Schlecht versorgt
Die Krise der Spitäler gefährdet nicht nur die Patienten, sondern auch das Gesundheitspersonal. Nach wie vor gibt es zu wenige Anlaufstellen für ›Second Victims‹.
Es ist das Jahr 2018. Berta Girlitz arbeitet gerade in der Anästhesie des AKH Wien. Gemeinsam mit zu wenigen anderen Krankenpflegern versorgt sie zu viele Patienten. Und das schon zu lange. Seit gut einem halben Jahr fühlt sich Girlitz immer seltener arbeitsfit. An diesem einen Tag im Jänner ist es besonders schlimm.
Girlitz, sie hat gerade etwa die Hälfte ihres Dienstes hinter sich, steht vor einem narkotisierten Mann. Nach seiner Lungenspiegelung, bei der ein Schlauch durch den Mund die Luftröhre hinabgeschoben wurde, muss sie ihm ein Schmerzmittel verabreichen. Dazu sticht sie eine Spritze in eine Flasche, zieht Flüssigkeit auf und steckt die Nadel in den Katheter. Girlitz hat das schon unzählige Male gemacht. Zwei Medikamente liegen nebeneinander. Girlitz spritzt eines davon. Es ist das falsche.
Was sie von diesem Tag an durchlebt, erfahren rund zwei Drittel aller Menschen in medizinischen Berufen irgendwann einmal. Das sogenannte Second-Victim-Phänomen, also neben Patienten das zweite Opfer im Gesundheitswesen zu werden, tritt auf, wenn Ärzte oder Pfleger zum Beispiel Patienten gefährden oder sie unter besonders tragischen Umständen sterben sehen. Solche Erlebnisse können traumatisierend wirken. Jede fünfte Betroffene leidet auch Jahre danach noch unter Depressionen und verliert das Vertrauen in sich selbst. Viele können ihren Beruf nicht mehr ausüben, bei manchen führt das alles gar in den Suizid. Institutionelle Hilfe für Betroffene gibt es selten.
›Second Victims gibt es schon, seit es die Medizin gibt‹, sagt Reinhard Strametz, Patientensicherheitsforscher von der Hochschule RheinMain. Die ersten Second-Victim-Studien im deutschsprachigen Raum hat der Anästhesist selbst verfasst. Ihnen zufolge sind rund zwei Drittel des Gesundheitspersonals Second Victims. Und diese Menschen, so sagt es Strametz, hätten ein Recht darauf, betroffen zu sein, ›doch wir Helfer lassen uns nur schwer selbst helfen‹. Immer wieder werde das Phänomen kleingeredet. Auch von Kollegen. ›Doch Mitarbeitersicherheit ist Patientensicherheit,‹ sagt Strametz, ›und es tut dabei nichts zur Sache, wie erfahren eine betroffene Person davor schon war‹.
Berta Girlitz hatte eine Menge Erfahrung. In ihren rund 40 Jahren Pflege hat sie schon viel erlebt und überlebt. Sie hat Menschen das Leben gerettet und ihnen beim Sterben auf der Palliativstation die Hand gehalten. Für sie ist der Beruf als Krankenschwester nach all den Jahren ein Stück von dem, was sie auch als Mensch ausmacht. Anders, so sagt sie, würde niemand diese Arbeit so lange durchhalten. Nennenswerte Fehler habe sie in all diesen Jahren nie gemacht. Mit dem Alter aber – ein halbes Jahr vor dem Zwischenfall auf der Anästhesie – begann Girlitz, an ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Es fiel ihr zunehmend schwer, sich zu konzentrieren. Wenn Patienten ungeduldig wurden oder sie anschrien, hatte sie nicht mehr dieselbe Contenance wie früher. In manchen Situationen begann ihr Herz plötzlich zu rasen. ›Wenn ich in der Früh in die Arbeit gekommen bin, habe ich nur noch gehofft, dass der Tag bald vorbei ist.‹
Und dann machte Girlitz’ Unwohlsein auch vor ihrer Familie nicht mehr Halt. Ein falsches Wort habe genügt, und sie sei aus der Haut gefahren. Ihr Mann habe sie gefragt, was los sei. So kenne er sie gar nicht. Auch Girlitz fühlte sich wie ausgetauscht. ›Spätestens da habe ich bemerkt, dass es mir selbst nicht mehr gut geht mit meinem Beruf.‹
Also ging Girlitz zu ihrem Vorgesetzten. Der Stress auf der Station werde ihr zu viel, sagte sie ihm. Wenn es mit ihr so weitergehe, fürchte sie, womöglich einen ihrer Patienten zu gefährden. Also bittet sie darum, gemeinsam eine Lösung zu finden, zum Beispiel eine stressfreiere Position zu bekommen. Sie erzählt, damals beschwichtigt und belächelt worden zu sein. Das wird schon wieder, Da müssen wir alle durch oder Reiß dich zusammen, habe Girlitz als Antworten bekommen.
