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Lieber krank als komisch

ADHS galt lange als Problem von Buben, die nicht stillsitzen können. Tiktok-Videos haben dieses Bild korrigiert – und zu einer steigenden Zahl an Selbstdiagnosen geführt.

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Illustration:
Ari Liloan 
DATUM Ausgabe November 2022

Nina lächelt nicht, sie strahlt. Gedankenverloren probiert sie ein Kleid nach dem anderen an. Langsam streicht sie den farbigen Stoff glatt. Danach probiert sie dünne Ketten und schwere Ringe, sie schiebt, dreht und zieht an ihrem Schmuck, entschließt sich jedoch am Ende, alles abzunehmen. Zehn Minuten lang fragt sie sich schon, was noch fehlt, um nach einem Blick in den Spiegel zu bemerken, dass sie nur ein Auge geschminkt hat. Ihre Freundin sitzt derweil seit einer halben Stunde im Café und wartet auf sie. Nina will ihr schreiben, dass es ihr leid tut. Sie stürmt aus der Wohnung, lässt die Tür mit einem Knall hinter sich zufallen. Während ihres Sprints fischt sie unruhig in ihrer Tasche, findet alte Kaugummis, Tickets von Events – aber das Handy, merkt sie, ist noch immer im Kleiderschrank.

ADHS, auch bekannt als ›Zappel-Philipp-Syndrom‹, wird oft mit unruhigen Buben in Verbindung gebracht, die durch ›störendes‹ Verhalten in der Schule auffallen. Die Abkürzung steht für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung und beschreibt Personen, deren Fokus und Reizverarbeitung anders funktioniert als bei ›neurotypischen‹ Menschen. Die Dopaminumverteilung im Gehirn sorgt unter anderem dafür, dass Betroffene sich nicht, sehr sprunghaft oder aber im Gegenteil überdurchschnittlich lange auf Dinge konzentrieren können. Neurodivergenten Menschen, also Personen, deren chemische Balance im Gehirn anders konstituiert ist als beim Durchschnitt, wird oft zugeschrieben, in einer anderen Welt zu leben, chaotisch oder verträumt zu sein. Sie stören. Tiktok und Instagram aber haben das Klischee vom hyperaktiven Buben jüngst nachhaltig infrage gestellt. Durch unzählige Kurzvideos haben Soziale Medien einen Raum erschaffen, der die Facetten der sonst so tabuisierten ›Andersartigkeit‹ von ADHS-Betroffenen aufzeigt. Der hyperaktive Bub ist nun nur noch eine der vielen möglichen Ausprägungen, die mit dem ›Aufmerksamkeitsdefizit‹ in Verbindung gebracht wird, er ist nicht mehr das ADHS-Paradebeispiel, mit dem sich die 21-jährige Nina beispielsweise nie identifizieren konnte. Jetzt sind es nämlich verschiedene Tiktok-Stars. 

›Pov (point of view): du hast ADHS und verlässt das Haus um 8:15, mit der Hoffnung um 08:05 auf der Arbeit zu sein‹, lautet der Titel eines der vielen Tiktok-Videos rund um ADHS, das über eine Million Zugriffe erreicht hat. Zu sehen ist ein junger Mann, der seelenruhig aus dem Haus geht, obwohl er bereits viel zu spät dran ist. Das österreichische Bundesministerium für Gesundheit vermerkt, dass zwischen 2,4 und sieben Prozent der Volksschüler ADHS-Symptomatiken zeigen. Weltweit wird die Prävalenz bei circa fünf Prozent vermutet. Fünf Prozent klingt eigentlich nach wenig, und doch scheint es heute zumindest auf Social Media so, als wäre ›jeder‹ von ADHS betroffen. Die Kommentare unter Videos wie dem oben beschriebenen klingen so: ›Apparently I have ADHD?????‹, ›OMG me‹, oder: ›so relatable (nachvollziehbar)‹. Viele Menschen, die die Videos kommentieren, sind offenbar extrem erleichtert: Endlich ist da jemand, der einem die peinlichen Eigenheiten nicht übelnimmt, weil er selbst genauso tickt. Endlich gibt es Menschen, die einen verstehen.

