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Lockdown anno ’81

1981 bis ’83 galt in Polen das Kriegsrecht. Das Leben stand still, die Rechte der Bürger waren außer Kraft gesetzt. Eine junge, polnischstämmige Österreicherin geht auf Spurensuche zu jenem Ereignis, das die Generation ihrer Eltern prägte.

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Fotografie:
Forum/Chris Niedenthal
DATUM Ausgabe Mai 2020

Als Anfang März der Corona-Ausnahmezustand zu einer immer konkreteren Realität wurde, machte ich eine Entdeckung: Während in Österreich die Politik von der größten Herausforderung seit 1945 sprach und sich niemand an Vergleichbares erinnern konnte, kamen meinen polnischen Eltern manche der Maßnahmen nur zu bekannt vor: Ausgangsbeschränkungen, Versammlungsverbote, Grenzschließung, Schließung der Universitäten, tägliche Regierungsansprachen zur aktuellen Lage – das alles hatten sie vor fast 40 Jahren in ihrer Heimat schon einmal erlebt.

Damals aber ging es nicht um eine Pandemie. Der Ausnahmezustand hieß › stan wojenny ‹, wörtlich › Kriegs­zustand ‹, dauerte von 1981 bis 1983 und war verhängt worden, um die 1980 gegründete Bewegung Solidarność und andere oppositionelle Kräfte zu unterdrücken, ihre Unterstützer aufzuspüren und zu verhaften. Die realsozialistische › Ordnung ‹ sollte wiederhergestellt werden, koste es, was es wolle. Andernfalls würde die Sowjetunion sie mit Gewalt herstellen, wie 1968 in Prag – so jedenfalls lautete die Rechtfertigung von General Jaruzelski für seinen Staatsstreich, deren Wahrheitsgehalt unter Historikern bis heute umstritten ist. Auch, weil dieselbe Militärregierung, die hier so autoritär und martialisch agierte, ein knappes Jahrzehnt später den unblutigen Übergang Polens zu einer pluralistischen Demokratie ermöglichte.

Ich selbst weiß, so wird mir klar, so gut wie nichts über dieses Kapitel polnischer Geschichte, obwohl dessen Folgen mein Leben geprägt haben: Dass meine Mutter 1991 mit mir als Säugling bei erster Gelegenheit das Land verlässt und nach Wien geht, ist ihre biografische Konsequenz aus den politischen Ereignissen, die 1981 ihren Anfang nahmen. Gesprochen haben wir darüber in unserer Favoritner Wohnung nie. Mir fällt nur ein, dass meine Mutter, seit ich denken kann, jedesmal fast manisch › Kriegsrecht! ‹ ruft, wenn sie das Geburtsjahr meiner älteren Halbschwester, 1981, erwähnt. Vielleicht ist jetzt, wo der Ausnahmezustand ihre Erinnerungen aufgefrischt hat, der beste Zeitpunkt, um endlich mehr darüber zu erfahren? Was genau ist damals eigentlich passiert, und wie sehr dominierte es anderthalb Jahre lang den Alltag von Millionen Menschen?

Die historischen Fakten: In der Nacht von 12. auf 13. Dezember 1981 wird in Polen für die Bevölkerung völlig unerwartet das Kriegsrecht verhängt. Am Sonntag wird ab sechs Uhr Früh die Rede von General Wojciech Jaruzelski, damals Partei-, Regierungs- und Armeechef zugleich, stündlich im Fernsehen ausgestrahlt – einer der wenigen öffentlichen Auftritte, in denen Jaruzelski keine dunkle Sonnenbrille trägt, die er aufgrund seiner in sibirischer Zwangsarbeit entstandenen Schneeblindheit benötigt. Die administrative Verwaltung des Ausnahmezustands übernimmt ein › Militärrat der Nationalen Rettung ‹ (auf Polnisch abgekürzt WRON) unter Jaruzelskis Führung, bestehend aus Admirälen und Generälen seines Stabs, insgesamt 21 Personen zählend.

