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Partei ohne Selbsterkenntnis

Wie die ÖVP nach und nach in den Dilettantismus abrutscht.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe Juli/August 2022

Wir wurden Kanzler …‹ ›Wir sind Kanzler …‹ ›Wir können Kanzler …‹ ›Wir werden Kanzler …‹ Kanzler, Kanzler, Kanzler … Allein das zählte beim letzten Parteitag der ÖVP Mitte Mai in Graz.

Bei dieser Veranstaltung gab die Volkspartei mehr von ihrer inneren Verfasstheit preis, als den meisten Delegierten bewusst war. Es ging und geht nur um das Bundeskanzleramt. In 15 von 32 Regierungen seit 1945 hatte sie es besetzt, in 61 von 77 Jahren war sie an der Regierung. Der erste Verlust der Mehrheit 1970 galt jahrelang als unverdienter ›Unfall der Geschichte‹. Die Partei sparte sich jede Selbstreflexion. Und so auch 2022. 

Daran musste man angesichts des Grazer Parteitages denken. An dem Widerspruch zwischen Kanzler-Anspruch und Kanzler-Anstrengung leidet die ÖVP seit Jahrzehnten. Kein Wort der Selbst­kritik, kein Hauch von Selbsterkenntnis.  

Ein solcher Machtanspruch lässt keinen Raum für Nachdenklichkeit. 

Die ÖVP glaubt, ein Anrecht darauf zu haben, wie es auch zum Beispiel die Republikaner in den USA tun. Parteien ausdrücklich rechts der Mitte, wie die ÖVP unter Wolfgang Schüssel oder Sebastian Kurz, sind von sich und ihrem politischen Wollen derart überzeugt, dass sie bei aller Regierungserfahrung der fehlerlosen und untadeligen Umsetzung nicht genügend Aufmerksamkeit schenken. Das Wollen muss genügen. Auf diese Weise rutscht eine Partei jedoch in Dilettantismus ab. Jahrzehntelang konnte sich die ÖVP auf die Expertise der Beamtenschaft und der Partei nahestehender Verbände verlassen. Sie sah nie eine Notwendigkeit, die Sacharbeit ihrer Parlamentsfraktion entscheidend zu verbessern. Dies wiederum erklärt die Respektlosigkeit dem Parlament gegenüber und die Fixierung auf die Machtposition am Wiener Ballhausplatz.

Aber nicht nur die Scheuklappenpolitik einer Richtungspartei hinderte die ÖVP daran, eine mehrheitlich akzeptierte Politik mit aller Professionalität – in der Kommunikation, im politischen Marketing – zu untermauern. Eine Zeit lang hatte sie Zuflucht in der Erklärung gesucht, die Politik sei gut, allein die Kommunikation schlecht. An dem Punkt ist sie jetzt wieder angelangt. 

Die Flucht aus der Selbsterkenntnis wurde auch durch die Politik der Ausreden ermöglicht: Von 1986 bis 2000 waren es die ›roten G’fraster‹ in der SPÖ, die Konservative daran hinderten, der Bevölkerung Segen zu bringen. 2006 kam es mit dem SPÖ-Sieg zum zweiten ›Unfall der Geschichte‹. In den Jahren  danach gab es ebenfalls keine Anzeichen, dass die ÖVP die Ursachen bei ihrer Politik suchte. 

Und noch ein Widerspruch tut sich auf. Die Galerie jener Spitzenpolitiker der ÖVP, die sich Politik ›nicht mehr antun‹ wollen, ist für eine Partei der Anstrengung, Leistung, Verantwortung beachtlich: Michael Spindelegger, Josef Pröll, Reinhold Mitterlehner, Sebastian Kurz, Hermann Schützenhöfer, Günther Platter. Die Liste könnte schon bald noch länger werden – kurz vor Redaktionsschluss kündigte der ebenfalls mit Korruptionsvorwürfen konfron- ­tierte Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner einen ›mehrwöchigen Krankenstand‹ an.

Wie es einer Partei ergeht, deren innerer Kompass ausschließlich auf ›Wir sind Kanzler‹ aus­gerichtet ist, kann die ÖVP am Schicksal der Democrazia Cristiana Italiens ablesen. Ihr Untergang 1993 wird nicht zufällig gerade jetzt häufig erwähnt. 

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