Tiktok hat vielen jungen Menschen ermöglicht, Wissen über die schambehafteten besonderen Eigenschaften zu erlangen, die zu ADHS gehören. Mehr und mehr etablieren sich Forschung und Unterstützungsnetzwerke rund um ADHS auch in Österreich. Dennoch stellt sich die Frage, wie man den ADHS-Hype interpretieren kann – denn von den vier Millionen Viewern eines Videos hat nur eine sehr geringe Anzahl tatsächlich ADHS. Wieso suchen plötzlich so viele Menschen eine Antwort und Erleichterung in dieser Diagnosestellung? Und birgt die Selbstdiagnose via Social Media nicht auch Gefahren? 

Auch Nina gehört zum Tiktok-Publikum: Ihr ganzes Leben schon fragte sie sich, was bloß falsch mit ihr sei. Ihre spezielle ›Art‹ kam noch nie gut an, sie wechselte die Schule und brach in der Oberstufe schließlich ab, um Schauspielerin zu werden. Die Matura holte sie dann abends nach. Mittlerweile spielte sie bereits in zahlreichen Theaterstücken und auch Fernsehserien mit und hat dabei Menschen kennengelernt, die ihr genauso ›komisch‹ zu sein scheinen wie sie. ›Beim Schauspielen habe ich nicht eine Person kennengelernt, die keine Schraube locker hat. Die meisten, mit denen ich arbeite, sind auf die eine oder andere Weise neurodivergent‹, meint sie. ›Dass ich »zu viel« bin, höre ich bereits mein ganzes Leben lang: zu laut, zu freundlich, aufdringlich, einfach zu viel.‹

Aber nicht nur in sozialen Situationen hatte Nina immer wieder Probleme, auch sie selbst empfand Leidensdruck: ›In den Phasen, wo es mir aufgrund meiner Depressionen schlechter ging, sind schon die kleinsten Auslöser Grund für einen großen Breakdown gewesen. Ich konnte immer wieder nicht in die Schule gehen oder Dinge tun, die mir normalerweise Spaß machen. Jede Energie, die übrig blieb, verwendete ich fürs Weinen oder fühlte mich einfach leer‹, beschreibt sie. 

Wegen ihrer depressiven Stimmungen ging Nina zu verschiedensten Ärztinnen und Ärzten. Auf die mögliche Diagnose ADHS und Autismus kam sie dann aber erst vor ein paar Monaten selbst, als sie eines Abends durch ihr Handy scrollte. ›5 signs you may have AD(H)D‹, hieß eines der 20-Sekunden-Videos, das sie auf die Fährte brachte. ›Ich habe mich selbst über Tiktok diagnostiziert, doch als ich meiner Psychiaterin davon erzählte, hat es einige Anläufe gebraucht, bis sie mir tatsächlich glaubte‹, erklärt sie. Letzten Endes konnte sie die Ärztin jedoch überzeugen: Nina ist nun offiziell mit ADHS und Autismus diagnostiziert – eine gar nicht seltene Kombination, da sich Symptome dabei oft überlappen.  

Die Schauspielerin ist kein Einzelfall: Weiblich gelesene Menschen haben oft mit Fehldiagnosen zu kämpfen, wenn es um ADHS und Autismus geht. Der Fachbegriff des ›Masking‹ bezeichnet die bei Frauen oft stark ausgeprägte Fähigkeit, Symptome gekonnt zu verschleiern. Depressionen, Borderline oder Bipolarität werden ihnen in der Folge sehr viel öfter zugesprochen als etwa ADHS. Obwohl geschlechtsspezifische Unterschiede bei ADHS derzeit vermehrt diskutiert werden, ist die wissenschaftliche Befundlage zu Fragestellungen aus diesem Bereich aktuell noch dünn. Fakt ist: Nur 0,025 Prozent der Bevölkerung sind Frauen, die mit ADHS diagnostiziert wurden. Bei Frauen werden oft eher internalisierende Verhaltensauffälligkeiten erkannt (sozialer Rückzug, Tagträumerei, Ängste), bei Männern eher externalisierende (impulsives Verhalten, Aggressivität, Widersprüchlichkeit) – vermeintlich ›geschlechtsuntypische‹ Symptome werden, auch wo sie klar vorhanden sind, sehr oft übersehen oder ignoriert.