Die Vorbereitung für diese seit einem Jahr streng geheim geplante militärische Operation, die unter dem Kryptonym › Operation Z ‹ im Politischen Büro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion lief, umfasst 70.000 Soldaten, 30.000 Milizen der Prügelpolizei ZOMO, 1.750 Panzer und 9.000 Fahrzeuge. Sie alle rücken aus, um innerhalb kürzester Zeit tausende Verhaftungen Oppositioneller durchzu­führen, Städte abzuriegeln und landesweit Kontrollpunkte zu errichten.

Das erlassene Maßnahmenpaket umfasst: Das ­Verbot jeglicher Demonstrationen und Streiks; die Schließung der nationalen Grenzen und Einschränkung der Bewegungsfreiheit auf das eigene Wohnviertel; die Einführung einer polizeilichen Sperrstunde zwischen 22 Uhr abends und sechs Uhr Früh; die Kontrolle und Zensur postalischer Korrespondenz; die Befugnis des Militärs, jeden Verdächtigen zu durchsuchen; die Schließung aller kulturellen Einrichtungen sowie der Universitäten. Außerdem: Verbot der freien Presse, Versammlungsverbot, Besetzung und Übernahme aller Rundfunk- und Fernsehstationen im Rahmen der Operation › Azalia ‹, wozu auch das Kappen aller Telefonverbindungen gehört, was das Verständigen der Rettung oder Feuerwehr für die nächsten 29 Tage verunmöglicht.

Was das alles konkret bedeutet, wird mir erst richtig klar, als meine Mutter mir zum ersten Mal ausführlich von ihrer Erinnerung an diese Tage erzählt. Glück im Unglück habe sie als damals 21-Jährige in dieser Nacht und am darauffolgenden Tag gehabt, sagt sie mir am Telefon von ihrem Haus in Gänserndorf aus. Sie wäre wohl aufgrund der an ihrem Arbeitsplatz kon­fiszierten Flugblätter und Bücher in ihrem Schreibtisch zumindest verhört worden – wäre sie nicht hochschwanger gewesen. Als sie am 13. Dezember wie gewohnt zur Arbeit ins Büro gehen will (Mutterschutz gibt es damals in Polen nicht), steht sie vor verriegelten Türen: › Ich habe damals eine Bibliothek der Caritas in Warschau verwaltet ‹, erklärt meine Mutter, Elżbieta Dyk, › die Milizen sind in die Caritas eingedrungen, ­haben die gesamte Bibliothek konfisziert, meinen Schreib­tisch abgesperrt und alles dichtgemacht. Ich war dort direkt an der Quelle zu diversen verbotenen Büchern, es ist viel aus Frankreich gekommen, wir haben Flyer der Solidarność gehabt, Zeitschriften, Pakete – all das ist nicht über den offiziellen Postweg gekommen. Meine Tätigkeit bestand darin, alles in der Bi­b­liothek zu katalogisieren und zu dokumentieren. Das Kolportieren haben, aufgrund meiner Schwangerschaft, andere übernommen. ‹

Sie erzählt von Panzern auf den menschenleeren Straßen, und von Arbeitskollegen, die untergetaucht oder verhaftet waren – was Sache war, ließ sich nicht so leicht herausfinden, denn aufgrund der gekappten ­Leitungen konnte man nirgendwo anrufen, und außer dem staatlichen Fernsehen gab es keine Informationsquellen. › Keiner wusste, wie es weitergeht. Wir wussten nur, dass wir einen geschlossenen Staat haben. Das, was uns normale Leute wirklich entsetzte, war die Angst davor, dass ein Krieg beginnen könnte. Jeder glaubte, dass wir nur darauf warten, dass die Russen-Panzer kommen und zu schießen beginnen. Ich dachte damals, dass die Kommunisten vielleicht wirklich keinen anderen Weg wissen, um mit uns zurechtzukommen, und dass sie uns einfach niederschlagen werden. Uns zerstören, weil sie keine andere Methode haben. ‹

