Jede Warnung wert

Um Katastrophen vorherzusagen, investierte Indien vor zehn Jahren massiv in Wetterwarnsysteme. Was niemand erwartet hat: Das System kommt vor allem Frauen zu Gute.

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Übersetzung und Adaption:
Clara Porák und Alicia Prager
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Fotografie:
Malherbe_laif_picturedesk.com

Jeden Tag hatte sie Angst, dass ihr Mann nicht zurückkommt, sagt Preethi Tandel. Mit 19 heiratet sie in Honnavar, einer Hafenstadt an der Westküste Indiens. Ihr Mann ist Fischer, mit seinen Kollegen fährt er aufs Meer. Nicht immer kommen alle zurück.

Heute, 15 Jahre später, ist das anders. Unfälle am Meer sind seltener geworden, erzählt Tandel. Der Grund: ein neues System der Wetterwarnungen. Sie haben das Risiko für Fischer und Fischerinnen wie Tandels Mann stark verringert.

Das neue System gibt es seit vergangenem Jahr, seitdem in Indien die Nationale Monsunmission gegründet wurde. Das Programm soll die Wettervorhersage verbessern, gedacht ist es vor allem für die Landwirtschaft, aber es profitiert eben auch die Fischerei. Dazu hat Indien in Hochleistungscomputer investiert und so ein hochmodernes Frühwarnsystem entwickelt, das heute zu den besten der Welt zählt. Die Zahl der Todesopfer bei extremen Wetterereignissen wie Wirbelstürmen ist deutlich gesunken.

Das neue System kam auch als Antwort auf die zunehmenden Wetterextreme: Zwischen 1982 und 2019 vermehrten sich sowohl die Anzahl als auch die Dauer und Stärke von Zyklonen am Arabischen Meer, an dem auch Honnavar liegt.[1] Mit jeder weiteren Erhitzung der Erde steigt das Risiko.

Mittlerweile kann ein Wirbelsturm in weniger als 24 Stunden von der Kategorie eins, die „minimale“ Schäden verursachen kann, zur Kategorie vier aufsteigen, die als „extrem“ gilt – zuvor dauerte das einige Tage lang, erklärt Roxy Mathew Koll, Klimawissenschaftlerin am Indischen Institut für Tropenmeteorologie. Diese Dynamik kann die Gewässer sehr schnell sehr unruhig machen. Werden Menschen wie Tandels Mann  von den Extremen überrascht, reicht die Zeit dann kaum aus, ans sichere Ufer zu gelangen.

Trotzdem ist die Zahl der Todesopfer stark gesunken: Als der Zyklon Gulab im vergangenen September im südlichen Odisha, einem Bundesstaat im Osten Indiens, auf Land traf, gab es eine einstellige Zahl an Toten. 1999 hatte ein ähnlicher Zyklon hingegen tausende Menschen getötet. Heute retten die Frühwarnsysteme Millionen Menschen, weil sie rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden konnten.

Aber mehr noch: Das System kommt besonders Frauen zu Gute – und das, obwohl das traditionelle Bild des indischen Fischers männlich ist.

Die Wetterwarnsysteme haben Indien großen wirtschaftlichen Gewinn gebracht. Die Erträge aus Landwirtschaft, Fischerei und Viehzucht sind nun höher. Was niemand erwartet hat: Rund  1,8 Milliarden US-Dollar und damit 26,6 Prozent dieses Gewinnes kommen von Frauen, zeigt ein Bericht des Ministeriums für Geowissenschaften (MoES) aus dem Jahr 2020. Warum? Nur einige Frauen, die in der Fischerei arbeiten, fahren auch selbst zur See, nutzen das Warnsystem, um sich selbst beim Fischfang zu schützen oder besser zu planen, wann sie ihre Fische verkaufen und nicht zur See fahren.

Vor allem aber sind Frauen in den Fischereigemeinden entlang der fast 7.500 Kilometer langen indischen Küste die wichtigsten Partnerinnen der Männer, die auf dem Meer arbeiten. Sie verkaufen den Fang, behalten den Überblick über Preise, Netze und andere Fischereigeräte. Informationen über das Wetter sind essenziell für sie. Rund 5. 700 Kilometer dieser Küstenlinie sind durch tropische Wirbelstürme gefährdet. Die Warnungen halten die Männer sicher und tragen so dazu bei, dass es den Familien auch wirtschaftlich besser geht. Deshalb rufen viele Frauen täglich das Informationssystem INCOIS an und informieren sich über die Bedingungen.

„Das Frühwarnsystem ist die Spitze des Eisbergs“, sagt Vasudha Chhotray von der University of East Anglia, die die Entwicklungspolitik des indischen Staates untersucht. Für sie zeigt die Debatte: Es ist ein Irrglaube, dass Frauen bei extremen Wetterereignissen nicht den gleichen Risiken ausgesetzt sind wie die Männer in den Gewässern. Entscheidungsträger sollten den geschlechtsspezifischen Auswirkungen ihrer Lösungen für den Klimawandel und extreme Wetterereignisse Beachtung schenken.