Kündigen will Girlitz nach all den Jahre Pflege nicht, also entscheidet sie sich, zu bleiben. In der Hoffnung, ›dass es schon wieder besser wird‹. Ein halbes Jahr später spritzt sie dem Patienten dann das falsche Medikament.
›Mein ganzer Körper begann zu zittern‹, sagt Girlitz. Sie trug gerade die Flasche, in der sich das Medikament befand, hinaus, um es zu entsorgen, als sie ihren Fehler bemerkte. Ihr Herz begann wieder zu rasen. Girlitz konnte nicht glauben, was ihr gerade passiert war. Sie hielt kurz inne und dachte über die Konsequenzen nach: Der Patient würde lange schlafen und nach der Narkose sehr müde sein. Sterben würde er nicht.
Girlitz meldete ihren Fehler trotzdem. Doch anstatt sie aufzufangen, hätten ihre Kollegen mit Beschuldigungen um sich geworfen: ›Hättest du besser aufgepasst. Das ist ja ein Witz!‹ Die 57 Jahre alte Pflegerin begann zu weinen. Nur eine Kollegin habe sich zu ihr gesetzt und geholfen, sagt sie – bis auch die wieder zu den Patienten musste. Jede Krankenpflegerin, die momentweise nicht auf der Station ist, fehlt.
Bald darauf marschierte ihr Chef ins Schwesternzimmer. Er hatte das Protokoll des Vorfalls vor sich. Girlitz fragte ihn, was denn nun passieren werde. Das werde sie dann schon sehen, habe er ihr entgegengeschleudert. ›Den Knall der Tür, nachdem er ging, höre ich noch immer.‹
Als der Patient langsam wieder zu sich kam, ging Girlitz zu ihm. Sie entschuldigte sich nicht, sagte ihm aber, dass sie ein zu starkes Schmerzmittel verabreicht habe. Er würde jetzt noch hier bleiben und lange müde sein. Der Patient habe gar nicht richtig realisiert, was passiert war, erinnert sie sich heute.
Am Weg aus dem Spital konnte sich Girlitz noch zusammenreißen. Als sie dann aber am Heimweg vor den Bahngleisen stand, begannen sich die Gedanken in ihrem Kopf zu drehen: Was, wenn in der Ampulle etwas anderes gewesen wäre? Was, wenn mir das wieder passiert?
›In mir war totales Chaos, ich habe meinem Mann gesagt: In 38 Jahren ist mir das nie passiert. Ich gehe dort nicht mehr hin, ich höre auf.‹ Kurz darauf rief ihr Mann ein Peer-Betreuungs-Team für Krisenfälle. Peer steht dafür, dass Helfer auch Menschen sind, die aus denselben oder ähnlichen Berufen stammen. Doch sind es nicht Kollegen des AKH, die zur Hilfe eilen. Denn Peer-Betreuung gab es zu diesem Zeitpunkt dort noch gar keine. Girlitz’ Ehemann arbeitet als Sanitäter. Die Blaulichtorganisationen haben seit Jahrzehnten Mitglieder, die Kollegen in Notsituationen helfen und auffangen.
Mittlerweile gibt es am AKH zumindest auf der Anästhesie eine eigene Peer-Betreuung für Fälle wie jenen von Berta Girlitz, mitgegründet von Stefanie Tichy. Auch sie hat schon viel in ihrem Leben gesehen. ›Schiache Sachen‹, wie sie selbst sagt. Lebertransplantationen bei Kindern, schwerste Unfälle. Aber während all ihre Kollegen auch nach dem Todesfall eines Neugeborenen einfach weitermachen konnten, war bei Tichy plötzlich die Luft draußen. Sie ging zur Peer-Betreuung der Wiener Berufsrettung und bekam dort Hilfe von ihrer Notarztkollegin Angelika De Abreu Santos. An diesem Tag war Tichy zu Forschungszwecken mit einem 24-Stunden-EKG verkabelt. ›Im Nachhinein‹, sagt Tichy, ›konnte ich genau sehen, wie meine Herzfrequenz zu sinken begann, als ich das Peer-Gespräch mit meiner Kollegin hatte‹. Mit ihr gemeinsam ruft Tichy später die Peer-Betreuung am AKH ins Leben. 15 Personen betreuen dort heute 200 Mitarbeiter der Anästhesie. Wöchentlich sucht im Schnitt eine Person Hilfe. Auf den anderen Stationen fehlt ein solches Angebot immer noch.
