Ski Unheil

Die Häufung schwerer Verletzungen in Österreichs inoffiziellem Nationalsport ist kein neues Problem. Trotzdem gibt es weder grundlegende Änderungen im Reglement noch technischen Fortschritt. Warum zählt die Gesundheit der Athleten so wenig ?

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Illustration:
Alexandra Turban
DATUM Ausgabe Dezember 2020

Am 5. Dezember 2019 steht Ariane Rädler im Starthaus und nimmt sich vor, zu riskieren. Es ist das letzte Training vor der Damen-Abfahrt im kanadischen Lake Louise, und sie weiß, dass sie liefern muss. Rund eine Minute später nähert sich Rädler auf der Strecke dem Coaches Corner, sie möchte die Schlüsselpassage auf Renntempo fahren. In ­einer Rechtskurve merkt sie, dass ihre Linie zu gerade ist, und erwischt einen Schlag. Beim Versuch zu korrigieren zieht der Körper nach rechts, während der Ski geradeaus weiterfährt. Rädler stürzt. Die einwirkenden Kräfte sind zu stark, das vordere Kreuzband im linken Knie reißt in diesem Augenblick genau wie der Innenmeniskus, das Außen- und das Innenband. Es ist ein Moment, den Rädler bestens kennt : Mit damals erst 24 Jahren ist es bereits ihr vierter Kreuzbandriss. 

Ariane Rädler ist alpine Skirennläu­ferin, und ihre Geschichte kein Einzelfall. Vielmehr ist sie symptomatisch für ein Problem, das seit Jahren bekannt ist und dennoch ungelöst bleibt. Ein Pro­blem, das Athleten gravierende kör­perliche Spätfolgen beschert und die Suche nach Sponsoren immer schwieriger werden lässt. Alleine in der vergangenen Saison haben sich 14 Athleten des Österreichischen Skiverbands (ÖSV) schwer verletzt, bei elf von ihnen lautete die Diagnose Kreuzbandriss. ÖSV-Vi­zepräsident Michael Walchhofer sagt dazu in der Salzburger Woche : › Der Bän­derapparat, besonders bei den Mädchen, hält Material und Kurssetzung nicht mehr stand. ‹ Wird im Kampf um Hundertstel die Gesundheit der Sportler mutwillig aufs Spiel gesetzt ? Hat das Material die Leistungsfähigkeit der Sportler überholt ? Und ist der alpine Skisport vielleicht gar dabei, sich selbst abzuschaffen ? 

In kaum einem anderen Land wird dem Kampf gegen die Uhr auf zwei Brettern eine derartige Bedeutung beigemessen wie in Österreich. Skifahrer wer­den hierzulande zu Nationalhelden hochstilisiert. Sailer, Klammer, Moser-Pröll, Maier, Veith, Hirscher : Jede Generation hat ihre Ski-Idole. Ihnen winken Ruhm, Ehre und lebenslange Sponsorenverträge mit Branchenführern. Insbesondere in der Woche des Hahnenkamm-Rennens in Kitzbühel werden sie zu Gladiatoren. Die berüchtigte Streif fährt man nicht einfach hinunter – man bezwingt sie. Die Erfolge der Ski-Stars sind Teil der Identität des Landes, Rennen auf österreichischem Boden im rot-weiß-roten Fahnenmeer Vehikel des gelebten Patriotismus. 

Doch mittlerweile wurden nach den Rücktritten von Marcel Hirscher und Anna Veith die Siegesfeiern rarer und die Punkteausbeute deutlich schlechter. Der Nationencup, auf den der ÖSV eine Erbpacht zu haben schien, ging in der vergangenen Saison erstmals nach 30 Jahren mit der Schweiz wieder an ein anderes Land. Eine der Ursachen, die auch vom ÖSV immer wieder angeführt wird : eine nicht enden wollende Serie an schweren Verletzungen. Mittlerweile gibt es sowohl bei den Herren als auch bei den Damen beinahe keinen Athleten mehr, in dessen Vita sich nicht mindestens ein Kreuzbandriss findet. Wer durch die Instagram-Feeds von aktiven ÖSV-Athleten scrollt, sieht neben Trainingsbildern, Produktplatzierung und privaten Schnappschüssen vor allem Fotos von Menschen auf Krücken in Krankenhäusern und optische Eindrücke von zahllosen Rehas. 

