Millionenshow

Viel Geld für wenig Arbeit: Das verspricht Multi-Level-Marketing jungen Leuten. Abdullah aus Graz glaubt daran.

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Illustration:
Federica Bordoni
DATUM Ausgabe September 2017

›Wenn du schlecht über mich schreibst, bin ich im Arsch.‹ Einen Tag vor dem dritten Treffen wird Abdullah Badawi am Telefon nervös. Er habe wie vereinbart mit seinem Freund gesprochen, der zu den Szenegrößen in Österreich zählt und ihm die Interviewanfrage weitergegeben. ›Ich spreche mit Journalisten nicht mehr ohne meinen Anwalt‹, hatte der geantwortet. Jetzt ist Badawi nicht mehr sicher. Vielleicht ist dieses Treffen doch keine gute Idee.

Als Abdullah Badawi wieder als Antwort bekommt, dass er mit Kritik rechnen müsse, aber seine Ansichten im Artikel ebenfalls Raum haben werden, lässt er sich umstimmen. Einmal könne man es ja doch wagen, einen Journalisten seine Geschichte aufschreiben zu lassen, meint er. Abdullah Badawi, 22, Wachs im Haar, dicker Ring am Finger, ist ein Spieler. ›Der größte Fehler ist es, einer Möglichkeit keine Chance zu geben‹, lautet einer seiner Lieblingssprüche. Der berühmte Automobilhersteller Henry Ford soll das gesagt haben.

Ein schlechter Ruf ist überall auf der Welt, in jeder Gesellschaftsschicht, in jeder Menschengruppe schwer auszuhalten. In Abdullah Badawis Beruf ist er mit Sicherheit der Untergang: Willkommen im Multi-Level-Marketing.

Multi-Level-Marketing, kurz MLM, oder auch Network-Marketing genannt, ist das Gegenteil des herkömmlichen Handels. Produkte werden nicht vom Hersteller oder von Zwischenhändlern beworben, sondern von Kunden, die dafür eine Provision erhalten. Distributoren nennt man sie. Als Gegenleistung für die Provision verpflichten sich MLM-Distributoren dazu, monatlich eine bestimmte Menge der Produkte zu kaufen, andere Unternehmen verlangen Mitgliedsbeiträge. Für jeden weiteren Kunden, den ein von ihnen angeworbener Distributor anwirbt, bekommen sie ebenfalls Provision.

Je nachdem wie stark ein Unternehmen von den eingebrachten Geldern lebt, kann es sich dabei um ein illegales Schneeballsystem handeln. Das sind Geschäftsmodelle, die von einer stetig wachsenden Teilnehmeranzahl leben, davon abhängig sind. Wie ein Schneeball, der einen Hügel hinabrollt, werden sie immer größer durch die Beiträge neuer Mitglieder. Andernfalls zerbröseln sie. Der Weltverband der MLM-Unternehmen schätzt, dass es 165.000 in Österreich sind. Die Branche boomt. Inzwischen auch unter Jugendlichen.

Multi-Level-Marketing gibt es bereits seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Unternehmen wie Amway oder Mary Kay sprechen seit Jahren bestimmte Zielgruppen an – Menschen aus der Arbeiterschicht, zum Beispiel. Oder ausschließlich Frauen. Doch es ist eine neue Entwicklung, dass Unternehmen gezielt mit jungen Leuten Geld verdienen. Der Vorreiter dieser Strategie heißt Vemma. Ein Unternehmen, das den Energydrink Verve verkauft, und lange Zeit nur eines der – von der Branche selbst geschätzten – 600 bis 800 amerikanischen MLM-Unternehmen. Als weltweit tausende Millenials den Energydrink für sich entdeckten, konnte es sich von anderen abheben. 2013 und 2014 machte Vemma nach eigenen Angaben einen Umsatz von über 200 Millionen Dollar. Für Vemma war Österreich der erste und bisher erfolgreichste Markt in Europa. 2015 wurde es von der Federal Trade Commission (FTC), einer unabhängigen Wettbewerbs- und Verbraucherschutzbehörde in den USA, stillgelegt und unter hohen Auflagen wieder zugelassen. Mit seiner Geschichte wurde Vemma zur bekanntesten Marke eines Trends. Das Unternehmen hat eine Bewegung ins Rollen gebracht, die nun andere zu wiederholen versuchen.

