Gekommen um sich zu beschweren

Unsere Autorin beobachtet ihre Generation der nicht mehr ganz so jungen Erwachsenen und fragt sich: Warum haben wir alle das Gefühl, dass uns viel mehr zustünde? Und wann haben wir den Moment verpasst, uns von unseren Eltern zu emanzipieren?

·
Illustration:
Alina Mosbacher
DATUM Ausgabe Februar 2022

Wir arbeiten ungern und daher wenig. Gerne Teilzeit, lieber gar nicht, am liebsten so wenig wie möglich, sodass es sich eben ausgeht mit Wohnung, Urlaub und Konsum. Das ergibt sich gut, weil uns auch niemand sichere Vollzeitstellen geben will, lieber befristete Anstellungsverhältnisse, lieber Scheinselbstständigkeiten, lieber All-In-Verträge zu stetig schlechter werdenden Konditionen. So arbeiten wir wirklich ganz ungern und daher wenig.

Wir sind in den 1980ern und frühen 1990ern geboren, folglich nicht mehr sonderlich jung, aber total: jung geblieben. Dabei ignorieren wir, dass die Männer, falls sie überhaupt noch Haare haben, mittlerweile grau meliert sind, und die Frauen auch plötzlich Falten im Gesicht und hängende Brüste haben. Wir feiern immer noch gerne, auch wenn manche von uns jetzt Kinder haben, gerne auch noch in den gleichen hippen Lokalen wie früher. Wir leben in Großstädten, exemplarisch hier und heute in Österreich: in Wien.

Wir sind Künstler, Grafiker, Journalisten, Kulturwissenschaftler, Architekten, Filmemacher, Kuratoren, Fotografen oder Gastronomen. Kreativ Abtrünnige sind Angestellte im qualifizierten öffentlichen Dienst geworden oder arbeiten in dubiosen Kommunikationsagenturen. Dafür genieren sie sich manchmal, sind aber gleichzeitig froh, ein geregeltes Einkommen zu beziehen. Gut für sie.

Ziemlich viel in unserem Leben ist wie früher, als wir noch studiert haben. Wir leben in hippen Gegenden, wählen linksliberal oder sogar wirklich links – schaden kann es nicht, der Sozialstaat bezahlt uns unsere Bildungskarenz, für unsere spät und trotzdem neu angefangenen Zweit- und Drittstudien, ist doch interessant. Wir sehen hip aus. Wir sagen hippe Sachen, richten unsere Wohnungen aufs Geschmackvollste mit den bestmöglichen Flohmarkt-Funden ständig neu ein, kaufen viele Bücher, die wir manchmal sogar lesen, gehen oft aus, bevorzugt zu Kunst- und Kulturevents der hippen Sorte.

Weil wir nur unwesentlich mehr arbeiten als unsere inzwischen pensionierten Eltern, leisten wir uns Saisonkarten für die öffentlichen Freibäder. Wir kommen uns recht lässig vor und frönen der schönen Lebensart. Und wir bekommen – auch das ist wie früher – Geld von unseren Eltern. Unsere Eltern stehen zu uns, sie unterstützen uns, sie helfen, wo sie können.

Die Apanagen sind subtil, sie gelangen nicht zwangsläufig als monatliche Überweisungen auf unsere Konten. Sie kommen in Form von Darlehen, die nie zurückgezahlt werden, als familieneigene Immobilien, die gratis bewohnt werden dürfen, als alte günstige Mietverträge einstiger Kindheitswohnungen, als Kindergarten-Zahlungen für den Privatkindergarten der Enkel, der in der noch fertig zu gentrifizierenden Wohngegend als notwendig erachtet wird (arg, wie ist das plötzlich passiert, daran merken wir, wie alt wir sind), als vollgetankte Autos, auch wenn wir moralisch gegen Autos sind, als Ferienhaus-Aufenthalte oder als von der Mama bezahlte Shoppingtrips ins Designer-Outlet, ins Möbelhaus, in ferne Länder.

Kürzlich schilderte ich, gelegentlich Journalistin, öfter PR-Beraterin, 33, einem Bekannten, Journalist, 39, einen unglücklichen Dialog mit meiner Mutter. Er riss die Augen auf. ›So redet sie mit dir? Und es gibt nichts zu erben? Keine Wohnungen, keine Bausparer, NICHTS??‹ Auf mein Verneinen schüttelte er bekümmert den Kopf. Er sagte, er sei nicht sicher, ob er sich diverse Neurosen seiner Eltern geben würde, wenn nicht: die Wohnungen. Deshalb. Die Eltern besitzen Wohnungen, die sie bereits vor ihrem Ableben vererben wollen. Die sehr erwachsenen Kinder nehmen sie gern. Doch es herrscht in dieser Familie Uneinigkeit darüber, wessen Aufgabe es gewesen wäre, auf wessen Kosten genannte Wohnungen vor dem prämortalen Vererben zu renovieren. Und natürlich, sagt mein Bekannter: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, aber unfair ist es trotzdem, dass die Wohnungen nicht in besserem Zustand rübergewachsen sind. Unfair. Alles unfair.

