts mich nicht an, hoffentlich habt ihr mich nicht erkannt‹. Und mittlerweile denke ich mir: ›Natürlich bin ich da und ich will, dass ihr alle wisst, dass ich da bin.‹ Ich habe meine Neugier auf Menschen wiedergefunden. Es ist so befreiend. Und ich hab so eine Gaudi, ich habe nur mehr Gaudi, den ganzen Tag.

Nach deinem Sieg galt Österreich über Nacht als Land der Diversität. Wie siehst du Österreich?

Ich bin ein Glückskind. Noch nie habe ich großen Verlust, großen Schmerz verspürt. Deshalb gerate ich schon ins Schwärmen, wenn ich von Österreich erzähle. Ich bin in den Bergen aufgewachsen, das war wunderschön. Ich liebe es, in dieser schönen Stadt Wien zu leben. Die Leute, die mich umgeben. Ich liebe Österreich. Was ich hier gelernt habe, verbinde ich mit schönen Dingen, weil ich mich entfalten konnte. Vielleicht bin ich ein bisschen ignorant Negativität gegenüber. Ich weiß nicht, ob das wahnsinnig lobenswert ist, aber es kriegt ja auch nur das Kraft, was Aufmerksamkeit bekommt, und ich mag es halt nicht, wenn Leute schirch zueinander sind.

Schwarz-Blau übt gezielt Druck auf Minderheiten aus. Wie nimmst du das wahr?

Ich spüre es. Aber ich persönlich bin auch ein bisschen unbeeindruckt davon. So what! Ich selbst gehe beispielsweise zum Opernball, wie ich will. Ich denke mir, es ist eh nett, wenn dann alle eine Meinung haben. Ich nehme sie gerne mit und stecke sie zu den anderen. Aber das ist sicher auch eine sehr privilegierte Situation. Es gibt Menschen, die unsere Regierung weitaus mehr in ihrem everyday life beeinflusst als mich. Menschen, die sich dem Druck auch ergeben müssen. Ich würde mir eine Regierung wünschen, die das friedliche Zusammenleben in aller Verschiedenheit unterstützt und nicht die einen auf Kosten der anderen bevorzugt oder verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen versucht. Aber was soll ich tun? Soll ich Angst bekommen? Angst lähmt die Leute einfach. 

Die Contenance, mit der du auf Anfeindungen reagierst, ist bemerkenswert. Nie kommt dir eines dieser Worte aus, die mir mitunter einfielen.

Weil es mir wurscht ist. Negativität hat mich selten getroffen. Wenn früher jemand nach dem Auftritt zu mir sagte: ›Deine Haare waren nicht schön‹ oder ›Du hast nicht gut gesungen‹, da habe ich mich wochenlang gegeißelt. Aber wenn jemand einfach nur schimpft, dann disqualifiziert er sich selber. Mittlerweile bin ich einen Schritt weiter, so dass ich sage, ich freue mich über jede Meinung und nehme sie gerne mit.

In den vergangenen fünf Jahren bist du sehr, sehr viel gereist. Was hast du dabei gelernt?

Ich kenne natürlich nur einen Teil der Wahrheit, weil dort, wo ich hinkomme, wollen und respektieren mich die Leute. Auch hier bin ich ein Glückskind.

Wir leben alle in unseren Blasen.

Voi, voi. Aber, und das ist wichtig, jeder kann sich für eine entscheiden. Wenn ich den ganzen Tag nur grantig bin und nur schimpfe ›Das geht nicht und das geht nicht‹, dann ist das schon auch eine Entscheidung, die man trifft. Nicht, dass es nicht wahr ist, dass es viele Menschen extrem schwer haben, aber man hat schon auch die Möglichkeit zu entscheiden, wie man auf Dinge schaut. Ich will nicht sagen, dass ich immer alles so super lässig sehe. Aber ich komme dann zum Glück schnell drauf, das ist jetzt meine Eitelkeit, das ist jetzt mein Ego, das mir im Weg steht. Es ist sehr mühsam, wenn man niemanden für seine schlechte Laune beschuldigen kann. Da muss man sich leider eingestehen, vielleicht hast du einfach ein paar Defizite und vielleicht bist du eifersüchtiger, als du gerne wärst. Ich habe mir antrainiert, sprichwörtlich vor meiner eigenen Haustür zu kehren, bevor ich aus der Haut fahre. 

›Ich würde mir eine Regierung wünschen, die das friedliche Zusammenleben in aller Verschiedenheit unterstützt.‹

Sind die Menschen, in der Blase, in der du unterwegs bist, kämpferisch? Sind sie angstvoll?