Spricht man Ariane Rädler auf ihre schweren Verletzungen an, beginnt sie ihre Antworten meist mit einem gequälten Lächeln. Sie ist zurückhaltend, redet mit Bedacht und vorarlbergerischem Akzent. Nach der vierten schweren Verletzung überlegte sie, ihre Karriere zu beenden. Große Erfolge konnte die Vorarlbergerin im Weltcup bis dato noch nicht feiern. Doch ihr Trainer hält viel von Rädler und motivierte sie zur Fortsetzung einer Laufbahn, die geprägt ist von Rückschlägen. Sie ist Teil des A-Kaders des ÖSV, was ihr allerdings noch keinen fixen Startplatz bei den Rennen garantiert. Gerade in den Speed-Disziplinen sind die interne Konkurrenz und der Druck groß. Das bedeutet für Rädler, dass sie bereits in den Trainings an und teilweise über das Limit gehen muss, um überhaupt starten zu dürfen : › Du musst immer liefern. Ab Ende Juli hast du das Gefühl, dass immer die Uhr mitläuft. ‹

Im Hinblick auf die Qualität des Rennfahrens hat sich das verwendete Material in den vergangenen Jahrzehnten enorm weiterentwickelt. Im Kampf um die letzten Hundertstel wird in einer Vielzahl von Tests keine Möglichkeit unversucht gelassen, schließlich muss der Ski auf den kleinsten Druck reagieren, der Schwung immer exakter, die Linie noch direkter werden, will man mit der Konkurrenz mithalten. Die Kehrseite : Der Ski reagiert mitunter auch, wenn der Fahrer es nicht will. Zusätzlich erschwerend wirkt der Zustand der Piste, auf der es durch den hohen Anteil von Kunstschnee zu extremen Schneesorten­veränderungen kommt. Die Präparation ist auf eine perfektionierte Fahrweise ausgerichtet, sie verzeiht keine Fehler, schließlich wirken enorme Kräfte auf den Körper des Athleten. Die Neigung des Skischuhs, die Standhöhe, die Beschaffenheit der Kanten, das Zudrehen der Bindung : Über den Siegessprung aufs Podium oder den schmerzhaften und gefährlichen Abflug ins Fangnetz entscheiden Kleinigkeiten.

Roland Assinger war bis zur vergangenen Saison jahrelang als Trainer im ÖSV tätig und ist Verfechter einer weniger aggressiven Material-Abstimmung. Dennoch konstatiert er : › Es ist ein Faktum, dass die Aggressivität des Materials in den letzten Jahren massiv zugenommen hat. ‹ Faktoren wie anatomische Veranlagung, Ernährung und Fitnessgrad sind für den Kärntner auch wichtig, das Hauptproblem sieht er dennoch beim Material : › Alles ist am Maximum. Irgendwann ist stopp, weil es der Körper nicht mehr packt. Grundsätzlich muss man sagen : Skisport ist ein Hochrisikosport. Es ist aber auffällig, dass nun häufiger während des Fahrens auf einmal ein Band ohne Sturz reißt. Die entstehenden Kräfte können oftmals nicht mehr gehalten werden ‹, analysiert Assinger, der auch anprangert, dass immer mehr Frauen im Speed-Bereich mit Herren-Skiern fahren. 

Cornelia Hütters Verletzungsserie beginnt mit Kreuzband-, Innen- und Außenmeniskus-Riss 2017. Hütter kämpft sich zurück an die Weltspitze und gewinnt sensationell das erste Rennen nach ihrem Comeback. Doch es geht mit Verletzungen weiter : Lungenprellung und Läsion der Milz sowie einer Knorpel-
Fraktur im Jahr 2018, Innenbandeinriss sowie Muskelfaserriss im Jänner 2019 und schließlich Kreuzband- und Innenmeniskusriss nur zwei Monate später. In den vergangenen Jahren verbrachte Hütter mehr Zeit auf Operationstischen und in der Reha als auf Weltcup-Pisten. Am Weg zurück nach ihrem zweiten Kreuzbandriss entscheidet sich die Steirerin bewusst dafür, in der Folgesaison kein Rennen zu bestreiten. Dieses Mal soll nichts schiefgehen, gemeinsam mit ihrem Trainer Assinger wählt die zwei­fache Weltcupsiegerin eine extrem behutsame und konservative Herangehensweise. Trotz aller Vorsicht passiert es beim Training im März dieses Jahres erneut : Der dritte Kreuzbandriss, dieses Mal völlig ohne Fremdeinwirkung. Noch heute ist Hütter fassungs- und ratlos : › Ich habe einfach keinen Grund gefunden, es hat körperlich alles gepasst. Es ist schwierig gewesen, das zu akzeptieren, weil es so unerwartet gekommen ist. ‹ 

