Notizen aus Utopia: Der utopische Brühwürfel

Gesellschaften mögen verschieden sein, in ihren Idealbildern gibt es aber viele Überschneidungen.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe März 2022

Des einen Utopie sei des anderen Dystopie. Wir wissen nicht, wer diesen Gedanken als erste/r in die Welt gesetzt hat, aber er wird so oft wiederholt, er gilt geradezu als Gemeinplatz. Utopische Ideen seien gefährlich, weil sie die ersehnte Zukunft gemäß eines strengen Fahrplans und einer starren Blaupause anstreben. Oder wie Karl Popper nach dem II. Weltkrieg kritisch schrieb: ›Zwischen differierenden utopischen Zielsetzungen kann es keinen Kompromiss geben. Der Einsatz von Gewaltmethoden zur Unterdrückung konkurrierender Zielsetzungen wird erforderlich.‹ Die logische Schlussfolgerung: Da sich die Menschen auf keine Utopie einigen können, müssen sie notgedrungen in der real existierenden Mängelwelt ausharren.

Aber stimmt das überhaupt? Wenn ja, dann müssten die verschiedenen utopischen Visionen in allen wichtigen Aspekten einander widersprechen. Wer sich aber – so wie ich in den letzten Jahren – mit der reichen Tradition an utopischen Texten vertraut macht, wird feststellen, dass es trotz einer Vielfalt an unterschiedlichen Ideen auch überraschende Übereinstimmungen hinsichtlich wesentlicher Aspekte gibt. Viele Sprachen und doch eine zugrundeliegende Grammatik. So sehr, dass es möglich erscheint, aus den visionären Entwürfen ein Destillat zu gewinnen, quasi einen konzentrierten utopischen Brühwürfel (für einen hoffnungsfrohen Zaubertrank). Vielleicht sagt ein solches Destillat einiges aus über das Wesen des Menschen jenseits von ­Zurichtung und Manipulation, wenn wir diesen an seinen Tagträumen erkennen wollten, nicht an seinen Alpträumen.

Wie schaut dieses Idealbild von Gesellschaft aus? Gibt es so etwas wie die berühmte ›Goldene Regel‹, die in allen religiösen Glaubenssystemen existiert: ›Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.‹ Und was wäre, wenn solche essentiellen Übereinstimmungen einen Stimulus für die Verbesserung der Verhältnisse bildeten, indem sie ermöglichen, dass das Visionäre als mehrheitsfähiger Vorschlag wahrgenommen wird, und nicht als eigenwillige Phantasmagorie? Hannah Arendt hat einmal betont, ›dass keine hervorragende Leistung möglich ist, wenn die Welt selbst ihr nicht einen Platz einräumt.‹ Was im Umkehrschluss bedeutet, dass die utopischen Werke erst den Raum schaffen für eine Veränderung, für die zuvor kein Platz da war. Für das Neue. Das kann nur funktionieren, wenn es einer großen Zahl von Menschen – gefühlsmäßig und/oder rational – einleuchtet.

Hier nun so etwas wie ein Trockendock für Utopien, die ansonsten munter den vermeintlichen Weltgrenzen entgegen segeln, immerzu zu neuen Ufern. Hinsichtlich der Gesellschaft wird stets eine Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Bürgerinnen und Bürger imaginiert, die freie Entfaltung jedes Einzelnen, eine stark ausgeprägte Selbstständigkeit im Denken und Handeln und die freie Wahl der eigenen ­Tätigkeit gemäß den Talenten und Bedürfnissen des Individuums. Neuere Utopien gehen von der Überwindung des Patriarchats sowie aller Formen von Rassismus aus. Meist kommunizieren die Menschen würdevoll gleichberechtigt miteinander, es herrscht ein gegenseitiges (Zu)Hören und (An)Sehen vor, ebenso wie Toleranz und Akzeptanz gegenüber allen Lebensstilen und sexuellen Orientierungen. Altruismus ist eine selbstverständliche Grundhaltung, ebenso Hilfsbereitschaft und Solidarität, nicht zuletzt, weil die Erziehung den Fokus auf immaterielle Werte und auf Gemeinschaftssinn legt.

Was das Politische betrifft, sind flache Hierarchien die Norm, ohne rigide, verkrustete Institutionen und ohne Machtkonzentration in den Händen einiger weniger Menschen. Es gibt keine Privilegien für eine wie auch immer geartete Minderheit. Stattdessen egalitäre Netzwerke, Dezentralisierung, direkte Demokratie, eine allgemeine Teilhabe an politischen Entscheidungen. Gleichzeitig existiert nur eine Herrschaft, jene des Friedens und der Gewaltlosigkeit, das Militär ist ebenso abgeschafft wie die Rüstungsindustrie, die Polizei ebenso wie die Strafjustiz, und das Gefängnis existiert nicht einmal als Museum.

Im Bereich der Wirtschaft genießen die Menschen in unterschiedlicher Ausprägung die Segnungen des Schlaraffenlands, haben freien Zugang zu allen materiellen Gütern der Grundversorgung. Es wird nirgendwo gehungert, es gibt keinen obsessiven Konsum mehr und keine unnötige Verschwendung. Statt Geld gibt es Gemeingüter, statt Wettbewerb und Profit Kooperation und Tausch. Statt bei stumpfsinniger Arbeit verbringen die Menschen ihre Zeit mit sinnvoller Beschäftigung, vor allem mit kreativen und sozialen Aktivitäten, unterstützt von einer menschendienlichen Automatisierung. Wirtschaftswachstum ist kein ökonomisches Ziel mehr. Es dominiert ein hohes Maß an Selbstorganisation und Selbstversorgung.

Und was das Ökologische angeht (vor allem in den Utopien aus den letzten hundert Jahren), herrscht eine Wertschätzung der Natur vor, Recycling als Grundsatz, die Verwendung erneuerbarer Energien und Ressourcen, die Herstellung langlebiger Produkte, die dem tatsächlichen Bedarf der Menschen entsprechen. Tiere werden geachtet und geschützt, vegetarische Ernährung kommt oft vor (schon bei H.G. Wells: ›Wir können den Gedanken an Schlachthöfe nicht mehr ertragen.‹)

Die utopischen Narrative kreisen meist um das Spannungsverhältnis zwischen dem Individuum und dem Kollektiv, in dem Streben nach Balance zwischen individueller Freiheit und gesamtgesellschaftlicher Gerechtigkeit. Einerseits trägt das Individuum eine Verantwortung gegenüber seinem sozialen Umfeld. Andererseits wird die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit in keiner Weise eingeschränkt oder verhindert. Es existiert ein hohes Maß an Solidarität, die gleichberechtigte Partizipation aller wird angestrebt. Zugleich gibt es jene geschützten Räume, in denen der Einzelne sich beim Rückzug aus dem Kollektiv frei entfalten und entwickeln kann, ohne in ein antagonistisches Verhältnis zu den gesellschaftlichen Interessen zu treten. Was wie eine Quadratur des Kreises klingt in Zeiten, in denen die starre Gegensätzlichkeit von Egoismus und Selbstaufopferung dominiert, ist die wertvollste Quintessenz utopischen Denkens.

Es wäre ein lohnenswertes Experiment, dieses Destillat zur allgemeinen Wahl zu stellen, als Alternative zu der real existierenden Zerstörung und Ausbeutung von Planet und Mensch. Für welche Alternative würde sich die Mehrheit entscheiden, wenn sie frei, also gut informiert sowie ohne propagandistische Einflussnahme, entscheiden könnte? •

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