Notizen aus Utopia: Instrumente der Teilhabe

Warum wir neue Menschenrechte entwickeln sollten, die viele Traditionen in sich tragen.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe Februar 2022

Es gibt Karten, die unsere Weltsicht durch eine ungewohnte Perspektive oder Projektion in Frage stellen. Wenn man, wie der uruguayische Künstler Joaquín Torres Garcia, Südamerika auf den Kopf dreht, liegt der Kontinent wie ein zulaufendes Gebirgsmassiv mit felsiger Spitze auf dem Äquator, optimistisch nach oben orientiert. Spiegelt man die Welt um den Äquator, erscheint Afrika nicht nur wie die Wiege, sondern auch wie das Zentrum der Menschheit. Wie ausgedehnt die Ozeane unseres Planeten sind, lässt eine weitere Karte durch einen einfachen Trick erkennen: Das Land wird als Meer und das Meer als Land gezeichnet. Karten basieren auf willkürlichen Bestimmungen. Wie würde sich unsere Wahrnehmung verändern, wenn nicht Europa im Zentrum der Weltkarte stünde, eine keineswegs zufällige Konvention, sondern Asien. Sähe Europa dann nicht eher aus wie der Schwanz eines Hundes? Und wer mit wem wedelt, ist tierläufig bekannt. Noch im Mittelalter lag der kartografische Süden in manchen islamischen Karten oben, der Norden unten, bis es zu einer Festlegung im Sinne der machtpolitischen Realitäten kam. Wir haben die eingeschriebenen visuellen Codes der Karten verinnerlicht. In einer globalisierten Welt sind Karten von einer generischen Uniformität, die im Sinne einer zeichenhaften Lingua franca von praktischem Nutzen ist, zugleich aber auch das Stigma ihrer Entstehung in sich trägt, als Frucht und Folge des europäischen Kolonialismus.

Ähnlich verhält es sich mit Allgemeinen Menschenrechten, die historisch betrachtet zeitgleich zu einer Politik und Ideologie der Dehumanisierung entwickelt wurden. Da im Zeitalter des Kolonialismus Differenzen zwischen Menschengruppen festgeschrieben und manchmal sogar den Körpern eingeschrieben wurden, werden die Menschenrechte von vielen Intellektuellen im globalen Süden mit einem gewissen Argwohn als Instrument der Beherrschung und als Rhetorik der Heuchelei betrachtet. Humanismus wurde und wird auch als eine Praxis der Erniedrigung wahrgenommen. Wäre es somit nicht an der Zeit für universelle Menschenrechte, die sich aus unterschiedlichen Traditionen speisen und global diskutiert werden?

Letzteres ist die utopische Perspektive, weg von der Fixierung auf Differenz – ob sie nun das Aussehen, die Kultur oder die Sprache betrifft – hin zu einer Zukunft der Teilhabe aller, wenn der Mensch im Auge des Menschen nichts weiter ist als Mitmensch. Doch dieses Ziel setzt eine Neuformulierung der Menschenrechte auf Grundlage eines gemeinsamen Nenners voraus, bei dem es nicht nur auf das Endresultat ankommt, sondern auch auf den deliberativen Prozess, bei dem alle zu Wort kommen und Gehör finden.

Die Allgemeinen Menschenrechte als individuelle, absolute und inhärente Rechte wurden zwar in der Neuzeit festgelegt, es gab aber Aspekte von kodifizierten Menschenrechten in vielen vorangegangen Zivilisationen. Einige Beispiele: die Urukagina-Reformen von Lagash (2350 v.u.Z.), der Neo-Sumerische Kodex von Ur-Nammu (2050 v.u.Z.) und der Kodex von Hammurabi (1780 v.u.Z.), jeweils Gesetzestexte, in denen Frauen- und Sklavenrechte formuliert wurden. Der Pharao Bocchoris (725-720 v.u.Z.) stärkte die Gleichberechtigung der Geschlechter und schaffte die Schuldknechtschaft ab. Die frühe Polis des antiken Griechenlands garantierte die Freiheit aller Männer (und Nicht-Sklaven), in politischen Versammlungen zu sprechen und abzustimmen.