Dass sie bewusst Folgeschäden in Kauf nimmt, ist für die 28-Jährige kein Problem. Sie weiß um die Bedeutung von Kleinigkeiten und hat vor allem den Erfolg im Auge : › Wenn man sich selber einen gewissen Vorteil verschaffen kann und der noch regelkonform ist, macht man das natürlich. Ich will ja schneller werden. Wenn ich nicht alles darangesetzt hätte, dass der Ski superschnell geht und die Einstellung passt, hätte ich die Erfolge auch nicht feiern können. Das Leben ist immer lebensgefährlich. ‹ Wie Hütter denken viele Athleten, die tatsächlichen Auswirkungen der Spätfolgen werden aber mit einer Mischung aus psychischem Selbstschutz und Fa­talismus tendenziell eher verdrängt. › Du weißt, dass es dich erwischen kann, aber du denkst nicht dran ‹, räumt auch Rädler ein.

Doktor Christian Hoser ist groß, sportlich, hat graumelierte Haare und eine randlose Brille. An einem Freitagmorgen legt er seinen weißen Arztkittel ab, setzt sich auf ein Patientenbett und erzählt von den vorderen Kreuzbändern der Skifahrer, die regelrecht zerfetzt sind. Sie heilen nicht mehr,
sondern müssen rekonstruktiv mit einem Sehnenersatz ausgetauscht werden. Wenn es bereits zu spät und das Kreuzband gerissen oder der Knorpel beschädigt ist, kommen die meisten österreichischen Athleten nach Rum, einer Nachbargemeinde von Innsbruck. Hier befindet sich am Südhang der Nordkette ein Sanatorium der Kreuzschwestern. In der Privatklinik Hochrum operiert Hoser, eine Koryphäe der Sporttraumatologie und Unfallchirurgie. Der Name seiner Praxis, die er gemeinsam mit Christian Fink gegründet hat, ist Spitzensportlern in ganz Europa ein Begriff. Vor allem in der heimischen Ski-Szene haben die beiden von beinahe ­jedem Athleten das Innere mindestens ­eines Knies vor sich am Operationstisch gesehen. Ski-Rennen kann sich der ­Mediziner nicht mehr entspannt anschauen. Insbesondere beim Start von Athleten, zu denen er in Folge jahre­langer Behandlung eine persönliche ­Beziehung aufgebaut hat, verlässt er den Raum. Die Verletzungen seiner skifahrenden Patienten sind tendenziell besonders gravierend, was für ihn aber auch nicht verwunderlich ist. › Es wirken mehr Kräfte und Energie im Verletzungsmoment auf den Körper ein. Ist das wirklich so überraschend, wenn ich meinen Fuß in einen Schraubstock packe, unten einen zwei Meter langen Hebel dran mache und dann mit einer großen Geschwindigkeit hinunterfahre ? ‹, fragt der Mediziner.

Die Häufigkeit der Knieverletzungen erklärt sich Hoser dadurch, dass sich die Kräfte durch die Schuhhöhe als erstes im Knie entladen. Hoser wägt ab, er vermeidet Pauschalisierungen und warnt vor der Sichtweise, dass bei Verletzungen alles schlimmer geworden sei : › Die absoluten Zahlen geben nicht her, dass es gefährlicher und verletzungsträchtiger geworden ist. ‹ 