Seit zwei Jahren lebt Abdullah Badawi von Multi-Level-Marketing. Seinen Job als Verkäufer in einem Möbelhaus hat er deswegen aufgegeben. Davor hat er eine Elektriker-Lehre nach einem halben Jahr abgebrochen. Im MLM-Business arbeite er nicht so viele Stunden in der Woche. ›Vierzig Jahre Gefängnis‹ nennt er Vierzig-Stunden-Jobs. Badawi arbeitet lieber weniger und verdient mehr. Wie seine Vorbilder, allesamt Szenegrößen. Logan Shippy ist eine von diesen.

Nachdem Abdullah Badawi aufgelegt hat, postet Logan Shippy ein Live-Video auf seinem Facebook-Profil. Er ist auf dem Weg ins Fitnessstudio. ›Was geht ab, Faceboooook!‹, fragt er seine Community dann. Die User stellen Fragen zu seiner Frisur, den Getränken im Getränkehalter und warten darauf, von ihm persönlich genannt zu werden. ›Patrick, was geht ab, Mann? Adam, was geht ab, Bruder? Armando, was geht? Tiffany … alle Leute, die zuschauen, was geht ab, ab, ab? Ich trinke meinen Morgenkaffee und Mineralwasser, und ich habe einen BMW M4, den ich mit Unternehmer-Geld gekauft habe, haha, ich habe ihn nicht mit Angestellten-Geld gekauft, haha, ich habe ihn mit Unternehmer-Geld gekauft … Mann! Ashley, was geht ab?‹ Der Text, den Logan Shippy über das Video schreibt, besteht aus zwei Worten: ›Unternehmer rocken.‹ Logan Shippy, 24, aus San Clemente, Kalifornien, sieht aus, als wäre er aus Hollywood, Los Angeles. Er hat ein Sixpack, das er gerne herzeigt, blaue Augen wie ein Husky und einen dunklen Teint bis zu den Zehen. Er pflegt sein Aussehen wie sein Image, denn es ist seine Lebensgrundlage.

Weil MLM-Unternehmen grundsätzlich selbst keine oder nur sehr beschränkt Werbung für ihre Produkte machen, müssen einzelne Menschen die vermeintliche Großartigkeit eines Unternehmens mit ihrer Persönlichkeit nach außen tragen. MLM-Veranstaltungen sind dafür die besten Gelegenheiten. Es sind Festivals der Selbstdarstellung. In protzigen Hotelsälen erzählen Vortragende, wie sie es etwa vom Hufschmied zum Millionär geschafft haben. Die Teilnehmer schießen Fotos von sich selbst, beim Zuhören und ihrem endlosen Jubel nach dem Vortrag. In der Zeit zwischen den Veranstaltungen produziert sich die Szene in sozialen Medien selbst. Für einen MLM-Profi gehört es fast zum guten Ton, sich dort wie ein Popstar zu inszenieren.

Logan Shippy hat 17.300 Follower auf Facebook und 44.300 auf Instagram. Abdullah Badawi ist einer von ihnen. Er, der ehemalige Möbelverkäufer aus Stallhofen in der Steiermark und der schöne College-Abbrecher aus Kalifornien, sie machen seit einem Jahr gemeinsame Sache.

Abdullah Badawi hat ein schlechtes Gedächtnis, wie er von sich selbst sagt, doch an den Moment, der sein Leben veränderte, kann er sich gut erinnern. In seinen Facebook-Newsfeed hatte es am 8. Mai 2016 ein Foto gespült, das ihn neidisch machte. Zwei Jungs vor ihren 460er BMWs, jeweils umarmt von ihren Freundinnen, die lieber ihren Freunden in die Augen als in die Kamera sahen.