Fünf Tage nach Verhängung des Kriegsrechts kommt meine ältere Halbschwester Anna zur Welt. Es ist ein besonders strenger Winter, der Schnee liegt kniehoch auf Warschaus Straßen. Meine Mutter ist gerade zu ihrer eigenen Mutter in einen Vorort gezogen, um ihr Bautechnik-Kolleg auch mit Baby beenden zu können. Der Fußweg zum Spital, in dem sie zu gebären geplant hatte, beträgt fast drei Stunden. › Das Krankenhauspersonal hat mich zwei Mal weggeschickt, als ich mit Vorwehen ins größte Warschauer Spital in Mo­kotów kam. Sie sagten, sie hätten die Anweisung von oben, die Betten freizuhalten. So ähnlich, wie sie jetzt wegen Corona sagen, dass du nur ins Krankenhaus fahren sollst, wenn es wirklich ernst ist. Aber das war in­sofern schwierig, als es absolut keine Verkehrsmittel gab, es ist nichts gefahren – ich hatte weder ein Auto, noch besonders viel Geld. Benzin-Marken hatte sowieso nur das Militär, oder Politiker. Das ist wirklich das Schlimmste für einen Menschen – da ist jemand, der Hilfe braucht, und sie sagen dir nur, dass es nicht geht, weil das Bett freibleiben muss. ‹

Die Gründung der freien Gewerkschaft Solidarność hatte auch bei meiner Mutter und ihrem Freundeskreis große Hoffnungen geweckt. Sie erzählt von einem Gefühl der Gemeinsamkeit, der Zugehörigkeit, der Perspektive. Die wirtschaftliche Lage innerhalb des Landes war auch schon vor 1981 zunehmend schlechter geworden. Eine Welle von Streiks und Demonstrationen war die Folge, die widerständigen Kräfte im Land organisierten sich, bis sich schließlich im August 1980 die Solidarność formierte. Zehn der damals rund 35 Millionen Polen schrieben sich als Mitglieder ein. Das war nicht nichts. Das war eigentlich gewaltig.

Deshalb war der Ausnahmezustand 1981 auch für meine Mutter ein besonders heftiger Wendepunkt: › Vor dem Kriegszustand sind wir nach der Arbeit gemeinsam fröhlich singend entlang der Eisenbahnschienen nach Hause spaziert. Ich war der Meinung, dass auch, wenn wir nur trockenes Brot mit Zucker essen, wir die Zähne zusammenbeißen und kämpfen müssen, für ein besseres Morgen. Nach dem 13. Dezember ist das gekippt, mir kam vor, dass jemand anderer die Kontrolle übernommen hat. Ich fand mich in einem Land wieder, in dem die Behörden mir zynisch ins Gesicht lachen, wenn ich um die Auszahlung der Pension meiner Mutter bettle, in dem Chaos herrscht und nur die, die Geld und Zugang zum Schwarzmarkt ­haben, mit ihren 20 Kilogramm Butter heimgehen. Und jeder sagt dir: »Wenn du ein Kind wolltest, dann ist das deine Sache, dann musst du selbst schauen, wo du bleibst.« ‹

Aber wer waren die anderen Leute, die meine Mutter erwähnt, die mit den 20 Kilogramm Buttersäcken? Die nicht, wie alle anderen, ab vier Uhr Früh Schlange stehen mussten, um ihre Fleischration im Geschäft zu ergattern; die sich nicht bemühen mussten, um Hilfspakete aus dem Ausland, die über die Kirche verteilt wurden. Zwar wurden über private Haushalte enorme Mengen an Hilfsgütern mobilisiert – allein aus Westdeutschland kamen zwischen 1981 und 83 circa 30.000 Hilfspakete in Polen an –, aber es reichte einfach nicht für alle.

