Sieg der Mütter
Warum die heurige Oscar-Verleihung die Welt ein bisschen besser gemacht hat.
Manchmal brauchen auch Realistinnen Momente, um sich mit der Welt zu versöhnen. Ansonsten überschreiten sie schnell den schmalen Grat, der sie von den hoffnungslosen Schwarzsehern trennt. So ein Moment war der 12. März, der Abend der Oscar-Verleihung. Ja richtig, diese pathetische Veranstaltung, die abgebrühte Europäerinnen gerne als Inbegriff amerikanischer Großmannssucht abtun, hat das mit der siebenfachen Auszeichnung des Filmes ›Everything Everywhere All at Once‹ geschafft. An diesem Abend ist die Welt ein wenig ins Lot gekommen, als dieser Film, den kaum eine Kritikerin verständlich vermitteln konnte, der in vielen Ländern keinen Verleih gefunden hatte und dessen Darsteller so viele Jahre abgesnobbt worden waren – weil zu alt, zu asiatisch, zu irgendwas – die professionelle Anerkennung bekam, die ihm ein begeistertes Publikum längst gegeben hatte.
›Heilsam‹ hat ihn eine Freundin genannt, nachdem sie ihn gesehen hatte. Und das ist ›Everything Everywhere All at Once‹ auf so vielen Ebenen, dieses wunderbar schräge Anarchospektakel über eine chinesische Einwandererfamilie in Kalifornien, die just bei ihrer Steuerprüfung in Paralleluniversen gezogen wird, in der sie Was-wäre-Wenn-Versionen ihres Lebens erlebt – und erkämpft. 139 Minuten, die in Erinnerung rufen, was Kino sein kann: pure kindliche Freude, und was einem Publikum in Wahrheit alles zugemutet werden kann, wenn man nur will. Etwa, dass über weite Strecken Mandarin und Kantonesisch gesprochen wird – ohne dass irgendwer deswegen irritiert den Saal verlässt. Und genauso zumutbar ist ihm eine 60-jährige Michelle Yeoh in der Hauptrolle, sowie ein 51-jähriger Ke Huy Quan in der Rolle ihres Ehemanns, beide Chinesen, sie aus Malaysia, er aus Vietnam.
Und beide ausgezeichnet mit dem Oscar. Die zwei auf der Bühne zu sehen, mit den goldenen Statuen in der Hand, war so viel mehr als ein gewöhnlicher Oscar-Abend. Es war nicht nur die Anerkennung ihrer Leistung und die Repräsentanz von ›Diversität‹, sondern auch das Sichtbarmachen all der Hürden, die sie in den vergangenen Jahrzehnten auf sich genommen hatten. Und nicht nur sie, sondern auch ihre Familien. Daher kam es nicht von ungefähr, dass beide ihre Mütter so prominent in ihren Dankesreden erwähnten. ›Mom, I just won an Oscar!‹ schrie Ke Huy Quan, der als Kind aus Vietnam auf einem Boot nach Hongkong geflohen war, wo er mit seiner Familie in einem Flüchtlingslager lebte. ›Danke für all die Opfer, die du gebracht hast‹, sagte er.
Der Sieg von ›Everything Everywhere All at Once‹ war in seiner Geschichte und in jener seiner Schauspieler auch der Sieg aller Migrantenmütter. Ihre Kinder auf der ganzen Welt hatten das begriffen und waren dankbar für dieses Scheinwerferlicht. Endlich nimmt ein Mainstream von ihnen Notiz, von all diesen mutigen Frauen, die ihre Heimat verlassen hatten, ihre Angehörigen, ihre Sprache, ihren Status, mit der Hoffnung, dass es ihre Kinder einmal besser und einfacher haben.
Diese Frauen, die jede Mikro-und Makroaggression, für die es weder Platz noch Zeit auf Therapeutencouches, in Kolumnenspalten, Feministinnenclubs oder politischen Diskursen gab, herunterschlucken, weil sich ohnehin keiner für sie interessiert. Weder ihre Angehörigen noch die Gesellschaft. Weil sie überall immer hintenanstanden und sie es hingenommen haben, weil sie es hinnehmen mussten. Weil das Überleben allein alles an Zeit und Energie beanspruchte. Dass ihnen nun mit ›Everything Everywhere All at Once‹ ein Denkmal gesetzt wurde, ist eine längst überfällige Würdigung. Und birgt die Hoffnung, dass sie im Scheinwerferlicht bleiben. •