Bemerkenswert an meinem Umfeld Millenial/Snowflake/Psychotherapie/Onlinedating/Linkedin / Selbstoffenbarung ist, dass es sehr gerne über die eigene Kindheit redet und meistens etwas findet, was darin also wirklich total unfair war. Was alles besser gewesen wäre, hätte man mehr oder weniger Zuspruch erfahren, hätten die Eltern sich früher oder später oder gar nicht scheiden lassen, wären die neu dazugekommenen Stiefeltern hilfreicher oder zurückhaltender, weniger vermögend (weniger Macht!) oder vermögender (auch was beitragen vielleicht, hallo hallo?!) gewesen. Hinzu kommt: Wir alle wissen, neue Partner, am Ende vielleicht noch neue, kleine, halbe Geschwister, halbieren das potentielle Erbe. Muss das sein? Heiraten, in dem Alter? Ärgerlich.

Andere Generationen junger Upperclass-Linker, die Post-1968er, unsere Eltern, wollten Gerechtigkeit. Wir zählen ganz gerne auf, auf wie viele Arten wir eigentlich schon Opfer geworden sind. Spoiler: oft. Zu oft. Das will gesühnt werden.

Eine unserer Spezialitäten ist: sich beschweren. Wir haben in unserer Teenagerzeit viel Tocotronic gehört. Ein bekanntes Tocotronic-Album von 1996 heißt: Wir kommen um uns zu beschweren. Wir singen es auswendig mit. In der progressiven Mittel- oder Oberschicht, der wir entstammen, ist es leicht und sehr erwünscht, sich zu beschweren. Im Gymnasium, am Familienesstisch, im Hörsaal wurden wir stets nach unserer Meinung gefragt, Diskussionen waren willkommen, Ohrfeigen waren kein Thema, unsere Eltern wollten es besser machen. Unsere Meinung teilen wir der Welt auch heute noch sehr, sehr gerne mit. Es gibt kaum jemals negative Konsequenzen, wenn wir Kritik üben.

Vielleicht ist der eine oder andere Arbeitgeber genervt von uns, aber was soll’s, wir sind flexibel, dann suchen wir uns eben etwas Neues. Von klein auf wurden wir gefragt, miteinbezogen, und ta dah, hier sind wir. Gekommen um zu bleiben. Und so seufzen wir, Arbeit nervt, alles nervt, lieber fahren wir auf Urlaub. Lieber leben wir selbstbestimmt, lieber lassen wir uns nichts sagen, nicht von Chefs, nicht von Kollegen, nicht von den Eltern bitteschön. Wir sind erwachsen.

Und wenn uns was nicht passt, dann gehen wir. Money trees is the perfect place for shade, sagt der Rapper Kendrick Lamar, den wir heute sehr gerne hören, und wir müssen es ja wissen, denn wir rasten und verweilen eben dort, auf einem weichen Polster aus elterlichem Geld. Geld, das uns gerne gegeben wird. Zuwendungen, die uns unserer Meinung nach mehr als zustehen. Oft sind wir depressiv verstimmt und wissen nicht genau warum. Die Psychotherapeuten sagen, vielleicht sind wir etwas entwicklungsgehemmt, aber wir wissen kaum, wovon sie reden, und liegen verzweifelt auf ihren Couchen. Die Stunden zahlen die Eltern, zu Recht, wie wir meinen: Wer es verbrochen hat, zahlt.

Wir wissen einfach nicht, woher das kam, wie das passiert ist, ob wir einfach nie richtig rebelliert haben, ob wir nicht gottverdammt privilegiert waren. Auf unseren Köpfen Schirmkappen, an unseren Füßen bunte Turnschuhe, in unseren Chat-Korrespondenzen kindlich-süße Emojis, auf unserer Haut Tattoos, die wie Kinderzeichnungen aussehen, mitunter Illustrationen aus Kinderbüchern. Auf Partys, hihi, spielen wir Personen-Raten, und was steht auf diesen Post-Its auf unserer Stirn? Bart Simpson, Sailor Moon, Balu der Bär. Da ging’s noch mit Gemütlichkeit.

Unserer Überzeugung nach haben unsere Großeltern in der Zeit des Wirtschaftswunders brav gespart, unsere Eltern in den goldenen 80ern, auch in den 90ern noch gut reingecasht, sie hatten Glück. Für uns gab es erste Fernreisen als Familie, All-Inclusive-Clubs, Skiurlaube, eigene Kinderzimmer für jedes Kind. Wir haben es so gelernt, Überfluss ist gut für uns, und so wollen wir es auch heute noch.