›Es hat mich wütend gemacht, dass ich sehr wahrscheinlich erst so spät diagnostiziert wurde, weil ich eine Frau bin‹, sagt Nina. Die Tiktok-Videos sieht sie als ihre Rettung: ›Ein riesiger Vorteil an meiner Diagnose ist für mich, dass ich auf Instagram und Tiktok eine Community gefunden habe, der es genauso geht wie mir. Dadurch habe ich gelernt, dass meine Erlebnisse und Eigenschaften nicht »nervig«, »dumm« oder »abwegig« waren und sind, sondern komplett normal‹, erzählt Nina. 

Doch fehlende Diagnosen sind nur eine der Problematiken, mit denen Menschen mit ADHS zu kämpfen haben: Untersuchungen der Medical News Today, in den USA eines der beliebtesten Online-Medien für Gesundheitsinformationen, zeigen, dass Menschen mit unerkanntem ADHS oft zur Selbstmedikation greifen. Mit Zigaretten, Cannabis, Kokain oder Alkohol ›behandeln‹ Betroffene sich selbst. Der ständige Gedankenstrom findet Ruhe im Konsum. Sucht ist der Preis für die Klarheit und innere Regulation. 

Tiktok hat also in diesem Fall für Aufklärung gesorgt und lässt neurodivergente Menschen eine Erklärung für ihre Besonderheit finden. Doch wie kommt es, dass Betroffene mehr Zuflucht auf einer Internet-Plattform finden als bei professioneller Hilfe?  

›Es gibt einfach zu wenig Ressourcen‹, sagt die Psychologin und ADHS-Expertin Erika Barker-Benfield. Sie ist eine der wenigen Psychologinnen, die ihren Fokus auf ADHS-Therapien legen. Seit der Pandemie kommen immer mehr Patientinnen und Patienten mit dem Verdacht auf die Aufmerksamkeitsschwankung zu ihr. Die meisten haben sich selbst über Tiktok diagnostiziert. ›Die ADHS-Diagnose ist sehr komplex. Psychiater und klinische Psychologinnen und Psychologen müssen zusammenarbeiten, was das Ganze schon mal aufwendiger macht. Zudem gibt es nicht viele Fachleute, die sich dafür interessieren‹, erklärt sie. Auch werde die ADHS-Behandlung von der Krankenkassa nur teilfinanziert. Den Zugang zur Therapie und deren Kosten müssen Patientinnen und Patienten überwiegend selbst übernehmen: ›Im Monat rufen mich mindestens 20 Personen mit dem Verdacht, ADHS zu haben, an. Wirklich kommen tun aber nur fünf. Da fehlt es an Geld und staatlicher Unterstützung‹, so Barker-Benfield. Erst seit etwa zehn Jahren sei die Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung außerdem überhaupt ein Thema in Österreich. ›Kollegen streiten das Syndrom teils ab‹, beschreibt Barker-Benfield. ›Und von Seiten der Institutionen kommt nur wenig Engagement. Es handelt sich um ein politisches Problem.‹ Auch der Begriff ›Aufmerksamkeitsdefizit‹ sei zudem verschieden interpretierbar: ›Oftmals handelt es sich um eine Aufmerksamkeitsschwankung oder die Herausforderung, Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, nicht um ein »Defizit«‹, erklärt die Psychologin. 

Während Tiktok vielen Betroffenen den Weg zur Diagnose erleichtert hat, schafft die Selbstdiagnostizierung über das Internet natürlich auch Probleme. Eines davon: Je mehr Menschen fälschlich Symptome von ADHS an sich erkennen, umso weniger werden die wirklich Betroffenen in ihrer Neurodivergenz ernst genommen. ›Menschen reagieren oft mit Ungläubigkeit auf meine Diagnose‹, sagt Nina dazu. ›Sie testen mich, fragen, wie ich denn so »ruhig« bleiben kann, wenn ich doch ADHS habe. Oder sie sagen, dass ich viel zu empathisch sei, um tatsächlich auf dem Autismusspektrum zu liegen.‹

Eine Diagnose ist also noch lange nicht Grund für eine Besserung der Lebensumstände. Im Gegenteil: In einer von DATUM für diesen Text über Instagram durchgeführten Umfrage waren die Antworten der Betroffenen zwiegespalten: Viele ADHS-Diagnostizierte erzählten von einer Art Hilflosigkeit, die sie nach ihrem Testergebnis überfiel. ›Was jetzt?‹ lautete die Frage, die viele umtrieb. Denn eine Beratung, Therapiezuweisung und mehr wird den Patientinnen und Patienten nach dem ersten Arztbesuch nicht automatisch zur Verfügung gestellt. Darum müssen sie sich selbst kümmern – gerade für Menschen mit ADHS oft eine große Hürde. Es bräuchte Begleitung, Personen, die Diagnostizierten den weiteren Weg ebnen. 

