Lernen als Dienstleistung?

Anstatt ein Refugium des ungestörten Denkens zu bieten, bezieht die Schule die Außenwelt immer stärker mit ein – zum eigenen Schaden, findet unser Autor, selbst Lehrer und regelmäßiger Autor unserer Bücherstorys. Eine Rezension von Jürgen Kaubes Sachbuch ›Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?‹.

›Wer diesen elenden »gesellschaftlichen Beziehungen« der Gegenwart früh genug in Kita oder Grundschule unterworfen wird, kann dann zum Zeitpunkt, da es fürs Überleben dieses Erziehungs- und Bildungssystems schließlich Reifebescheinigungen gibt, zwar keinen Strahlensatz anwenden, kein Krabbeltierchen bestimmen, keine Verbrennungsreaktion aufschreiben und weder deklinieren noch konjugieren, aber dieses umfassende Unvermögen ist in Gruppen gelernt worden, nur darauf kommt’s an.‹ So spitzt der Journalist und Autor Dietmar Dath in der Frankfurter Allgemeinen zu, was Jürgen Kaube, Mitherausgeber jener Zeitung, in seinem jüngst erschienenen Buch ›Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?‹ (Rowohlt, 2019) über 300 Seiten mit hinreichend Beweismaterial unterfüttert. Nun ist Dath Kommunist, was man einem Herausgeber der FAZ schwerlich nachsagen kann, aber für beide ist erkennbar, dass Denken dem Wissen folgt und Lernen Arbeit ist. Ob einer leninistische Theorien zu aktualisieren versucht (Dath) oder aber das herrschende System aus einer wertkonservativen Position heraus milde kritisiert (Kaube), der pädagogische Mainstream muss ihn abstoßen.

›Es sind wissens- und objektgebundene Operationen, die in einem guten Unterricht geübt werden.‹ Das ist einer der Kernsätze in Jürgen Kaubes Buch. Man sollte glauben, dass solche Selbstverständlichkeiten in den Schulen allgemein anerkannt werden. Wer aber – wie der Autor dieser Zeilen – gesehen hat, wie in der zweiten Hälfte seiner vierzigjährigen Tätigkeit als Lehrer immer mehr, nun ja, Voodoo-Praktiken in der Schule Einzug gehalten haben, hält wenig für unmöglich.

Hauptverursacher der Misere sind für Kaube die ›Didaktiker, Lerntheoretiker und Methodenerfinder und ihre erziehungswissenschaftlichen Begleitforscher. Sie haben, unterstützt durch reformfreudige Bildungsbürokraten und eine mit Reformen ihre Geschäfte machende Weiterbildungs- und Lehrmittelindustrie, die Schule zu einem Experimentierfeld von angeblichen Modernisierungen gemacht‹. Dies ist mitnichten eine Verteidigung des Alten und einer möglicherweise ›schwarzen Pädagogik‹. Es ist aber eine Verteidigung dessen, was sich bewährt hat und ohne Not über den Haufen geworfen wurde. Dazu zählen Elemente – von ›Tugenden‹ wagt man kaum noch zu sprechen –, die im Sport oder beim Erlernen eines Instruments auch für Amateure nach wie vor unverzichtbar sind: Instruktion, wiederholendes Üben, Kontinuität, Routine, fordernde Problembewältigung und Struktur.

Stattdessen herrschten laut Kaube weithin ›Kompetenzutopien und -phrasen‹, ›Digitalisierungsphantasien‹, ›lernpädagogische Originalitätssucht‹, ›Methodengymnastik‹, eine ›an Fakten desinteressierte Pädagogik‹ und Lehrpläne, die immer ›umfangreicher, redseliger und törichter‹ werden. Der Rezensent kann dies alles vollinhaltlich bestätigen. Darin liegen wohl auch die Gründe dafür, dass die Schule sehr häufig in ihren wichtigsten Aufgaben scheitert, ›Lesen, Schreiben und Rechnen‹ tatsächlich zu vermitteln. Für Jürgen Kaube sind diese drei Aufgaben das Um und Auf, und das Gelingen hängt wesentlich von den oben erwähnten ›Tugenden‹ ab. Lesen, Schreiben und Rechnen müssten nämlich noch ›stärker als andere Fächer prozesshaft unterrichtet werden. Die Welt der Sprache und die Welt der Zahlen eigneten sich über lange Jahre hinweg nicht für einen exemplarischen Zugriff, weil in ihnen das Spätere allermeist strikt auf dem Früheren aufbaut.‹ Aus einzelnen Beispielen entstehe aber keine Kontinuität. In der Realität werde in der gegenwärtigen Schule ständig alles unterbrochen, ›nichts wird eingängig, ausgeruht, tief behandelt‹. Man werfe nur einen Blick in neuere Schulbücher, die einem Aufmerksamkeitsregime unterworfen sind, das sich an Boulevardmedien und Methoden der Werbung orientiert.

Geradezu als Sakrileg muss in den Augen der kritisierten ›erziehungswissenschaftlichen Begleitforscher‹ erscheinen, was Kaube über die Lehrer sagt: ›Sie befinden sich nicht »auf Augenhöhe« mit den Schülern, sondern können etwas, was diese noch nicht können.‹ Um diesen Umstand zur Lehre zu nützen, müsse er von beiden Seiten als unproblematisch empfunden werden. Die gesellschaftlichen Entwicklungen stehen dem jedoch entgegen, denn über die Bildung und Unbildung der Schüler entscheiden, vor und nach dem Unterricht, der Konsum von Musik, Bildern, direkter und digitaler Kommunikation und der Erziehungsstil der Eltern mit. Hinzu kommt, dass die Lehrerrolle zunehmend als die eines Lerncoaches verstanden werde.

Jürgen Kaube beschreibt detailliert anhand unzähliger Beispiele, wie die Schule anstatt ein Refugium gegen die Außenwelt zum Zwecke des ungestörten Lernens und Denkens zu bieten, zum eigenen Schaden sowie dem der Schülerinnen und Schüler eben diese Außenwelt hereinholt. Der Politikwissenschaftler Benjamin Barber hat schon 2007 einen dieser Aspekte beleuchtet: In keinem Moment gebe es Zuflucht vor der ökonomisierten Betriebsamkeit, die Schüler würden nicht als autonome Lernende, sondern als freie Konsumenten und Kunden von Bildungsdienstleistungen behandelt werden.

Der Wikipedia-Eintrag zu ›Schule‹ ist noch Old School und fasst zusammen, was sich Jürgen Kaube und kritische Betroffene wünschen: ›Die Schule (lateinisch schola von altgriechisch σχολή, Ursprungsbedeutung: ›Müßiggang‹, ›Muße‹, später ›Studium‹, ›Vorlesung‹), ist eine Institution, deren Bildungsauftrag im Lehren und Lernen, also in der Vermittlung von Wissen und Können durch Lehrer an Schüler besteht.‹ Derzeit herrschende Kompetenzutopien machen die Verwirklichung dieses seit Jahrtausenden gültigen Schulbildes leider zunehmend unmöglich.