Editorial November 2021
Wach auf, Österreich.
Waren Sie schon mal bei vollem Bewusstsein in einem Aufwachraum? Ich nur ein einziges Mal, aber die Erinnerung daran hat sich mir eingeprägt: Viele Menschen lagen da auf engem Raum, Rollbett an Rollbett, die meisten stöhnten oder wimmerten. Sie spürten ihre Schmerzen schon, waren aber noch nicht in der Lage, deren Ursache zu benennen – geschweige denn, etwas dagegen zu tun.
Es ist also ein durchaus passendes Bild, das Matthias Strolz eine Woche nach dem Rückzug von Sebastian Kurz aus dem Bundeskanzleramt geprägt hat. ›Ich verstehe, dass das ein paar Wochen dauern kann im Aufwachraum‹, kommentierte der ehemalige Neos-Chef in der orf-Sendung ›Im Zentrum‹ Elisabeth Köstingers Versuche, die Vorwürfe gegen ihren Parteichef und dessen engste Mitarbeiter herunterzuspielen.
Die Landwirtschaftsministerin ist nicht alleine im Aufwachraum. Ein ehemaliger Nationalratspräsident tadelt lieber Kraftausdrücke als den Missbrauch von Steuergeld, ein Landeshauptmann schimpft über die Moral von Journalisten statt über deren Fehlen bei Spitzenpolitikern, und der neue Kanzler hat seine Amtszeit mit einem Kotau vor dem alten begonnen. Fast drei Wochen nach der Operation Kurzschluss zeichnet sich noch kein Ende des Aufwachprozesses ab.
Lenkt man den Blick weg von den Personen, hin zu den Inhalten, könnte man gar den Eindruck bekommen, die gesamte Regierung befindet sich in diesem Aufwachraum – und das nicht erst seit Sebastian Kurz’ zweitem Auszug aus dem Kanzleramt, sondern schon seit seinem ersten. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass selbst die nach dem Ibiza-Skandal gefassten Pläne für eine sauberere Politik noch ihrer Umsetzung harren? Auf die Frage von ZiB2-Moderator Martin Thür an Karoline Edtstadler, wann wir mit den schon im Regierungsprogramm versprochenen neuen Gesetzen zu Parteienfinanzierung, Informationsfreiheit und Medientransparenz rechnen dürfen, konnte die Verfassungsministerin nicht einmal ein ungefähres Datum nennen.
Wacht auf, will man den Regierenden zurufen, je länger die Bewusstlosigkeit andauert, desto größer ist das Risiko dauerhafter Schäden! In diesem Sinne hat sich Anneliese Rohrer in dieser Ausgabe von DATUM die vermeintlich anständigere ›schwarze‹ övp vorgeknöpft, Josef Votzi ist der Frage nachgegangen, ob Sigrid Maurer, die Eiserne Lady der Grünen, auch die Rachegelüste ihres neuen Gegenübers im övp-Klub parieren kann. Und Sebastian Loudon erklärt, was passieren müsste, um das alte Übel, das der jüngsten Krise zu Grunde liegt, diesmal wirklich zu beseitigen.
Den Schwerpunkt des Heftes haben wir jedoch einer ganz anderen, aber ebenso relevanten Frage gewidmet: Wie leben Juden und Jüdinnen in Österreich, ein Jahr, nachdem ein dschihadistischer Attentäter mordend durch die Straßen um den Wiener Stadttempel gezogen ist? Wer sind überhaupt die Menschen, die für sie sprechen? Und wie gehen sie mit dem starken Anstieg von antisemitischen Anfeindungen um? Zur Seite stand uns dabei Danielle Spera, die Direktorin des Jüdischen Museums. Wir danken ihr für die Einblicke, die sie uns gewährt hat, und die Ideen, die wir mit ihr entwickeln konnten. •
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!
Ihre Elisalex Henckel