Ich rufe meinen Vater Piotr Dudziński an, der seit seiner Geburt, bis auf ein paar Wiener Jahre in den 90ern, in Warschau lebt. Er lacht, wie immer, wenn ich ihn neugierig ausfrage nach Episoden aus seinem Leben, die für mich wie aus einem absurden Roman klingen. Dass mein Vater streetwise ist, wie es die Ameri­kaner nennen, es mit Regeln und Gesetzen nicht immer so ernst nimmt und im Zweifelsfall ungeschoren davonkommt – all das weiß ich schon lange. Trotzdem bin ich baff, als er mir locker von der Fälschung der Lebensmittelkarten in der Druckerei der größten noch erlaubten Tageszeitung Polens erzählt, vom Nachdrucken von Dollar-Bons, einer innerpolnischen Devisenwährung, und dem Schmuggeln von lebenden Ferkeln im Kofferraum seines Autos.

› Das Kriegsrecht? Na ja, wie vorher auch schon: Man musste halt wissen, woher, mit wem und wie man seine Angelegenheiten erledigt bekommt ‹, sagt er gelassen, ganz ohne Wichtigtuerei, im Gegenteil: Seine durchaus positiven Erinnerungen sind ihm fast ein wenig unangenehm, angesichts der Erlebnisse anderer, wie meiner Mutter, von der er schon lange getrennt ist und mit der er damals noch nicht zusammen war.

Mein Vater besaß ’81 ein kleines Kaffeehaus, das an eine staatliche Tennisportanlage angeschlossen war. Wie viele andere gastronomische Betriebe war auch sein Lokal ein perfekter Vorwand, um größere Mengen an Lebensmitteln zu beziehen und weiterzuverkaufen, also Umschlagplatz und Treffpunkt für die Eingeweihten. › Das Problem war ja nicht, dass die Leute kein Geld hatten – schließlich hat doch jeder neben seinem staatlichen Gehalt noch schwarz gearbeitet, das Geld war da, und das wussten und wollten die da oben auch. Nur die Ware war schwer aufzutreiben. ‹ Also machte mein Vater genau das zu seinem Alltagsgeschäft. › Das lief so ab, dass ich mich mit meinen Kollegen zum Frühstücken in einem Hotel traf, und dort wurde besprochen, wer was braucht – sei es Benzin, Zucker, Fleisch, Coca-Cola – und dann habe ich mich auf den Weg gemacht, bin zum Hintereingang der Markthallen gefahren und hab angeklopft. Ich muss sagen, das einzige Problem, das ich damals hatte, war, dass die Lokale alle um 22 Uhr zusperrten und man nicht die ganze Nacht in meiner Lieblingsdiskothek verbringen konnte. Immerhin konnte ich mir einen Ausgangsschein bis Mitternacht organisieren. ‹

Dann gab es da noch seinen Nachbarn, der vor dem  Ausnahmezustand Nachrichtensprecher war. Die WRON steckte ihn kurzerhand in eine Uniform, verkleidete ihn quasi als Soldaten, um ihn so die Nachrichten vorlesen zu lassen. Wir lachen. Eine schaurige Farce.

Und die Ferkel? › Die waren brav, die haben mir nie Probleme gemacht. Ich bin mit meinem VW Golf an den Stadtrand gefahren, hab sie abgeholt und in die Wohnung von einem Freund gebracht. Der hatte zwar keinen Warmwasseranschluss, verstand aber was vom Schlachten. Die Milizen haben mich überhaupt nur selten angehalten, einmal hatte ich Pech, da hatte ich über hundert Kilo Zucker im Kofferraum, da haben sie blöd geschaut. Da musste ich natürlich schon mit auf die Wache und auch ordentlich Schmiergeld rausrücken. Die Leute waren total heiß auf Fleisch und solche Sachen, es war ja wirklich für die meisten hart. Alles war rationiert. Für eine Hochzeit zum Beispiel hast du nur 20 Flaschen Wodka zugeteilt bekommen! ‹, resümiert mein Vater. Nur 20 Flaschen Wodka. Für einen Polen eine deprimierend kleine Menge Alkohol für eine Trauung.