In Indien ließ der König Ashoka nach seiner Konversion zum Buddhismus in vielen Teilen des Landes Stelen mit radikal neuen und wegweisenden Geboten aufstellen: ›Hier (in meinem Reich) dürfen keine Lebewesen getötet oder als Opfer dargebracht werden … einige Tiere werden unter Schutz gestellt … Unterholz, in dem Tiere sich verbergen, darf nicht verbrannt werden und Wälder dürfen weder ohne Grund, noch um Lebewesen zu töten abgebrannt werden.‹ Oder: ›Alle Religionen sollten überall verbreitet sein, denn sie alle streben nach Selbstkontrolle und der Reinheit des Herzens. Man sollte den Grundsätzen anderer zuhören und sie respektieren. Der König wünscht, dass jeder gut in den Grundsätzen anderer Religionen geschult sein soll.‹

In Westafrika existieren seit dem 13. Jahrhundert die mündlich überlieferten Artikel der ›Charte du Mandé‹, die faszinierend vielseitige Leitsätze beinhalten, manche wesentlich, andere eher skurril. Ein Beispiel: ›Art. 16: Die Frauen sollen an allen Entscheidungen beteiligt sein. Art. 17: Eine Lüge, die seit vierzig Jahren lebt, gilt als Wahrheit.‹

Wenn kontrovers diskutiert wird, ob andere Traditionen das Prinzip der Menschenrechte in sich tragen, wird eine entscheidende Frage oft übersehen. Es geht nicht darum, ob bestimmte Menschenrechte erwähnt werden, sondern vielmehr, ob ein Konzept der Menschenrechte innerhalb einer alternativen Vision des individuellen und sozialen Wohls angelegt ist, und sei es nur als ethischer Anspruch oder politisches Ideal. Es geht z.B. nicht darum, ob der Konfuzianismus zur Gänze mit der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte vereinbar ist, sondern welche Ansätze es darin gibt, die für eine Weltgesellschaft relevant sein können.

Der Konfuzius-Schüler Mengzi etwa war überzeugt von der guten menschlichen Natur, er glaubte an die Gleichheit aller Menschen und an ihr Potential, sich zu vervollkommnen: ›Die natürlichen Triebe tragen den Keim zum Guten in sich; das ist damit gemeint, wenn die Natur gut genannt wird. Wenn einer Böses tut, so liegt der Fehler nicht in seiner Veranlagung. Das Gefühl des Mitleids ist allen Menschen eigen, das Gefühl der Scham und Abneigung ist allen Menschen eigen, das Gefühl der Achtung und Ehrerbietung ist allen Menschen eigen, das Gefühl der Billigung und Missbilligung ist allen Menschen eigen. Das Gefühl des Mitleids führt zur Liebe, das Gefühl der Scham und Abneigung zur Pflicht, das Gefühl der Achtung und Ehrerbietung zur Schicklichkeit, das Gefühl der Billigung und Missbilligung zur Weisheit. Liebe, Pflicht und Weisheit sind nicht von außen her uns eingetrichtert, sie sind unsere ursprüngliche Beseeltheit.‹

Was ist ein ›Menschenrecht‹? Zum einen etwas, auf das alle Menschen weltweit ein Anrecht haben, zum anderen aber auch spezifische Normen, die diesen Anspruch gewährleisten. Die meisten Alternativen zum westlichen Modell erfüllen eine dieser zwei Voraussetzungen nicht, entweder weil sie partikularistisch waren (der Irokesenbund z.B. war zweifelsfrei eine egalitäre Konsensdemokratie, aber nur nach innen), oder weil sie kein konkretes politisches Handeln vorsehen, um dem Ideal des moralischen und materiellen Wohlergehens aller Menschen Geltung zu verschaffen. Das muss aber nicht als Mangel wahrgenommen werden, sondern als Teil eines Verfahrens komplementärer Stärken und Schwächen der jeweiligen Traditionen, die nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sich gegenseitig befruchten und bereichern.

So wie ein Teil der europäischen Aufklärung beeinflusst war von der Beschäftigung mit außereuropäischen Kulturen, um anhand des fremden Blicks eine Fundamentalkritik an europäischer Herrschaft und Ideologie zu leisten. Solche Zusammenflüsse sollten verstärkt werden, nicht zuletzt deswegen, weil viele Menschen inzwischen nicht einem einzigen althergebrachten Codex unterliegen, sondern von einem Mix an religiösen, ethischen und politischen Auffassungen geprägt sind.

Bei allen regionalen Unterschieden fällt nämlich auf, wie viele Gemeinsamkeiten die unterschiedlichen Ansätze in sich tragen. Es ist gut vorstellbar, dass wir bei einer Diskussion auf Augenhöhe eine Essenz der Menschenrechte entwickeln können, die viele Traditionen in sich trägt und für alle akzeptabel ist als Ausdruck eines eigenen Sehnens. •

 

Zur Person:

Ilija Trojanow arbeitet an einem utopischen Roman. Hier notiert er Gedanken aus der Schreibwerkstatt.

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