Ich selbst habe nicht das Gefühl, kämpfen zu müssen. Ich frage auch niemanden mehr um Erlaubnis. Sicher ist die Gleichstellung in vielerlei Hinsicht einfach nicht gegeben. Wir müssen so viel tun und bla und jo eh, aber ich habe auf­gehört zu jammern. Minderheiten grenzen sich schon auch ein bisschen selbst aus. Eh klar, man ist unter Gleichgesinn­ten und kann dieselben Themen besprechen. Die Gefahr liegt aber darin, dass man in diesem Trott hängen bleibt.

Du meinst im Kampf der Minderheiten um Rechte und Anerkennung?

Voi. Ich selbst habe eben aufgehört, um Erlaubnis zu bitten. Wenn ich etwas will, ohne dass ich jemandem in seiner Freiheit beschneide, dann frage ich keinen, ob ich das darf oder nicht. Nichtsdestotrotz gibt es nach wie vor viele Bereiche, wo für Gleichstellung sehr wohl auch bei uns auf die Straße gegangen werden muss. 

Was ist Europa für dich?

Der Zeitpunkt, wo ich Europa zu verstehen begonnen habe, war definitiv der Sieg des Song Contests, weil ich dann die Möglichkeit hatte, viel herumzureisen. Bis dahin war das für mich ein abstraktes Konstrukt.

Warst du auf Interrail?

Ich habe von meiner Mutter so eine Reisepanik eingeimpft bekommen, dass ich gebraucht habe bis ich 14 war, um einmal aus dem Ennstal rauszukommen. Mit dem ersten Wegfahren ohne Eltern und Halligalli hat sich das dann relativ schnell gelegt, und mittlerweile reise ich sehr gerne. Ich war 21, als ich das erste Mal am Meer war.

Was für ein Meer wars denn?

Ich war in der Türkei, All-inclusive-Cluburlaub, das war mein erster Meerurlaub.

Erst durch den Sieg hast du Europa für dich entdeckt?

Ja. Je mehr ich reise, desto kleiner wird Europa, und desto mehr verschwindet die Distanz, die ich vorher dazu hatte. Dadurch, dass ich viel gesehen habe, ist Europa plötzlich näher an mich herangekommen. Ich wünsche mir, dass das Europa von heute erhalten bleibt. Europa ist der lebenswerteste Kontinent. Ich würde auch nicht wollen, dass man meine Heimatgemeinde Bad Mitterndorf zerschlägt. Schließlich weiß ich, wer dort in Neuhofen wohnt und wer in Krungl. Ich hätte gerne, dass man weiterhin problemlos überall herumrennen kann – in meiner Heimat genauso wie in Europa. Ich habe viele Menschen kennengelernt, mit manchen haben sich Freundschaften entwickelt, und sobald das emotional wird, sieht man klarer. Und so habe ich plötzlich die Vorzüge eines geeinten Europas verstanden.

2014 hast du vom Phönix gesungen, der aus der Asche aufsteigt. Seither ist es der Nationalismus, der Populismus, der Rassismus, der aufsteigt. Hast du das Gefühl, deine, unsere Freiheit wird größer oder kleiner?

Es kommt darauf an, in welcher Blase man sich befindet. Ich sehe in der Youtube– und Instagram-Welt eine Generation an jungen Menschen, die sich selbst extrem und unglaublich kompromisslos feiert – sie leben ihre Individua­lität und Freiheit. Sie ziehen sich an, wie sie wollen, und setzen sich damit vielleicht auch Situationen aus, die Konflikte hervorrufen können. Es gibt zum Beispiel auch andro­­gyne Make-up-Künstler, die sich ein Imperium mit ihren Produkten aufgebaut haben. Sie alle werden ernst genommen. 

Das beweist, dass es Teile in der Gesellschaft gibt, die selbst­bewusst sagen, dass es völlig wurst ist, ob jemand langes Haar hat oder nicht, ob sich jemand in eine Geschlechterrolle einordnet oder sie gar nicht erst wahrnimmt. 

Diese Kids feiern sich nicht nur selbst, sondern sind sensibel und schlau. Wenn ich mir das ansehe, bin ich total zuversichtlich, dass unsere Freiheit größer wird. 

Interessant ist diese Gleichzeitigkeit. Du kannst in Belgrad oder Warschau sitzen und in dieser furchtlosen, globalen, bunten Youtube-Instagram-Welt leben. Und dann klappst du den Laptop zu, gehst auf die Straße und bist dort gesellschaftlich einem enormen Druck ausgesetzt. Du warst auch viel in Osteuropa unterwegs. Wie hast du das erlebt?