Tatsächlich gibt es seitens der FIS eine Verletzungsstatistik, die allerdings keine absoluten Zahlen erfasst, sondern auf Umfragen unter Athleten basiert. Vor zwei Saisonen zogen sich demnach im Weltcup insgesamt rund 30 Prozent eine Verletzung zu, bei etwas mehr als der Hälfte war sie schwerwiegend, bedingte also eine Ausfallszeit von mehr als 28 Tagen. Signifikant ist dabei, dass zwischen 2006 und 2019 fast die Hälfte aller Verletzungen Bänderverletzungen waren – ein Wert, der doppelt so hoch ist wie jener der Knochenbrüche. Noch dramatischer sind die Zahlen, wenn die Verletzungen nach betroffenem Kör­perteil aufgeschlüsselt werden : Mit 41,3 Prozent (davon 60 Prozent schwere Verletzungen) sind die Knie einsamer Spitzenreiter, auf Platz zwei folgen Hand-/Fingerverletzungen mit 9,7 Prozent Gesamtanteil.

› Was man allerdings beobachten kann, ist, dass das System aus Trainern, Physiotherapeuten, Verbänden und Ärzten es nicht schafft, wirkungsvolle Konzepte zu entwickeln. Es passiert etwas, aber nicht auf dem Niveau, dass es etwas gebracht hat ‹, analysiert Hoser. Um diesen Zustand zu ändern, erforscht er gerade mit Kollegen, ob es wie bei Muskeln auch eine Bänderermüdung gibt. Seine These ist, dass die Summe der Zugwirkungen auf eisigen Pisten das Band schwächt und dadurch anfälliger für Risse macht. 

Die Verletzungsserien beginnen jedenfalls bereits im Jugendalter, weshalb viele Athleten schon lädiert im Weltcup ankommen. Das Ergebnis zeigt sich an einem Posting einer ÖSV-Nachwuchshoffnung nach bestandener Matura : › Vier glückliche Mädels, zwei gesunde Knie. Zusammenfassung der letzten sechs Jahre Spitzensport und Schulausbildung. ‹ Bei den Rennen treten die Athleten zwar für Verbände und Nationen an. Schlussendlich ist Skifahren allerdings ein hart umkämpfter Einzelsport. › Du fährst für den ÖSV, aber am Ende des Tages bist du einfach für dich selbst verantwortlich. Ganz hart gesagt, bin ich nur eine Startnummer. Das muss jedem klar sein ‹, fasst es Reinfried Herbst zusammen. Der einstige Slalomstar musste nach seinem Karriereende jeden Abend Schmerztabletten schlucken, weil die lädierten Knie auch im Ruhezustand zu sehr schmerzten, um einschlafen zu können. Zwei Jahre später führte kein Weg mehr an einem künstlichen Knie vorbei, erzählt Herbst, heute Spitzensportkoordinator der österreichischen Polizei. Insgesamt neunmal musste Herbst zuvor bereits in seiner aktiven Zeit unters Messer : › Ich bin sehr wohl bewusst an die Rennen herangegangen, aber wenn du in dem Flow bist, blendest du alles aus. Am Ende war der Aufwand, was Physiotherapie anbelangt, höher als das Skitraining ‹, sagt Herbst, der die ewige Leier vom Verletzungspech nicht mehr hören konnte und Eingriffe deshalb vor Öffentlichkeit und sogar Freunden verheimlichte. 

Auch Clemens Dorner hat nach zahlreichen schweren Verletzungen einen Schlussstrich unter seine Ski-Karriere gezogen. Immer wieder hatte er sich zurückgekämpft und war 2015 Staatsmeister im Super-G geworden – nur um wenige Monate später seinen Rücktritt bekannt zu geben. Dorner studierte Be­­triebswirtschaft und Mechatronik in Innsbruck und bekam dabei einen neu­en Blick auf das, was sich Ski-Zirkus nennt. Ende Oktober sitzt er mit Dreitagesbart in einem Café im beschau­lichen Dornbirn und beginnt zu erzählen : Wie er Bestzeiten im Training ge­­fahren ist und anschließend im Hotel den Lift nehmen musste, weil die Belastung für die Knie zu groß war. Wie ihm der Arzt nach einem Totalschaden im Knie eröffnete, dass es unsicher sei, ob er überhaupt jemals wieder einen sportlichen Schwung fahren könne. Dorner ist ein Mann, der mit einem stetigen Lächeln auf den Lippen spricht. Wenn es um seine Vergangenheit als Leistungssportler geht, ist es ein seliges Lächeln, die Freude über seine Leidenschaft spiegelt sich in seinem ganzen Gesicht wider. Wenn es um die Begleitumstände seiner und der zahllosen Verletzungen von ehemaligen Kollegen geht, gleitet es in ein ungläubiges Lächeln mit Zügen von völliger Fassungslosigkeit ab. 