Im langen Text zum Foto schrieb einer der beiden Jungs: ›Du entscheidest dich für den Schmerz auf dem Weg zum Erfolg oder den Schmerz, etwas zu bereuen.‹ Der Neid schlug um in Neugierde. Abdullah Badawi schrieb dem Unbekannten eine Nachricht. ›Ich fliege zu dir nach Graz und erzähle dir mehr, treffen wir uns am Flughafen‹, antwortete der. Abdullah Badawi war beeindruckt: Der blasse Typ, der nicht älter als er selbst zu sein schien, hatte Zeit und Geld, um spontan von Deutschland nach Graz zu kommen. Am Flughafen, gleich nach dem Treffen, entschied sich Abdullah Badawi ohne zu zögern für den Erfolg. Denn die zweite Option schien ihm nicht vernünftig: Eine Chance zu verpassen.

>Wenn du schlecht über mich schreibst, bin ich im Arsch.<

Abdullah Badawi erinnert sich an das Foto zurück, während er in einem verbrauchten Cabrio über eine kurvige Landstraße in sein Büro fährt. Er arbeitet zu Hause in Stallhofen, eine halbe Stunde Autofahrt westlich von Graz entfernt. Die Vier-Zimmer-Wohnung für seine Freundin, seine zweijährige Tochter und ihn finanziert er mit den 40.000 Euro, die er mit einem Investment-Geschäft verdient hat. Das hatte er mehr einem glücklichen Zufall zu verdanken, als seinem Geschick. Ein Monat, nachdem er sich das Geld auszahlen ließ, wurde das Unternehmen verboten. Es habe sich herausgestellt, dass es illegal war, dass es sich um ein Schneeballsystem gehandelt hatte.

Bereits zuvor hatte Abdullah Badawi schlechte Erfahrungen mit anderen MLM-Unternehmen gemacht: Einmal bewarb er Energydrinks, für eine andere Firma Nahrungsergänzungsmittel, entwickelt von Nobelpreisträgern, wie er sagt. Beides stapelte sich in seinem Zimmer, er fand nur wenige Käufer und verlor ein paar hundert Euro. ›Die einzigen Verlierer sind die Aussteiger‹, steht in einem Buch von einem MLM-Guru, Eric Worre, das Abdullah Badawi neben dem Koran und einem Buch über die Geschichte der Weltreligionen in seinem Bücherregal stehen hat. Er hat sich diese Passage markiert. Niederlagen, meint er, als er das Buch in die Hand nimmt, seien für die Persönlichkeit wie das Fundament eines Hauses. Sie gehören einfach dazu.

Der Glaube an die Industrie und seine eigene Lernkurve sind die Gründe, warum er erneut bei einem MLM-Unternehmen einstieg. Das Unternehmen, das ihm der Typ am Flughafen vorstellte, sei seriös, da sei er sich sicher, diesmal wirklich. ›Hör auf mit dem Scheiß‹, hatte seine Freundin gesagt. Daraufhin stellte er ihr ein Ultimatum. ›Ich mache das nur, um für die Familie mehr Zeit zu haben. Wenn du das nicht schätzt, kannst du deine Sachen packen und gehen‹, hatte er geantwortet.

Nun also ein neuer Versuch bei Wealth Generators aus Salt Lake City. Das Unternehmen verkauft seinen Kunden Mitgliedschaften zu unterschiedlichen Preisen. Das teuerste Paket kostet 200 Dollar. Je nach gewählter Preis-Kategorie können sie Finanzsoftware verschiedener Art und Ausführung nutzen. Das beliebteste Produkt: Ein Algorithmus, der für Mitglieder am Währungsmarkt automatisiert handelt. 4.500 Dollar hat Badawi in dieses investiert. Das Versprechen des Unternehmens: Der Algorithmus erkennt, wann ein Kurs steigt, kauft davor die jeweilige Währung ein und verkauft sie dann teurer. Drei bis sechs Prozent Rendite im Monat soll das bringen, erzählen sich die Nutzer untereinander. Als Kunde müsse man nichts tun außer zuzusehen. ›Passives Einkommen‹ nennt das die Szene und wirbt damit. Neue Mitglieder werden auch hier nicht vom Unternehmen selbst angeworben, sondern von Kunden, die dafür eine Provision erhalten. In einem Vergütungsplan ist geregelt, wie viel sie für eine bestimmte Menge an Angeworbenen bekommen. Und es werden Ranglisten erstellt. ›Elite Pinnacle‹ heißt der höchste Rang, den ein werbender Kunde erreichen kann. 350.000 Dollar monatlich verdient man an der Spitze. Multi-Level-Marketing eben.