Die Situation ist viel angespannter, weil Menschen dort nicht dieselben Freiheiten haben wie wir. Wenn ich in Osteuropa bin, erkenne ich das beispielsweise an dem 24-Stunden-Begleitschutz, den ich bekomme.

Den hast du in Berlin oder Amsterdam nicht?

Nein. Bei einem Besuch in St. Petersburg ist ein irrsinniger Aufwand betrieben worden, um meine Sicherheit zu garantieren. Ich hatte vorher noch nie Eskorten vor und hinter meiner Limousine. Das macht auch keinen Spaß, wenn die das machen, sondern beunruhigt eher. Die Erfahrungen, die ich dort gemacht habe, waren aber in keinster Weise negativ. Weder im Restaurant noch im Hotel, weder auf der Straße noch sonst wo. Aber ich war zu Gast! Die Menschen, die tagtäglich dort leben und sich in derselben Community bewegen, haben bestimmt ganz andere Probleme. 

Die EU-Wahl steht vor der Tür. Im Rahmen einer Kampagne des EU-Parlaments wirst du zur Wahl aufrufen. Warum engagierst du dich?

Ich will mir nicht anmaßen, dass ich hier eine große Rolle spielen würde. Aber mir ist bewusst, dass die Menschen auf mich reagieren. Ich schaffe Aufmerksamkeit. Die nutze ich schamlos aus, um zu sagen, was ich für wichtig halte. Dieses ganze Konzept des Hassens und Ausgrenzens und das ist meines und das ist deines, das kann ich emotional nicht verstehen. Das wurde mir nie beigebracht, das checke ich nicht. Einmal war ich in Dresden, da war eine Community-bezogene Veranstaltung und am Vorplatz der Dresdner Oper war eine PEGIDA-Versammlung, zufällig. Erst habe ich das nicht gecheckt, ich habe nur gehört, dass sich viele Leute versammeln. Das war so ein Brodeln, so ein Menschengemurmel, das nicht angenehm war. Ohne zu wissen, was es ist, war es mir unangenehm. Dann hört man Hetzstatements durch dieses Megafon, und du glaubst wirklich, du bist jetzt in einer Dokumentation von 1942. Das hat mich total fertiggemacht. Ich hatte Angst, und zum ersten Mal wurde mir gezeigt, dass es das tatsächlich gibt. Es gibt Leute, die mit so einem grauslichen Unterton grölen und jubeln und diesen Hass­rednern eine Zustimmung entgegenbringen, dass ich mir dachte, das kann doch nicht euer Ernst sein. Das geht doch nicht. Und ich verstehe das nicht. Dieses Konzept verstehe ich nicht. Was interessiert euch das? Ich mein, was ist das Problem? Was haben sie davon, wenn jemand weniger hat? Also wenn sich auf deiner Habenseite nichts ändert, was musst du dann den anderen sekkieren?

›Das sind die wichtigsten Europawahlen unseres Lebens.‹

Das war sozusagen die politische Erweckung?

Ich glaube, das war das erste Mal, wo ich das empfunden habe und mir dachte: Das geht sich nicht aus, für das habe ich keine Zeit, ich habe keine Zeit, Angst zu haben. Ich akzeptiere, das ist da, und konzentriere mich auf das, was ich machen kann – wenn ich was machen kann. Mit dem Brexit habe ich diese Angst verspürt, dass es Leute gibt, die es schaffen können, dass ein System mit einem Wimpernschlag zerfällt. Und ich dachte: ›Oh Gott, das kann man doch nicht so stehen lassen.‹ Ich habe letztes Jahr beschlossen, das wird definitiv ein Schwerpunkt dieses Jahres, darauf möchte ich mich konzentrieren, und ich habe im Zuge dessen angefangen, Informationen zusammenzutragen, großartig unterstützt von allen Menschen, die mich umgeben. Mein Startpunkt war: Ich will, dass alle zur Wahl gehen. Ich konnte für mich selbst nicht beantworten, was ist jetzt das Wichtige in Europa? Was ist denn das, was wir da zu schützen und aufzubauen haben? Durch viele Gespräche und Reflexion und Nachfragen habe ich verstanden, dass wir nicht für uns sind, für uns allein, hier in Österreich. Wir hängen schon mit Europa zusammen. Ich versuche den Menschen zu erklären, dass jede Stimme einflussreich ist. Es ist total egal, ob du 17 bist und arbeitslos oder 55 und steinreich – jede Stimme ist gleich viel wert. Dieses Denken von wegen ›Das interessiert mich nicht‹, ›Das tangiert mich nicht‹, ›Do passiert eh nix‹, das ist nicht die Wahrheit. Was in Europa getan wird, um diese Gesellschaft am Funktionieren zu halten, ist erheblich. Wir leben im Schlaraffenland, wir haben es echt fein. Niemand von uns muss sich Sorgen machen, wenn er morgens das Haus verlässt, ob er abends wieder lebend nach Hause kommt. Oder die Tatsache, dass Menschen aus ihrer Heimat flüchten und ihr Leben riskieren, um hierher zu kommen. Das habe ich mir zuvor nicht vor Augen gehalten. Aber was heißt das? Dass wir hier in Europa etwas haben, das extrem viel wert ist und bedroht ist, missbraucht zu werden, und das wir schützen müssen. Das sind die wichtigsten Europawahlen unseres Lebens! Selbst die Identitären und all ihre Verbündeten mobilisieren ihre Wählerschaft. Da denke ich mir, wenn die so ein großes Interesse haben … 