›Ich habe mich damals völlig allein gefühlt‹, sagt Berta Girlitz heute im Rückblick auf ihre Situation. Weil ihr kein anderer Ansprechpartner einfiel, ging Girlitz am nächsten Tag zu ihrer Hausärztin, die sofort verstand, wovon ihre Patientin da gerade erzählte. Denn auch Girlitz’ Hausärztin ist Second Victim.
Offizielle Zahlen dazu, wie viele Mediziner österreichweit bereits unter dem Phänomen leiden oder gelitten haben, gibt es nicht. Während in Deutschland Second Victim zu sein bereits ein Krankheitsgrund wie jeder andere ist, werden die Fälle in Österreich nicht erfasst. Einen Anspruch wegen eines beruflich bedingten Traumas in Krankenstand zu gehen, gibt es offiziell nicht.
Eine erste, noch unveröffentlichte Studie von Patientensicherheitsforscher Reinhard Strametz zeigt jedoch ein verheerendes Bild. Unter Österreichs Kinderärzten gaben neun von zehn Medizinern an, bereits unter einer Form des Second-Victim-Phänomens gelitten zu haben. In einer Erhebung an der Klinik Hietzing tat das ein Drittel des dortigen Personals. Der Schnitt im restlichen deutschsprachigen Raum, der deutlich besser erforscht ist, liegt bei sechs von zehn.
Girlitz bekam von ihrer Hausärztin vorerst eine Krankschreibung für vier Wochen. Was Girlitz jetzt brauche, sei Ruhe, habe ihre Ärztin gesagt. Doch auch nach den ersten vier Wochen entspannte sich die Situation nicht. Im Gegenteil. Girlitz schlief schlecht, stieg morgens nur schwer aus dem Bett. ›Ich habe mich die erste Zeit nur verkrochen‹, sagt sie, ›und auch zu Hause ist viel eskaliert‹. Ihr Mann musste sich immer wieder allein um die drei gemeinsamen Kinder kümmern.
Depressionen, Schlafentzug und Isolation: All das gehöre laut Reinhard Strametz zu den klassischen Folgen des Second-Victim-Phänomens. ›Und ohne Hilfe verlieren die Betroffenen außerdem das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten‹, sagt der Patientensicherheitsforscher. Second Victims nicht ernst zu nehmen, sei also nicht nur unmenschlich, sondern angesichts der Ausbildungskosten des Personals auch volkswirtschaftlicher Irrsinn.
Weil Girlitz nicht die Unterstützung bekam, die sie brauchte, begann sie selbst mit der Suche nach professioneller Hilfe. Und stieß dabei auf die psychologische Beratungsstelle des Wiener Gesundheitsverbunds, des Trägers aller städtischen Spitäler. Doch sie habe sich dort nicht wohl gefühlt, sagt sie. Die Mitarbeiter hätten ihr geraten, bald wieder in den Job einzusteigen. Sie wusste dagegen noch gar nicht, ob sie überhaupt jemals wieder als Pflegerin würde arbeiten können.
Aktuell suchen so viele Gesundheitskräfte wie nie zuvor die Hilfe der Beratungsstelle des Wiener Gesundheitsverbunds. Knapp 3.000 Beratungseinheiten fanden im letzten Jahr statt. 2018 waren es noch um 600 weniger. Immer mehr Gesundheitspersonal leidet unter Burnout. Die private Belastung – resultierend aus der beruflichen Situation vieler Mitarbeiter – hat sich 2022 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt.
Die Beratungsstelle bietet auch längerfristige Begleitung an und vermittelt, wenn nötig, Therapieplätze. Diverse Angebote zur Krisenbewältigung gebe es seit einigen Jahren in Wiener Spitälern durchaus, sagt Elisabeth Gerlich-Kretzer von der Psychologischen Beratungsstelle, ›aber in manchen Häusern ist es mehr gelungen, das bekannt zu machen, in einigen anderen weniger‹.
Weil sie in der Beratungsstelle nicht fand, wonach sie suchte, begann Berta Girlitz mit einer Psychotherapie. ›Das war eine schwierige Phase‹, sagt sie, ›und im Grunde auch ein Stück weit Familientherapie‹.