Nach Österreich ist Wealth Generators über Seefeld in Tirol gekommen. Dort wohnte Maurice Sommer, mittlerweile ist die ganze Erdkugel seine Heimat. Seinen Tiroler Akzent hat er durch klares Hochdeutsch ersetzt. Ihm stellte im Sommer 2015 auf Facebook ein Freund den blassen Typen aus Deutschland vor, der auch Abdullah Badawi anwarb. Im Winter registrierte er sich als erster Österreicher. Heute steht er kurz davor, einen Rang im Vergütungsplan zu erreichen, durch den er 9.000 Dollar im Monat verdient. Kürzlich war Maurice Sommer mit Logan Shippy, den Unternehmensgründern und anderen Szenegrößen auf Urlaub in Costa Rica, davor in Miami. Über ein Foto, das er von sich mit Cocktail in der Hand auf Facebook stellte, schrieb er: „Ich wollte immer schon ein Leben führen, wie ich es sonst nur von Youtubern oder Promis kenne.“ Mit nur 20 Jahren hat er sich seinen Traum erfüllt. Und den lässt er sich nicht schlechtreden.

Wer Wealth Generators im Internet sucht, der gelangt in Foren, in denen ehemalige Nutzer über verlorenes Geld klagen. Kritik von enttäuschten Nutzern, die vor einem halben Jahr noch auf der Facebookseite des Unternehmens zu finden war, ist mittlerweile verschwunden. Einen Artikel der Washington Post aus dem Jahr 2008 findet man, in dem von einer Klage wegen Betrugs gegen zwei Lehrer der Tradingschule „Teach me to Trade“ die Rede ist. Zwei der Wealth-Generators-Gründer, Ryan Smith und Chad Miller, haben die Trading-Schule mitbegründet. In einem Artikel der Staten Island Real-Time News aus dem Jahr 2007 erfährt man, dass ein anderer Mitgründer, Mario Romano, der auf der Unternehmensseite nicht genannt wird, den Football-Coach seines Sohnes verprügelt hat und seine Familie Verbindungen zur Mafia habe.

›Ich lese keine Zeitung und schaue keine Nachrichten. Dafür bin ich ein zu positiver Mensch‹, sagt Maurice Sommer dazu. Misstrauen gegenüber Medien ist Teil des MLM-Lifestyles; oder der ›Young People Revolution‹, wie es Vemma nennt und damit den Nerv einer Generation getroffen hat.

›In unserer Gesellschaft muss man sich als junger Mensch erst finden. Dann kommt ein Unternehmen daher und bietet einem Fertig-Selbstständigkeit wie eine Instant-Suppe zum Aufkochen an – das ist ein verlockendes Angebot‹, sagt Claudia Groß, Dozentin an der Universität in Nijmegen, den Niederlanden, die ihre Doktorarbeit in BWL über Identität und Ideologie im MLM-Business geschrieben hat. Die Young People Revolution sprach Ängste an und präsentierte eine Lösung. Auf Home-Events, in Messehallen und in YouTube-Videos sprachen die Top-Distributoren von der Wirtschaftskrise, der Angst, nicht den Status der Eltern zu erreichen, und dem traurigen Tod nach vierzig Jahren im Hamsterrad eines Angestelltendaseins. Sie machten Prunk und Reichtum zu einer Protestbewegung. Unternehmer rocken.