Dorner hält die Diskussion über Fahrfehler und Pistenpräparation für Makulatur. Der Kern des Problems liegt für ihn im System des alpinen Skisports, das aus vier Hauptplayern besteht: dem internationalen Skiverband (FIS), den nationalen Verbänden, den Skiherstellern und den Athleten. Seine Hauptkritik richtet sich an Verbände und die FIS : › Sie haben keine Vision dafür, wie man Verletzungen reduzieren könnte. Wenn sich jemand einen Kreuzbandriss zuzieht, ist die Folge Schulterzucken, da ist der Skisport ex­trem abgestumpft. Die Leute in den Verbänden haben die Dimension nicht erkannt, die gesundheitliche Spätfolgen für Athleten bedeuten. ‹ Der 29-Jährige spricht sich klar dagegen aus, das Wort Verletzungspech als Erklärung heranzuziehen : › Ich weiß nicht, was der beste Ausdruck ist, aber es grenzt vor allem im Jugendbereich an Körperverletzung. Es geht hier um irreparable Schäden. ‹

Doch wie kommt man aus dieser Situation wieder heraus ? Nachhaltige Veränderungen hin zu einem sicheren Skisport sind für Dorner keine Frage von technischen Möglichkeiten : › Es gibt mehrere technische Lösungen. Aber dieses Umfeld ist toxisch für jeg­liche Innovation. Es muss eine von den Verbänden geförderte interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Sportwissen­schaftlern, Universitäten mit Fachleuten aus unterschiedlichen Bereichen wie Softwareentwicklern oder Sensorik-Spezialisten geben. ‹

Die Sportler sind für ihn nahezu chancenlos : › In diesem Gespann hat der Athlet am allerwenigsten Spielraum, als Sprachrohr gibt es nur die Athle­tensprecher, die hinsichtlich Durch­setzungsvermögen wertlos sind. Die Vorstellung, dass man da aktiv solche Dinge anbringen kann, existiert nicht. Der ÖSV wie die FIS funktionieren Top-Down. Einer gibt die Anweisung, und das wird durchgeführt. ‹ 

Für die Skihersteller hat es Priorität, dass Athleten mit ihrer Marke erfolgreich fahren und somit für ausreichend Medienpräsenz sorgen. Rein betriebswirtschaftlich gesehen, gibt es keinen Ansporn, etwa in zeit- sowie kostspielige Forschung und Entwicklung sicherer Bindungen zu investieren. Bliebe noch die FIS, die ebenfalls keine ernstzunehmenden Initiativen verfolgt. Für Dorner ist der Grund klar : › Einer wird immer gewinnen. Die sich auf dem Weg dahin verletzten, sind Kollateralschäden. Das nimmt man so in Kauf. ‹

Während in ÖSV-Presseaussendungen die immer wiederkehrenden Hiobsbotschaften in der Öffentlichkeit als Verletzungspech abgetan werden, herrscht intern sehr wohl ein Problembewusstsein. Dass es hier nicht um bloßes Pech geht, ist leitenden Akteuren bewusst. Die einzelnen Verletzungen werden analysiert, man ist bestrebt, den Athleten die notwendige Zeit einzuräumen. Das Rennen um das schnellste Comeback gibt es mittlerweile nicht mehr. Stattdessen müssen die Athleten vor der Rückkehr auf Rennskier ausführliche sportmedizinische Tests absolvieren, um überhaupt die ärztliche Freigabe zu erhalten. Oder, wie es eine Athletin formuliert : › Die Tests hat es früher auch gegeben, aber jetzt interessieren sie den ÖSV auch. ‹