All das dauerte fast acht Monate – bis Girlitz eine Einladung für ein Wiedereinstiegsgespräch im AKH erhielt.
Bald darauf saß sie sechs Leuten gegenüber, die mit Girlitz über ihre berufliche Zukunft entscheiden sollten: darunter sind eine Oberschwester, der Bereichsleiter und auch Kollegen, die Girlitz damals, als ihre Probleme begannen, beschwichtigt hatten. Eine Kollegin entschuldigte sich bei ihr. Es tue ihr leid, die Bedenken nicht ernst genommen zu haben. Nach acht Monaten war es das erste Mal, dass sich Girlitz von ihren Kollegen ein wenig verstanden fühlte. Aber sie wollte nicht mehr ins AKH zurückkehren. ›Für mich war diese Ladung der Knackpunkt‹, sagt Girlitz, ›ich wollte nicht riskieren, wieder in dasselbe Rad zu geraten‹.
Im Herbst 2018 wechselte Berta Girlitz in die Klinik Floridsdorf, wieder auf die Anästhesie. Dieselbe Art von Station, auf der sie einst die Medikamente vertauschte. Auf ihrem Arm trägt sie seither ein Tattoo. ›Never give up‹ steht darauf geschrieben. Daneben die Linienzeichnung eines Herzschlags.
Girlitz hat mittlerweile gelernt, mit ihrem Trauma umzugehen. Bei Stress im Krankenhaus beginnt bis heute ihr Herz immer wieder zu rasen, manchmal dreht sich ihr der Magen um. Mittlerweile erkennt sie die Zeichen aber früh genug und nimmt sich Zeit für sich, macht Atemübungen. Sie hat um zehn Arbeitsstunden reduziert und arbeitet nur noch 30. Wenn sie Spritzen verabreicht, kontrolliert sie dreimal, was sie gerade mit der Nadel aufgezogen hat. Ist sie sich nicht sicher, schmeißt sie die Spritze weg und beginnt neu.
Und Girlitz lernt in der Klinik Floridsdorf Eva Potura kennen. 2018 gründete die Anästhesistin und Intensivmedizinerin gemeinsam mit anderen Medizinern den Verein ›Second Victim‹. ›Wir kommen aus der Basis und sind für die Basis da‹, sagte sie zuletzt bei einem vom Verein organisierten Aktionstag zum Thema. Ziel ist es, Betroffene bei traumatischen Erlebnissen zu unterstützen. Potura und die übrigen Vereinsmitglieder beraten und betreuen medizinisches Personal, das unter Erfahrungen wie der von Girlitz geschilderten leidet. Anonym und kostenfrei – und mit dem Ziel, letztendlich auch den Berufsausstieg der Betroffenen zu verhindern.
Fünf Jahre nachdem Girlitz zum Second Victim wurde, wird nun überlegt, in allen Wiener Krankenhäusern eine Art Psychologische Erste Hilfe zu verankern. Ein Konzept dazu liegt bereits in der Generaldirektion des Wiener Gesundheitsverbunds. Zwar will sich der WIGEV dazu nicht äußern, DATUM kennt jedoch die ungefähren Inhalte. Ähnlich wie Peer-Betreuer sollen ausgebildete Kollegen Betroffene in akuten Krisensituationen auffangen. Das Konzept, das erst offiziell umgesetzt werden muss, orientiert sich dabei vor allem am Projekt ›Kollegiale Hilfe‹ der Klinik Hietzing – neben der Klinik Floridsdorf das einzige Spital mit flächendeckendem Angebot. In Hietzing unterstützen insgesamt 120 Mitarbeiter aus allen Bereichen und Hierarchien des Krankenhauses ihre Kollegen. Elisabeth Krommer, die das dortige Vorzeigebeispiel mitbetreut, sagt: ›Unser Projekt funktioniert, weil auch die Bewerbung davon funktioniert und wir in allen Abteilungen Bezugspersonen sitzen haben.‹
Girlitz, die den Weg zurück in die Arbeitswelt allein gefunden hat, ist heute in der Klinik Floridsdorf selbst Peer-Betreuerin und plant nun, auch beim Verein ›Second Victim‹ aktiv zu werden. Zwar würden wenige Kollegen im Spital die Angebote kennen, sagt sie: ›Aber auch wenn es nur zwei, drei Leuten hilft, kann ich ihnen vielleicht ersparen, was mir passiert ist.‹ •
*Name von der Redaktion auf Wunsch der Betroffenen geändert.
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