Eine Gruppe von Spezialisten hat dieses Problem erkannt: Seit Kurzem gibt es eine österreichische Selbsthilfegruppe namens ›Team AD(H)S‹, der Betroffene auf Facebook und Whatsapp beitreten können. ADHS-Experten, die als Therapeuten und Berater tätig sind, bilden das Team. Zusammen begleiten sie Betroffene durch das Studium, die Arbeit oder vermitteln therapeutische Hilfe. Sie benutzen verschiedenste Tools, um Dinge, die für andere alltäglich scheinen, für Neurodivergente aber herausfordernd sind, zugänglicher zu machen.

›Ganz viele, die zu uns kommen, sind frisch diagnostiziert und wissen nicht, was sie mit dem Ergebnis anfangen sollen‹, berichtet Michaela Hartl-Sommerauer, Vorstandsmitglied der Selbsthilfegruppe, sie arbeitet als ehrenamtlicher Coach. Ihr Ziel ist es, das Leben neurodivergenter Menschen mit den richtigen Mitteln zu vereinfachen. ›Hier ist der Austausch, den wir in der Gruppe anbieten, entscheidend: Welche Anlaufstellen, was für Coachings und Tricks haben Betroffenen im Alltag geholfen? Gespräche in der Gruppe sind fast genauso wirksam wie eine Therapie‹, erklärt die Expertin. 

Auch Nina berichtet von Schwierigkeiten, mit denen sie nach ihrer Diagnose konfrontiert war: ›Bis die Medikamente richtig eingestellt waren und ich regelmäßig zur Therapie ging, ist viel Zeit vergangen. Ohne Unterstützung meiner Eltern hätte ich es nie bis hierher geschafft.‹ Manchen ADHS-Patienten werden Medikamente wie Ritalin verschrieben. Der amphetaminartige Wirkstoff hilft neurodivergenten Menschen bei der inneren Regulation, viele können sich durch die Tabletten besser konzentrieren, andere berichten von starken Nebenwirkungen: ›Vor den Medikamenten fühlte sich alles so an, als würde man schwimmen gehen und dabei sinken. Jetzt habe ich das Gefühl, wenigstens über Wasser bleiben zu können, dieselben Voraussetzungen zu haben wie alle anderen‹, berichtet Nina. Die Schauspielerin lebt wieder. Sie fühlt sich so gut ›wie seit ihrer Kindheit nicht mehr‹. Der Alltag scheint durch die medikamentöse Hilfe endlich keine Last mehr zu sein – plötzlich ist vieles einfacher.

Und was ist mit jenen, die sich per Tiktok fälschlich selbst diagnostizieren? ›Diagnosen, unabhängig davon, wer meint, sie stellen zu müssen, sind immer auch ein Spiegelbild unserer Gesellschaft und umgekehrt‹, meint die Psychoanalytikerin Paulina Tanterl, der auch die gehäufte Tendenz der Patientinnen und Patienten mit der Vermutung, ADHS zu haben, auffiel. Was ›komisch‹ und ›anders‹ sei, fordere immer auch die Norm heraus, meint die Analytikerin. Die Diagnose ADHS ist so in den letzten Jahren zu einem Anker der Außenseiter unserer Welt geworden. Ein Leo für die Verträumten, die mit schlechten Noten oder chaotischen Zimmern, die, die eine Antwort suchen. Für junge Leute, die einfach nur funktionieren wollen, aber eben nicht können. Über den Kreis der tatsächlich Betroffenen hinaus ist ADHS ein Symbol für all jene geworden, die ein wenig zu lang in die Luft starren und hoffen, statt wirklich ›was zu tun‹. Ein Trend, der viral ging, weil auch all die ein bisschen ›Komischen‹ eine Community suchen. 

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