›Die Gesetzgebung in der EU ist lascher als in den USA‹.

Logan Shippy drückt auf den Knopf seines Autoschlüssels. Schnitt. Er steigt in den weißen BMW ein. Schnitt. Er steht auf einem Berg an der Spitze eines Fjords und beobachtet Kreuzfahrtschiffe. Schnitt. Er springt von einem Felsen ins Meer. Schnitt. Er steht in einem Privatflugzeug mit Holzvertäfelung und trinkt eine kleine Schnapsflasche aus. Schnitt. ›Die Leute fragen mich‹, sagt Logan Shippy im Video, das er heute – eine Woche später – postet: ›Logan, wie kannst du dir diesen Lifestyle leisten? Ich werde es euch heute beibringen.‹ Im Text zu einem Erklär-Video schreibt er: ›Ich werde euch mein System zeigen, mit dem ihr Schritt für Schritt 100.000 Dollar aufwärts im Jahr verdient.‹

Abdullah Badawi verdient mit Wealth Generators 1.000 Dollar im Monat, 852,41 Euro sind das. 200 Dollar zahlt er für seine Mitgliedschaft. Dreißig bis vierzig Burschen hat er in Österreich und Deutschland angeworben. ›Executive Business Builder‹ heißt der Rang, den er im Vergütungsplan erreicht hat. Er bewegt sich damit am unteren Ende des Rankings. Ganz anders als Logan Shippy, er ist ›Global Legend‹ und verdient damit 160.000 Dollar im Monat.

Seit der Erfindung von Multi-Level-Marketing streiten sich Konsumentenschützer, Anwälte, Unternehmer und Finanzbehörden weltweit, ob bestimmte Unternehmen Schneeballsysteme sind. In der EU ist das oft schwer herauszufinden. MLM-Unternehmen sind zu keiner Transparenz verpflichtet und die Gesetzgebung ist schwach.

In den Ergänzungen zur EU-Richtlinie, die unlautere Geschäftspraktiken verhindern soll, definiert der Gerichtshof der Europäischen Union vier Merkmale für verbotene Schneeballsysteme – das wichtigste lautet: ›Der Großteil der Einkünfte, mit denen die den Verbrauchern zugesagte Vergütung finanziert werden kann, stammt nicht aus einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit.‹ Die Schwäche dieser Regel liegt in zwei Wörtern: Was bedeutet der ›Großteil‹? 51 Prozent? Oder müssen es mehr sein? Das zweite Wort, das verdächtigen MLM-Unternehmen zugutekommt, ist ›Verbraucher‹. Distributoren eines MLM-Unternehmens gelten in der EU als Selbstständige. Damit fallen sie nicht unter die Richtlinie. Sie schützt nur ›Endkunden‹, also Leute, die ein Produkt nutzen, ohne es weiterzuempfehlen. ›Die Gesetzgebung in der EU ist lascher als in den USA‹, sagt Claudia Groß.

Die Ursache liegt in gut gemachter Lobbyingarbeit. ›Als die Richtlinie ausgearbeitet wurde, akzeptierte die Kommission die von der MLM-Industrie vorgeschlagene Definition von Schneeballsystemen‹, sagt Orsolya Tokaji-Nagy, die ihre Dissertation an der Universität Maastricht über das Lobbying der MLM-Interessensvertretungen in der EU schrieb.

Offizielle Zahlen zum Umsatz und zu den Mitgliederzahlen der MLM-Branche gibt es nicht. Lediglich die Direct Selling Association (DSA), der weltweite Dachverband, erhebt Zahlen. Sie kommen von den nationalen Verbänden, die Schätzungen für ihren Markt abgeben. Auch zu Wealth Generators gibt es keine Zahlen, außer die aus der Community: 70.000 Mitglieder seien es vor einem halben Jahr gewesen, heute seien es 190.000. ›Das ist selbst für MLM-Verhältnisse ein schnelles Wachstum‹, sagt Claudia Groß. In Österreich seien – laut Maurice Sommer – derzeit 300 bis 400 Leute registriert.