Viele Familien in den Küstengebieten leben auf Inseln, die von Wasserstraßen durchzogen sind. Wenn der Meeresspiegel steigt, wird es hier immer gefährlicher. „Viele Frauen bleiben in ihren Häusern zurück. Das kann sehr gefährlich werden“, so die Wissenschaftlerin. Die Geschichte der indischen Frühwarnsysteme zeigt: Wenn es um Anpassung an die Klimakrise und Klimaschutz geht, gibt es noch viel Potential für positive Wirkungen. Dazu müssen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen mitbedacht werden. Zum Beispiel eben die Lebensrealität von Frauen.

Die Dakshin Foundation, eine in Bengaluru ansässige gemeinnützige Organisation, die eng mit Meeresgemeinschaften zusammenarbeitet, fand heraus, dass Frauen sich um die Sicherheit ihrer zu Hause zurückgelassenen Kinder sorgten, wenn sie für drei bis vier Tage weggehen mussten, um getrockneten Fisch zu verkaufen.

Es gehe also darum, die Sicherheit von Frauen gerade in Ländern wie Indien zu gewährleisten, aber auch darum, über eine andere Gesellschaft nachzudenken: Das sagt Joyshree Roy, Umweltökonomin und  Energie- und Klimawissenschaftlerin am Asian Institute of Technology in Thailand. Denn die Betrachtung des wirtschaftlichen Nutzens der Politik für Frauen sollte nur der Anfang sein. Es geht auch um die soziale Dynamik, so Roy. „Wir brauchen mehr Indikatoren, um nachhaltige Fortschritte und soziale Auswirkungen zu verfolgen“, sagt sie. „Wie beteiligen sich die Menschen mit dem neuen Wissen, das ihnen vermittelt wurde, an der Entscheidungsfindung? Verändert sich die Vermögensverteilung?“

Doch wie vulnerabel Frauen in der Klimakrise sind, ist wenig erforscht. Extreme Wetterereignisse, die aufgrund des Klimawandels häufiger auftreten, führen in Indien nachweislich zu einem Anstieg der geschlechtsspezifischen Gewalt, zu einer Unterbrechung der Gesundheitsversorgung für Schwangere sowie der Bereitstellung von Verhütungsmitteln, zu mangelnder Menstruationshygiene und in einigen Regionen sogar zu einem Anstieg der Kinderehen

Doch noch werden Frauen oft vergessen: Zum Beispiel beim Umstieg von Reisanbau auf andere Alternativen, sagt Chhotray. Denn in der traditionellen Reisbauregion macht die Klimakrise Probleme: Mit dem steigenden Meeresspiegel dringt Salzwasser in die Felder und macht sie für den Anbau unbrauchbar. In den Küstengebieten von Odisha fördert die Regierung heute stattdessen Aquakulturen. Das ist notwendig und wichtig. Nur vergaß die Regierung dabei die Frauen: Viele, die bisher stark in den Reisanbau involviert waren, verloren ihre Jobs. Die Aquakultur braucht weniger Arbeitskräfte, ist oft weit von den Dörfern entfernt und gilt als zu gefährlich für Frauen, die oft die traditionelle Kleidung, einen Saree ragen: Der lange Stoff dieser Gewänder verheddere sich leicht in den Maschinen zur Belüftung der Aquakulturbecken, so das Argument.

„Es geht hier um eine ganz grundsätzliche Veränderung der Lebensrealität der Menschen in der Region“, sagt Expertin Chhotray. „Und die Frauen werden dabei außen vor gelassen.“ Die Stimmen von Frauen werden also gebraucht, wenn Klimaschutz- und Klimaanpassung geplant werden, damit sie keine Nachteile dadurch erleiden.

Derzeit stellt Indien sein Zyklon-Frühwarnsystem mehr als 20 anderen Ländern im Indischen Ozean zur Verfügung, so dass die Vorteile für Frauen weit über die Landesgrenzen hinausreichen könnten.

Denn das System interessiert vor allem Frauen. Srinivas Kumar Tummala, Direktor von INCOIS, hält Workshops, die erklären, wie das System funktioniert. Tummala schätzt, dass mindestens 80 Prozent der Teilnehmer an den Workshops, die die Organisation für Gemeindemitglieder zum Thema Wetter-Update veranstaltet, Frauen sind. „Sie sind interessierter, sie sind zugänglicher“, sagte Srinivas. Es sei wichtig, Frauen in die Informationsverbreitung einzubeziehen und zu wissen, wie die Informationen von der Gemeinde genutzt werden. Mit Hilfe dieser Workshops können Frauen lernen, das System zu verstehen.

So geht es auch Tandel. Früher wusste sie nicht, wie man Wetterberichte selbst liest und war deshalb auf Freunde und Verwandte angewiesen, die sie ihr weitergaben. „Er erzählt mir nicht zu viel, weil er nicht will, dass ich mir Sorgen mache“, sagt sie über ihren Mann, „aber ich erfahre es auch durch andere in der Gemeinde, denn Nachrichten verbreiten sich schnell.“ Tandel hat bei der Schulung nicht nur gelernt, die Wetterberichte zu lesen, sondern auch, wie sie den Fisch vermarkten kann, den ihr Mann einbringt. Sie überlegt jetzt sogar, ein Unternehmen zu gründen.

 

[1] Studie https://eos.org/articles/climate-change-is-making-indias-west-coast-more-vulnerable-to-cyclones