Begehrte Ware waren aber nicht nur Zucker, Fleisch oder Benzin, sondern auch Bücher, vor allem jene in dem berüchtigten grauen Umschlag. Die Rede ist von den Ausgaben der kulturpolitischen Monatszeitschrift Kultura, die zuerst in Rom und dann in Paris herausgegeben wurde, eines der publizistischen Hauptorgane emigrierter Polen war und einen großen Leserkreis innerhalb Polens hatte.

› Die Aufregung, die dieser graue Umschlag damals in Polen auslöste, ist aus heutiger Perspektive wirklich schwer vorstellbar ‹, schmunzelt Danuta Stołecka, eine Anhängerin der Solidarność, die 1981 in der Redaktion einer von der Bewegung herausgegebenen Zeitschrift in Wrocław aktiv war.

Danuta hatte weniger Glück als meine Mutter: Am 13. 12. 1981 wurde sie verhaftet und bis Juni 1982 interniert. Innerhalb weniger Tage wurden im Zuge der Aktion › Jodła ‹ (› Tannenbaum ‹) ins­gesamt ungefähr 5.000 Personen verhaftet und auf um die 50 Internierungslager im Land verteilt. Im Verlauf des Ausnahmezustands stieg diese Zahl auf circa 10.000 Personen und umfasste unter anderem einen großen Anteil nationaler und regionaler Protagonisten der Solidarność, Anhänger demokratischer Bewegungen, Intellektuelle, Gewerkschaftsführer.

Danuta wurde gemeinsam mit anderen Frauen zuerst in einem regulären Gefängnis inhaftiert, dann nacheinander in zwei verschiedene Internierungslager überstellt. Dort saß sie in Haft, bis sie am polnischen Nationalfeiertag, dem 22. Juni 1982, im Zuge einer Generalamnestie für Frauen entlassen wurde. Rechtsbeistand oder auch nur eine Angabe über die geplante Dauer ihrer Internierung gab es in diesen ganzen sechs Monaten nicht. Dennoch bezeichnet Danuta das Internierungslager rückblickend als eine Art › goldenen Käfig ‹, verglichen mit gewöhnlichen Haftbedingungen: › Die Einrichtung, in der ich interniert war, war ein ehemaliges Gebäude der »Radiokomitet« – einer Institution der Partei, die Radio und Fernsehen verwaltete. Dort waren wir zwar vier Frauen in einem Zwei-Personen-Zimmer, aber wir hatten ein eigenes Bad und zwei gigantische Terrassen zur Verfügung, mit wunderschöner Natur rundherum. Nur raus konnten wir nicht. ‹

Immer wieder wurden Danuta und ihre Mithäftlin­ge verhört, sie verweigerte aber jedesmal die Aussage – obwohl ihr mehrfach angeboten wurde, gegen eine schriftliche Loyalitäts-Deklaration mit dem Staat vorzeitig freigelassen zu werden. Auch nach ihrer Ent­lassung wurde sie in regelmäßigen Abständen für 48 Stun­den eingesperrt: › Es gab monatliche »Jubiläen« zur Einführung des Kriegsrechts, da gab es immer De­mons­trationen. Und damit wir daran nicht teilnehmen können, sind ich und viele andere vor diesen Aktionen jedesmal präventiv verhaftet worden. ‹

1984 reiste Danuta Stołecka schließlich mit einem Pass aus Polen aus, mit dem man keine Möglichkeit zur Rückkehr hatte – einen anderen bekam sie nicht bewilligt – und kam nach Wien. Von hier aus wirkte sie bis zur Wende im Rahmen der sogenannten › Solidarität für die Solidarność ‹. Ihre polnischen Freunde unterstützte sie mit Geld, Lebensmitteln und Arbeitsmitteln für die Druckereien im Untergrund. Danutas hauptsächliches Metier waren allerdings die begehrten Werke von in Polen verbotenen Autoren, sowie historisch-wissenschaftliche Publikationen – all diese verbotene Literatur gelangte über ein dichtes Netz von Kontakten und nicht zuletzt über Danutas Wohnung von Wien nach Polen.