Wegen der aktuellen Gesetzeslage ist es auch kaum möglich, ein Urteil über Wealth Generators zu fällen. Oliver Klemm, der bei verschiedenen Banken in leitenden Positionen gearbeitet und sich mittlerweile als Trading-Coach selbstständig gemacht hat, ist skeptisch: ›Hier erzählt jemand: Ich bin geiler als die erfolgreichsten Investmentbanken der Welt, Goldman Sachs und J.P. Morgan. Und weil mir die Barmherzigkeit aus der Brust springt, darfst du bei mir dabei sein.‹ In den Trading-Statistiken, die das Unternehmen auf der Homepage herzeigt, sieht Klemm viele Ungereimtheiten: Eine Statistik zeigt die Leistung eines Trading-Accounts, auf den 3.303 Dollar eingezahlt sind. Wieso bekommt man nicht einen Account mit einem höheren Betrag zu sehen? In der Statistik sind eine gelbe und eine rote Kurve zu sehen. Die rote Kurve zeigt das ›Equity Growth‹ an. ›Equity Growth ist so etwas wie die Entwicklung des Kontostandes, also das, was auf dem Konto drauf ist‹, erklärt Klemm. Die Kurve steht bei minus zwanzig Prozent. In die andere Richtung, nach oben, wandert die gelbe Linie. Sie zeigt growth, das Wachstum, an. ›Ich vermute, die Growth-Kurve zeigt nur die abgeschlossenen Geschäfte an. Davon spricht man, wenn eingegangene Geschäfte wieder veräußert wurden‹, sagt Klemm. Vereinfacht bedeutet das: Man verkauft Währung wieder, wenn sie Gewinne bringt. Bei Verlusten behält man sie.

Zusätzlich stellt sich Klemm noch Fragen wie: Warum hat die Statistik bei 190.000 Nutzern nur 5.061 Views, also Webseitenaufrufe von Nutzern, die sich die Statistik angesehen haben? Wieso ist die Aktie des Unternehmens nur zwei Cent wert, wenn das Unternehmen so gute Rendite macht? Wieso gibt es keine Statistik, die über einen Zeitraum länger als ein Jahr geführt ist? Wieso ist nicht bei allen Statistiken beim Punkt ›Verifizierung‹ ein grünes Häkchen? Wie viel vom Gewinn bekommt das Unternehmen an Gebühren? In einer schriftlichen Stellungnahme weicht Markus Polrola, der Geschäftsführer der WG Germany GmbH, diesen Fragen aus. Das Unternehmen würde kein Geld der Nutzer in Verwahrung nehmen, lässt er wissen. ›Wir stellen unseren Abonnenten die Algorithmus-Technologie einer Drittfirma zur Verfügung‹, sagt er. Mit einem solchen habe man über zehn Jahre einen Vertrag geschlossen. Diese würde ›die Regeln für die Vertragsdurchführung definieren‹. Damit sei Wealth Generators nicht verantwortlich. Vorab lässt Polrola noch wissen, dass die deutsche GmbH nicht für die amerikanische sprechen könne: ›Die WG Germany GmbH vertreibt nicht die Produkte von Wealth Generators LLC.‹ Damit stellt sich eine weitere Frage: Wozu braucht es die WG Germany GmbH überhaupt? Für die Kundenbetreuung, sagt Polrola. Jedoch funktioniert Kundenbetreuung bekanntlich auch ohne eine eigene GmbH.

Graz, Kärntnerstraße, an einem brennheißen Augustsonntag. In einem Billardcafé an der stark befahrenen Straße, das den Eindruck macht, als wäre es am liebsten auch nur flüchtig hier, trifft Abdullah Badawi jene Leute, die er in der Grazer Umgebung angeworben hat. Er nennt sie sein ›Team‹. The Network WG, kurz TNWG, ist ihr Teamname. Neben dem Firmenslogan ›Find.Grow.Keep‹ haben sie ihn auf Hoodies und Basecaps drucken lassen. TNWG ist ein moderner Sparverein. Jeden Sonntag treffen sich die Burschen, die vor allem vom Land kommen, tauschen sich über Neuigkeiten von Wealth Generators aus und spielen dann Billard oder fahren Go-Kart.