Irgendwann, also immer, muss man auch mal einfach nur genießen, und wer wäre dafür besser geeignet als: wir. Manches von dem elterlichen Geld, das wir konsequent in uns selbst investieren (böse Zungen könnten meinen: abwirtschaften) kommt noch von den Urgroßeltern her. Manche von den Urgroßeltern haben ihr Vermögen nicht nur sogenannt erwirtschaftet, sondern auch arisiert, aber das ist lange her, weit, weit weg von uns, und wir können uns nicht um alles kümmern. Wir lernen gerne was dazu, studieren, machen Auslandssemester, machen kostspielige Ausbildungen nebenher, machen Doktorate, weil wir können. Wenn es uns im Büro nicht gefällt, werden wir Yogalehrer oder Psychotherapeuten, eröffnen Shops und Cafés, Galerien und Musiklabels. Wenn uns der Winter nicht gefällt, fahren wir in den globalen Süden und bleiben dort so lange, wie es unsere Scheinselbstständigkeit erlaubt.

Unsere Eltern sind Babyboomer, die die fetten Jahre des wirtschaftlichen Aufstiegs unseres kleinen, paradiesischen Landes mitgemacht haben. Es ist ein Gemeinplatz, dass sie es leichter hatten, all das ist bekannt. Die Alten haben mehr als wir. Mehr Geld, mehr Sicherheiten, billigere Mieten, mehr Pension, weil konstanter Wirtschaftsaufschwung, weil mehr und länger und durchgehender gearbeitet. Weil stabile Sozialdemokratie. Heute ist es nicht mehr so toll. Es ist nicht so, als würden die guten Jobs auf der Straße liegen. Nichts liegt auf der Straße, also ziehen wir uns in unsere Sippen zurück. Jede Entscheidung, die wir selbst treffen müssten, birgt Konsequenzen, potentiell schlecht für uns, die Welt da draußen meint es nicht so gut mit uns wie unsere Eltern. Wo die Unsicherheit groß ist, blüht parallel dazu die Genussfreudigkeit, und da wären wir: ready to rest.

Was sollen wir anderes tun, als stolz auf uns sein? Unsere Eltern sind stolz auf uns, wir sind so kultiviert und so frei, so frei wären sie gerne gewesen, aber diese seltsame Nachkriegs-Autoritäts-Erziehung, dieses Pflichtbewusstsein, dieses ganze Brav-Sein hat sie daran gehindert. Wir sind lieber nicht so brav. Ein Glück, dass uns da keine Bürden auferlegt wurden, und trotzdem sind wir den Eltern manchmal böse, weil sie uns doch so verwöhnt haben, weil sie uns so viel gelobt haben und wir gar nicht darauf vorbereitet waren, wie hässlich es noch werden würde, vor lauter E-Mails und Verantwortlichkeiten, Zukunftsängsten und Vergangenheitsnostalgie. Eigentlich sind sie schuld. Sie haben uns so selbstherrlich gemacht, wir sind das nicht, es sind unsere Umstände. Sie hätten sich das besser überlegen sollen. Wir für unseren Teil warten inzwischen nach wie vor darauf, entdeckt zu werden, in unserer ­Besonderheit, in unseren Talenten. Es passiert: selten.

Wir atmen tief ein, üben uns in Achtsamkeit, ziehen eine Line Speed, trinken Schaumwein, reden über unsere Essstörungen, streicheln unsere Kaschmirpullover, kuratieren unsere Bücherregale nach Farben, nach Alphabet, nach Themen, ächz, wie sieht das denn aus. Wir wollen immer neue, immer bessere Partner, sie sind vielleicht nur einen Klick entfernt, vielleicht in einer anderen, größeren Stadt, vielleicht ist das hier alles zu klein für uns. Wir wissen es nicht. Wir machen einfach mal Pause, it is eben not better to burn out than to fade away, so viel Zeit muss sein.

Gut auch, dass die Eltern jetzt, wo sie in Pension sind, Zeit haben. Sie mögen bitte auf unsere Kinder aufpassen, denn sie können. Ja, sie sollen sich doch freuen, dass alles irgendwie weitergeht, Samstagabend, bitteschön, danke sehr. Im Angesicht ihrer Swimmingpools, Seezugänge, Dachterrassen, ihrer kleinen oder größeren Anwesen, der phallischen Übermacht ihrer überdimensionierten Christbäume halten wir gerne die Hand auf, nehmen, stecken ein, stecken zurück.

Wir machen dafür Instagram-Redaktionspläne für unsere privaten Accounts, Duckfaces, fragen nach, ob man hier und dort vielleicht nicht doch eine Sauna einbauen könnte, sie hätten ja auch was davon und sie könnten es auch: bezahlen. Wir würden uns freuen. Wir könnten was zusammen erleben, das wäre doch schön, alle zusammen, unsere Eltern sind okay, Geld verbindet, die feine Lebensart will finanziert werden.

Unsere Kinder wissen dank uns bereits, wie man für Fotos posiert. Sie haben zweisilbige, liebliche Namen und sind angezogen wie wir selbst, zeitlos, plain, stilvoll. Wir schauen schon, dass das alles passt und was gleichschaut. Und was werden sie von uns erben? Das, was noch übrig ist. Wir wissen es nicht. Wir werden es dann schon sehen, wenn sie kommen, um sich zu beschweren.•

Sie können die gesamte Ausgabe, in der dieser Artikel erschien, als ePaper kaufen:

Bei Austria-Kiosk kaufen