… dann musst du es auch haben?

Absolut! Wir alle! Wir alle waren schon einmal in der Situation, uns zu denken: ›So deppad können die ja nicht sein‹. Es kann doch niemand den Trump wählen. Es kann doch niemand aus der EU austreten wollen. Und dann passiert das wirklich. Und es passiert, weil sehr viele Menschen sich gedacht haben, ›es kann ja niemand so blöd sein‹. Deshalb müssen wir alle wählen gehen. Und es zeichnet sich diesmal auch eine höhere Wahlbeteiligung ab, was gut ist, denn es gibt Statistiken, die sagen: Je höher die Wahlbeteiligung, desto weniger geht die Wahl in eine Richtung aus, die Menschen und Minderheiten klein hält. Ich glaube, am Ende des Tages wollen wir alle ein schöneres Leben in Frieden. Wenn wir nur denen zuhören, die laut schreien, dann mag das oberflächlich befriedigend sein. Doch wenn man das Kleingedruckte nicht liest, darf man sich über die Nebenwirkungen nicht wundern.

Willst du auch eine Wahlempfehlung geben? 

Nein, ich möchte niemandem aufdrängen, was er wählen soll. Das geht mich wirklich nichts an, aber ich ­em­pfehle allen, zur Wahl zu gehen, damit ihre Stimme gehört wird. Dann ist jedes Ergebnis zu akzeptieren. 

In einer österreichischen Partei ist überlegt worden, dich für den EU-Wahlkampf zu gewinnen.

Ich glaube, da lass ich mich nicht gewinnen! (lacht) Ich glaube nicht, dass ich das kann. Ich bin gut in den Feldern, in denen ich mich bewege, und ich bin dann gut, wenn ich mich auskenne. Und ich kenne mich in der Politik zu wenig aus. Ich kenne mich in meiner Welt aus. Ich war einmal Schul­sprecher, das reicht. Damals habe ich eine rote Couch für den Pausenraum gefordert. Und wir haben sie bekommen.

Du schließt politisches Engagement auch für die Zukunft aus?

Ja.

Gehst du zu jeder Wahl?

Das wäre gelogen. Als Teenager war ich mir auch nicht der Wichtigkeit bewusst. Am Land musst du halt gehen, wenn der Bürgermeister gewählt wird. Aber ich habe mittlerweile verstanden, dass es um etwas geht. Auch aus einem sehr egoistischen Standpunkt heraus: Ich will ja, dass ich es fein habe. Ich will halt, dass es alle fein haben. Das will eh jeder, denk ich mir! 

Du scheinst zuversichtlich.

Ja. (lacht) Sonst sperre ich mich ein und komm nicht mehr hinaus. Es besteht absolut die Chance, dass meine Zuversicht für die Fisch’ war. Aber bis dahin versuche ich zu machen, was ich kann.   •

 

 

Zur Person: Am 11. Mai 2014 gewann Thomas Neuwirth als Conchita Wurst den Eurovision Song Contest. Davor war das Leben des in Bad Mitterndorf aufgewachsenen Gastwirtkindes geprägt durch Teilnahmen an TV-Formaten wie ›Starmania‹, ›Die große Chance‹, ›Die härtesten Jobs der Welt‹. Nach dem Sieg wurde Wurst über Nacht zum Weltstar, zur Botschafterin der Diversität, die in der Oper von Sydney sang und vor der UN-Konferenz sowie im EU–Parlament sprach. Nach mehrjähriger künstlerischer und persönlicher Selbstfindung tritt Neuwirth neuerdings als Conchita auf sowie als Wurst, sein kerliges Alter Ego mit kurzem Haar.