Im dunklen Lokal steht neben dem Zigarettenautomaten auch einer für MAOMs und Pistazien. Die Ecken sind mit verschiedenen Plastikpflanzen ausgefüllt. TNWG hat sich an einen Tisch zwischen den Billardtischen und den Spielautomaten gesetzt. Dort riecht es nach Deo.

Heute sind zwei Neue zum Treffen gekommen. Der Vizebürgermeister einer Gemeinde, der neben einem selbstständigen Versicherungsmakler zu jenen zwei Leuten im Team zählt, die über ihre Zwanziger hinaus sind, hat einen Interessenten mitgebracht. Ein junger Landwirt hat sich bereits entschieden einzusteigen. Er wird im Anschluss mit Abdullah Badawi mitfahren, sich auf dessen Computer einschreiben und 500 Dollar einzahlen.
Ein ›Spezi auf a Hoibe‹ bestellt sich der zweite Interessent, der ebenfalls als Landwirt arbeitet. Am Tisch mit ihm sitzen der Vizebürgermeister und sein Sohn, der Versicherungsmakler, ein 17-Jähriger, der zweite Neue und drei Burschen, die um die 20 Jahre alt sind. Jeder von ihnen hat zwischen 1.170 und 9.800 Euro eingezahlt.

Abdullah Badawi nimmt noch einmal sein Basecap ab, streicht sich die Haare zurück, klemmt sie mit der Kappe ein, dann legt er los. ›Ich bin ein normaler Typ‹, sagt er, und erzählt von seiner abgebrochenen Elektrikerlehre, der unbefriedigenden Arbeit als Verkäufer im Möbelhaus, von Inspiration durch Warren Buffett, Donald Trump, dem Typen, der als Kind mit Michael Jackson befreundet war und jetzt in seinem Team dabei ist, er erzählt davon, dass das Unternehmen ein Produkt habe, das zwischen drei und sechs Prozent Rendite im Monat macht, ein Algorithmus, der automatisch erkennt, wann ein Kurs steigt. Er erzählt davon, dass das Unternehmen seit einem Jahr an keinem einzigen Tag mit Minus abgeschlossen habe, das Unternehmen an der Börse gelistet sei, eine Business-Bewertungsseite es mit ›A+‹ bewertet habe und man durch die Vergütung ins Unermessliche verdienen kann, außerdem biete das Unternehmen auch Seminare an, in denen man das Trading selbst lernen kann. ›Na, da nimm i scho’ des Automatische, den Algorithmus, i kann des ja net‹, sagt der Interessent. Drei Tage später wird er einsteigen. Die Bewegung hat einen Mann mehr.

Global Entrepreneur Movement, kurz GEM, nennt sie Julian Kuschner, einer der drei Top-Distributoren aus den USA. Mit den beiden anderen, Logan Shippy und Anthony Napolitano, machte er vor Wealth Generators Werbung für WakeUpNow. Ein MLM-Unternehmen, das einen Energydrink und Finanzprodukte verkaufte. Im Februar 2015 verkündete WakeUpNow sein Ende. Die Gründe dafür wurden nie veröffentlicht.

Wenige Tage zuvor verkündete Logan Shippy seinen Abschied von WakeUpNow in einem YouTube-Video. ›Wir haben eine Lösung gefunden. Wir werden sprinten. Die nächsten 90 Tage werden abgefahren … Ich sage euch, Leute, nie mehr unerfüllte, leere, gebrochene Versprechungen … Noch einmal, es tut mir total leid. Ich bin hier, um euch zu helfen.‹ Das Tempo seiner Aussprache wird dabei von Wort zu Wort höher. Als wäre er ein Football-Trainer, dessen Mannschaft in der Halbzeitpause hinten liegt. Und als wüsste er, dass das Spiel nicht mehr zu gewinnen ist.