Am 22. Juli 1983 wurde der Ausnahmezustand formal beendet, das repressive gesellschaftliche Klima blieb der polnischen Gesellschaft aber bis zur Wende 1989 erhalten. Letztendlich, über Umwege, war das Engagement von Danuta, meiner Mutter und ihren Millionen Mitstreitern für ein anderes Polen erfolgreich. Im Februar 1989 kam es zum sogenannten › Runden Tisch ‹, General Jaruzelski und Solidarność-Vorsitzender Lech Wałęsa unterzeichneten dabei eine Vereinbarung zur Wiederzulassung der Gewerkschaft Solidarność und bereiteten die ersten › halb-freien ‹ Wahlen zum polnischen Parlament vor. Der Rest ist Geschichte: Wałęsa wurde 1990 erster frei gewählter polnischer Präsident der Nachkriegsära, und 2004, nicht einmal 15 Jahre später, trat Polen bereits der EU bei.

In dieser gilt es allerdings spätestens seit dem Amtsantritt der PiS-Regierung unter Beata Szydło 2015 als Problemfall, weil PiS-Chef Jarosław Kaczyński, wie sein Busenfreund Viktor Orbán in Ungarn, demokratische Institutionen schrittweise unterhöhlt, die Unabhängigkeit des Rechtsstaates beschneidet und alle Kritiker als Volksfeinde beschimpft. Dabei sollte gerade er es besser wissen: Jarosław Kaczyński war nämlich, wie sein bei einem Flugzeugabsturz 2010 ums Leben gekommener Zwillingsbruder Lech, einst selbst Mitglied der oppositionellen Solidarność.

Erst kürzlich rügte die EU-Kommission die pol­nische Regierung dafür, die für 10. Mai 2020 geplanten Parlamentswahlen trotz Coronakrise und erheblicher gesundheitlicher Bedenken gegen den erklärten Willen der Opposition durchdrücken zu wollen.

Eine paradoxe Situation, wie auch Jerzy Kochanowski feststellt, Professor für Zeitgeschichte am Historischen Institut der Warschauer Universität, der den Ausnahmezustand des Jahres 1981 als 21-jähriger Geschichtestudent miterlebte: › Es ist um 180 Grad umgekehrt als in den 80ern. Für die PiS ist die Einführung eines echten Ausnahmezustands eine Unmöglichkeit, denn das würde bedeuten, dass man die Wahlen verschiebt. Die PiS hat Angst, dass sie in einem halben Jahr verlieren werden, weil es eine so große ökonomische Krise geben wird. Mein Umfeld ist gegen die Abhaltung der Wahlen, wir neigen eher zu einem Boykott, um zu zeigen, dass wir nicht vorhaben, daran teilzunehmen. ‹

Ein solcher Wahlboykott – wenn er tatsächlich, wie von der Opposition erhofft, von einem wesentlichen Teil der Wahlberechtigten mitgetragen wird – könnte auch für die derzeit scheinbar fest im Sattel sitzende PiS-Regierung zum Problem werden. Denn nicht nur während des Ausnahmezustandes 1981–83 hat die polnische Bevölkerung bewiesen, dass sie von einer autoritären Führung auf die Dauer nur schwer unterzu­kriegen ist.

Oder, wie es Danuta Stołecka formuliert: › Ob ich 1981 eine realistische Chance für die Solidarność sah? Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit wuchs. Aber ich wollte mit guten Leuten, mit Menschen, die ich wirklich sehr gern hatte, das tun, was ich als richtig empfand. Nicht, weil es realistische Aussicht auf Erfolg gab. Sondern um Sand im Getriebe zu sein. ‹ •