ÖSV-Sportdirektor Toni Giger sieht auf DATUM-Nachfrage entscheidende Lösungsansätze in der Initiative › LACE ‹, die sich für weniger aggressives Material einsetzt. Dem 57-Jährigen ist allerdings bewusst, dass sich dies im Weltcup nur durchsetzen wird, wenn man damit auch Bestzeiten fährt. Er schlägt daher etwa stark drehende Kurssetzungen in steilen Abschnitten vor, was Gi­ger zufolge Fahrer mit weniger aggressiver Materialabstimmung bevorzugen würde. Gleichzeitig versichert Giger, den Dialog mit den Athleten zu suchen, verweist auf Mitarbeit in FIS-Arbeitsgruppen, die sich diesem Thema widmen, und beteuert : › Interdiszipli­nare Zusammenarbeit existiert natürlich schon lange. ‹

Dennoch wird die Letztverantwortung gerne auf den Weltverband FIS abgeschoben. Die FIS aber ist nichts als die Summe ihrer Mitgliedsverbände und der ÖSV dort ein gewichtiger Player. Seit 2002 sitzt übrigens mit einer zweijährigen Unterbrechung auch ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel im FIS-Vorstand, ­einem der Führungsgremien des Weltverbandes. Am notwendigen Netzwerk, Einfluss und Durchsetzungsvermögen mangelt es dem Tiroler bei Weitem nicht. Die einzelnen Gremien sind gespickt mit österreichischen Vertretern, teilweise in leitender Funktion. 

Daher nimmt Dorner auch den heimischen Verband in die Pflicht : › Beim ÖSV ist die Verletzungsproblematik Part oft the Game. Deren Sichtweise ist, möglichst schnell den Athleten zurückzubekommen und Verletzungsprävention zu betreiben, das macht der ÖSV auch professionell. Was er aber nicht macht, ist, als führender Verband eine Vorreiterrolle einzunehmen, das Problem anzuprangern und massiv gegenzusteuern. ‹

Egal ob Piste, Material oder die bereits ausgereizten körperlichem Möglichkeiten der Athleten – auch der FIS sind die Probleme nicht zuletzt durch eigens in Auftrag gegebene Studien bestens bekannt. Trotzdem gibt es keine entscheidenden Verbesserungen. Tatsächlich hat sich der alpine Skisport in eine Pattsituation manövriert, in der jeder Verband seine Mikro-Partikularinteressen verfolgt. Statt den Sport nachhaltig für die Athleten sicherer zu machen, überwiegen kleingeistige Bedenken. Die einen fürchten um ihre Einkünfte, die anderen um ihre Spitzenpositionen – schließlich kann niemand genau vorhersagen, wer von veränderten Regeln und Material profitieren würde. Ein Punkt, der auch von Trainer Roland Assinger kritisiert wird : › Durch die vielen verschiedenen Interessen der einzelnen Ski­verbände läuft etwas Grundsätzliches falsch, man sollte einige Komponenten im ganzen Ski-Business hinterfragen. ‹ 

Präsident Schröcksnadel tritt 2021 von der Spitze seines Verbandes ab, auf diversen anderen Positionen ist es bereits zur notwendigen Verjüngung gekommen. Noch wird die FIS mit Gian-Franco Kasper von einem weiteren Altfunktionär geleitet, der Anfang 2019 in einem Interview mit dem Schweizer Tages-Anzeiger von einem › sogenannten ‹ Klimawandel fabulierte und auch sonst wenige Faux-Pas und Fettnäpfchen auslässt. Ob sein Nachfolger vermag, die verkrusteten Strukturen aufzubrechen und einen Sinneswandel hin zur verantwortungsvollen Bekämpfung der verheerenden Verletzungsserien herbeizuführen, wird sich erst zeigen. 

Momentan befindet sich Rennfahrerin Ariane Rädler in der Vorbereitung auf ihr bereits viertes Comeback. Sie selbst gibt sich noch zwei Jahre für den Durchbruch im Weltcup. Gelingt er nicht, möchte sie ihre Karriere beenden, dasselbe gilt auch für den Fall einer erneuten schweren Verletzung : › Ich glaube nicht, dass ich die Kraft habe, um noch einmal zurückzukommen. ‹ Wie sehr sie ihre Verletzungen geprägt haben, zeigt sich auch an ihrem Plan B : eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. 

Ob Rädler ihren eigenen Kindern ­­raten würde, den Sport professionell auszuüben, den sie so sehr liebt ? › Nach allem, was ich durchgemacht habe, würde ich sagen, nein, tu dir das nicht an. ‹ •

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