Liebe auf den zweiten Blick
Matthias Cremer hält die diesjährige Herzl-Vorlesung zur Poetik des Journalismus. Wie schaut er auf seine 35-jährige Karriere als Pressefotograf zurück?
Das Herz der liberalen Demokratie ist das Finden einer gemeinsamen Lösung‹, leitete Bundespräsident Alexander Van der Bellen heuer bei der Angelobung für seine zweite Amtszeit eine kleine Bitte an sein Publikum ein. ›Schauen Sie Ihre Sitznachbarin, Ihren Nachbarn an‹, sagte Van der Bellen an die Zuhörer im historischen Sitzungssaal des Parlaments gerichtet. Auch wenn er wisse, dass sich nicht jeder hier leiden könne, alle hätten sie die Verpflichtung, auch das Gute im Gegenüber zu sehen und für das gemeinsame Wohl zusammenzuarbeiten. Was genau Kanzler Karl Nehammer und seinem Vize Werner Kogler in diesem Moment durch ihre Köpfe ging, ist schwer zu sagen. Es besteht aber wenig Zweifel daran, dass sich die beiden in diesem Moment ganz gut leiden konnten.
Den Beweis dafür fing Pressefotograf Matthias Cremer für die Wiener Zeitung ein. ›Eine Geschichte mit einem Foto zu vermitteln, sie aber nicht ganz zu Ende erzählen‹, sagt Cremer rückblickend, das mache ein gutes Pressefoto aus. Und in der Tat, sein Bild ließ viele Interpretationen zu. Vom Kasperltheater bis zu besten Freunden auf der Schulbank fehlte es an kaum einer Auslegung. Cremers Foto wurde in den Sozialen Medien geteilt, im Fernsehen besprochen und von der Freiheitlichen Partei als Sujet missbraucht, um Stimmung gegen die Abgebildeten zu machen. Eine Klage dagegen laufe gerade, sagt Cremer. Die unerlaubte Nutzung von Bildern sei zwar eine ›Unart‹, sie bringe aber auch schnelles Geld.
Geld, das Pressefotografen immer bitterer nötig hätten. ›Wenn Medien in der Krise stecken, spüren es die Fotografen als erstes‹, sagt Cremer. Journalismus in Österreich kämpft gerade ums Überleben.
›Diese Überlebensfrage stellt sich meistens Leuten, die vom Text kommen, und wenn die sparen müssen, dann machen sie es zuerst bei den Bildern.‹ Cremer selbst fotografierte drei Jahrzehnte für den Standard – und zwar mit einer Fixanstellung. Nach seinem Abgang wurde die Stelle nicht mehr nachbesetzt. Und immer öfter würden Redaktionen auf Gratisbilder der Akteure zurückgreifen, die sie eigentlich kritisch beleuchten möchten. Erschwerend komme hinzu, dass viele gute Kollegen ›die Seiten wechseln‹ und nun nicht mehr Fotos von, sondern für Politiker schießen.
Das Ablichten von Politikern für eine Zeitung sei aber eine eigene Art von Fotografie, ›immerhin kann man eine Person ziemlich meucheln, wenn man Bilder von ihr schießt‹. Cremer behauptet von sich, in all den Jahrzehnten nie einen Menschen bewusst schlecht abgelichtet zu haben. Wobei es ihm manche nicht leicht gemacht hätten. ›Zwei Drittel aller Fotos von Maria Fekter musste ich wegwerfen‹, sagt Cremer. Nicht ihr Aussehen sei im Weg gestanden, sondern die lebendige Mimik. Nur einmal habe er aus dem Büro einer Landeshauptfrau eine Beschwerde gehört. Der Schnappschuss sei nicht in Ordnung, hieß es. Cremer widerspricht. ›Das war einfach kein geschöntes Foto, an das Politiker gewöhnt sind.‹ Darauf reagiert habe er damals nicht.
Denn für große Diskussionen über seine Fotos sei nie viel Zeit gewesen. ›Ich habe jahrzehntelang in einem sehr flotten Rhythmus fotografiert‹, sagt Cremer. Über die Jahre hätten sich ein paar hunderttausend Fotos, vielleicht sogar eine Million angesammelt, die er nie im Detail durchgeschaut habe. Jetzt stehe einmal die Theodor-Herzl-Dozentur an der Uni Wien über den Stand der Pressefotografie an, die Cremer für drei Termine antritt. Und danach? ›Ich habe vor, jetzt endlich einen zweiten Blick auf all meine Bilder zu werfen, vielleicht sogar einen Sammelband zu machen‹, sagt er. Es wäre Cremers eigene Auswahl aus 35 Jahren Fotografie, in der noch die eine oder andere unentdeckte Geschichte schlummern könnte. •